39.
Shirley Meyers starrte auf den Brief. Sie wusste nicht recht, was sie damit anfangen sollte. Sie hatte die Post schon früher am Tag hereingeholt, aber eben erst geöffnet. Jetzt, kurz bevor sie zu Arbeit ging, hatte sie sich ein paar Augenblicke Zeit genommen, den kleinen Stapel durchzugehen.
Auf dem Brief in ihrer Hand fand sich kein Absender. Als sie sich den Poststempel ansah, schüttelte sie verwirrt den Kopf. Sie kannte niemanden in Kentucky. Sie drehte den Umschlag um. Es war weder ein geschäftlicher Brief noch Werbung. Es war bloß ein schlichter weißer Briefumschlag. Und außer Papier war da noch etwas drin.
Shirley öffnete den Brief mit dem kleinen Finger. Im Inneren fand sie ein Blatt Papier und einen kleinen Schlüssel. Nachdem sie sich den Schlüssel genauer angeschaut hatte - im Metall waren ein paar Zahlen eingraviert -, wandte sie sich dem Brief zu. Er war mit Maschine geschrieben und nicht an sie adressiert. Shirley schlug die Hand vor den Mund, als sie sah, für wen der Brief bestimmt war. Sie las die Worte und steckte ihn dann rasch zusammen mit dem Schlüssel zurück in den Umschlag. Einen langen Augenblick stand sie einfach nur da. Solche Dinge dürften Menschen wie ihr eigentlich gar nicht passieren.
Aber sie konnte nicht einfach so hier stehen bleiben. Shirley streifte sich ihren Mantel über und verließ ihr kleines Haus. Mit dem Bus fuhr sie in die Stadt. Sie schaute auf ihre Uhr. Shirley war stolz auf ihre Pünktlichkeit. Sie kam nie zu spät zur Arbeit, doch heute wollte ein Teil von ihr nicht gehen, nicht mit diesem Brief in der Tasche. Sie grummelte weiter vor sich hin, als sie zum Eingang und durch die Sicherheitsschleuse ging. Leuten, die sie kannte, nickte sie freundlich zu.
Schließlich betrat Shirley die Küche, zog ihren Mantel aus und hing ihn auf. Sie wusch sich die Hände und wandte sich ihrem Job als Köchin zu. Immer wieder schaute sie auf die Uhr und beobachtete, wer kam und ging. Sie versuchte, den Leuten nicht in die Augen zu sehen; stattdessen nickte sie nur, wenn jemand sie begrüßte. Shirley wusste nicht, was sie tun sollte. Jeder Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, war schlimmer als der vorherige. Konnte man sie dafür ins Gefängnis stecken? Aber sie hatte doch nichts getan, außer ihre Post zu öffnen. Doch würde man ihr glauben? Dann kam ihr ein weiterer schrecklicher Gedanke. Was, wenn sie glaubten, sie habe den Brief von hier gestohlen? Aber halt ... Das war unmöglich. Auf dem Umschlag stand ihre Adresse, nicht die von hier.
Irgendwann wirkte Shirley dermaßen nervös, dass ihr Chef sie fragte, was los sei. Zuerst versuchte sie, die Wahrheit zu verbergen, schaffte es aber nicht. Sie holte den Brief aus der Tasche und zeigte ihn dem Mann. Er las ihn sich durch, schaute sich den Schlüssel an und blickte Shirley dann scharf an.
»Verdammt«, sagte er.
»Er ist an sie gerichtet«, erklärte Shirley.
»Sämtliche Post, die hier reinkommt, muss zuerst überprüft werden. Das wissen Sie«, tadelte der Mann.
»Aber er ist ja nicht hier reingekommen, oder?«, schoss Shirley zurück. »Er ist in mein Haus gekommen. Es gibt kein Gesetz, das mir verbietet, meine eigene Post zu öffnen.«
»Woher wussten die, dass sie den Brief an Sie schicken müssen?«
»Woher soll ich das wissen? Ich kann doch niemanden davon abhalten, mir einen Brief zu schicken.«
Dem Mann kam ein Gedanke. »Da war doch kein weißes Pulver drin, oder?«
»Glauben Sie, dann wäre ich hier? Ich bin nicht dumm, Steve. Es war nur der Brief. Und dieser Schlüssel.«
»Aber Sie könnten Fingerabdrücke verwischt haben.«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe es doch erst gesehen, als ich ihn geöffnet habe.«
Steve rieb sich das Kinn. »Er ist tatsächlich an sie gerichtet.«
»Der Brief ja, aber nicht der Umschlag. Aber ich kann ihn ihr nicht bringen. Das darf ich nicht. Das wissen Sie doch, oder?«
»Jaja«, erwiderte Steve ungeduldig.
»Was soll ich jetzt tun?«
Steve zögerte; dann schlug er vor: »Die Polizei?«
»Sie haben doch gelesen, was da steht. Wollen Sie, dass sie stirbt?«
»Verdammt! Warum haben Sie mich da reingezogen?«, beschwerte sich Steve und senkte die Stimme, als andere Küchenbedienstete den Raum betraten. Er sah aus, als wäre er am liebsten in den Weinkeller des Weißen Hauses gestürmt und hätte sich dort bedient. Seine Auswahl wäre allerdings begrenzt gewesen. Seit Gerald Ford lagerten dort ausschließlich amerikanische Weine.
»Wir müssen etwas tun«, zischte Shirley. »Wenn jemand herausfindet, dass ich den Brief bekommen und dann nichts unternommen habe ... Ich will ihr Blut nicht an meinen Händen haben. Niemals! Und jetzt wissen Sie es auch. Sie müssen etwas tun.«
»Beruhigen Sie sich erst mal, Shirley.« Steve dachte kurz nach. »Okay, ich muss erst mal einen Anruf machen.« Er drückte ihr den Brief in die Hand.
Fünf Minuten später betrat eine Frau in schwarzem Anzug die Küche und bat Shirley, ihr zu folgen. Sie gingen in einen Teil des großen Hauses, den Shirley noch nie gesehen hatte. Sie schaute sich die vielen Leute an, die umhergingen, und musterte die Männer und Frauen, die mit stoischer Ruhe vor den Türen standen. Shirleys Mund war ausgetrocknet. Das waren die Leute, die man ständig im Fernsehen sah. Wichtige Leute. Shirley wäre am liebsten in die Küche zurückgerannt und hätte weiter an ihrer Obst- und Käseplatte gearbeitet.
Als sie das Büro der Frau erreichten, drehte diese sich plötzlich zu Shirley um und sagte streng: »Das ist ausgesprochen irregulär.«
»Ich wusste nicht, was ich tun sollte«, erwiderte Shirley nervös. »Hat Steve Ihnen das denn nicht gesagt?«
»Jajaja. Wo ist der Brief?«
Shirley zog den Umschlag aus ihrer Tasche und gab ihn der Frau. »Lesen Sie selbst, Ma'am. Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
Die Frau legte den Schlüssel auf ihren Schreibtisch, faltete den Brief auseinander und las ihn durch. Ihre Augen wurden mit jeder Zeile größer. Als sie fertig war, steckte sie Brief und Schlüssel zurück in den Umschlag. »Ich möchte, dass Sie wieder an die Arbeit gehen und vergessen, dass Sie das hier je gesehen haben.«
»Jawohl, Ma'am«, sagte Shirley. »Werden Sie ihr den Brief geben?«
Die Frau hatte bereits den Telefonhörer abgenommen. »Das braucht Sie nicht zu kümmern.«
Nachdem Shirley den Raum verlassen hatte, tippte die Frau eine Nummer ein und sprach schnell. Wenige Minuten später kam ein Mann, der noch strenger aussah als sie, und nahm den Umschlag in Empfang.
Der Mann eilte eine Treppe hinauf, durchquerte ein großes Foyer, lief einen Flur entlang und erreichte schließlich eine Tür, an die er leise anklopfte. Eine Frau öffnete, nahm den Brief und schloss die Tür wieder, ohne ein Wort mit dem Mann gewechselt zu haben.
Eine Minute später wurde der Brief auf den Schreibtisch der Frau gelegt, und die Tür wurde geschlossen. Die Frau war allein. Sie starrte auf den blütenweißen Umschlag.
Dann nahm Jane Cox den Brief heraus und las ihn. Der Schreiber formulierte kurz und prägnant. Wenn Jane Willa Dutton lebend und gesund zurückhaben wollte, dürfe sie den nächsten Brief, der kam, niemandem zeigen. Sollte die Polizei ihn in die Finger bekommen, würde er, der Schreiber, dies erfahren. Und sollte die Öffentlichkeit erfahren, was in dem Brief stand, würde dies alles zerstören. Und Willa Dutton würde es das Leben kosten.
Besonders einen Absatz las Jane sich mehrere Male durch. Da stand: Ich will das Mädchen nicht töten, werde es aber tun, sollte es notwendig sein. Der nächste Brief, den Sie erhalten, wird viel enthüllen. In mancher Hinsicht wird er sogar alles enthüllen. Sollte die Öffentlichkeit das herausfinden, wird für Sie alles verloren sein. Sie wissen, wovon ich spreche. Halten Sie sich an die Anweisungen, kehrt Willa wohlbehalten zu Ihnen zurück. Anderenfalls stirbt sie. Anders geht es nicht.
Der Schreiber informierte Jane darüber, dass dieser nächste Brief an ein Postfach in D. C. geschickt werden würde; die Nummer sei beigelegt. Dafür sei auch der Schlüssel.
Jane lehnte sich zurück. Schreckliche Angst breitete sich in ihr aus und lähmte sie beinahe. Sie griff nach ihrem Telefon, legte es dann aber wieder hin.
Nein, sie würde nicht anrufen. Noch nicht.
Sie schloss den Brief in ihrem Schreibtisch ein und steckte den Schlüssel in die Tasche.
Jane hatte in zehn Minuten einen Empfang für weibliche Gouverneure und andere Frauen in der Politik, die sich in der Hauptstadt zu einem Parteitreffen zusammengefunden hatten, um die Gesundheitsreform zu diskutieren. Jane würde ein paar Begrüßungsworte sprechen, die bereits sorgfältig ausformuliert am Rednerpult im East Room auf sie warteten. Sie hatte so etwas schon hundert Mal gemacht, und fast immer fehlerfrei. Normalerweise empfing das Weiße Haus jede Woche Tausende solcher Besucher; deshalb hatte sie sehr viel Übung darin.
Nun aber wusste Jane, dass sie ihre ganze Kraft brauchen würde, um zum Pult zu gehen, die Mappe aufzuschlagen und die Worte vorzulesen, die irgendjemand für sie geschrieben hatte.
Doch als Jane fünf Minuten später den Gang hinunterschritt, von ihrem Stab und den Sicherheitsleuten begleitet, war sie in Gedanken nicht bei der Gesundheitsreform, aber auch nicht bei dem Brief. Sie hatte ihren Bruder gnadenlos unter Druck gesetzt, sodass er ihr endlich verraten hatte, was Sean ihn am Telefon gefragt hatte.
War Willa das adoptierte Kind?
Jane geriet bei dem Gedanken leicht ins Stolpern. Sofort packte ein Agent des Secret Service ihren Arm.
»Alles in Ordnung, Ma'am?«
»Ja. Danke.«
Jane ging weiter, jetzt wieder ganz im First-Lady-Modus.
Doch ein schrecklicher Gedanke drang durch ihre ansonsten so eisenharte Rüstung, als wäre sie aus Papier.
Holt uns die Vergangenheit jetzt doch noch ein?