16.
Sam Quarry fuhr zu einer örtlichen UPS-Annahmestelle und gab das Paket mit den beschrifteten Blutampullen auf. Sie gingen an ein Labor in Chicago, das Quarry bei einer Google-Suche in der Stadtbücherei gefunden hatte.
Nachdem er hundert Meilen nach Osten gefahren war, überquerte er die Grenze nach Georgia. Quarry fuhr vom Highway und auf den Parkplatz einer Raststätte. Er hatte sechs Päckchen dabei, doch nur eines war von Bedeutung. Er parkte und ging zum Briefkasten. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es keine Überwachungskameras gab, warf er sämtliche Päckchen in den Briefkasten. Das Päckchen, das zählte, ging an eine Adresse in Maryland. Darin befanden sich die Schüssel und der Löffel, die Willa benutzt hatte; dazu der Brief, den Quarry früher am Abend geschrieben hatte. Quarry hatte keine Ahnung, ob die Behörden feststellen konnten, wo genau ein Päckchen aufgegeben worden war, aber er musste davon ausgehen, dass sie in der Lage dazu waren. Deshalb die anderen fünf Päckchen: Sie dienten zur Tarnung, damit sich später niemand erinnerte, dass hier jemand nur ein Päckchen eingeworfen hatte. Auf diese Weise war Quarry nur einer von vielen Truckern, die hier ihre Post aufgaben.
Quarry fuhr nach Alabama zurück. Nur einmal hielt er kurz an, um etwas zu essen. Als er zur Atlee-Plantage zurückkehrte, brannte Licht in Gabriels Zimmer.
Quarry klopfte an die Tür. »Gabriel?«
Der kleine Junge öffnete. »Ja, Mr. Sam?«
»Warum bist du so spät noch auf?«
»Ich lese.«
»Und was?«
»Das hier.« Gabriel hielt ein Buch in die Höhe.
Quarry nahm es und schaute auf den Titel: Das Absolut Wahre Tagebuch eines Teilzeit-Indianers.
»Es ist toll«, sagte Gabriel. »Manchmal muss man lachen und manchmal weinen. Und es hat Erwachsenensprache, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Aber du bist doch gar kein Indianer.«
»Darum geht's ja auch gar nicht, Mr. Sam. Da steht für jeden was drin. Die Lady in der Bücherei hat mir davon erzählt. Eines Tages will ich auch ein Buch schreiben.«
»Nun, der Herr weiß, dass du genug Worte dafür im Kopf hast, denn sie kommen manchmal schneller raus, als ich zuhören kann.« Quarry gab dem Jungen das Buch zurück. »Ist deine Ma schon wieder hier?«
»Sie ist vor einer Stunde gekommen. Wir haben uns schon gefragt, wo Sie sind.«
»Ich musste ein paar Dinge erledigen.« Quarry lehnte sich an den Türrahmen und steckte sich eine Zigarette an. »Hast du Kurt in letzter Zeit gesehen?«
»Nein, Sir.«
Quarry musterte Gabriel unter seinen dichten Augenbrauen. »Ich glaube, er ist weitergezogen.«
Gabriel war überrascht. »Warum? Wo will er denn hin?«
Quarry klopfte die Asche am Türrahmen ab. »Jeder muss irgendwann irgendwohin. Manche Menschen brauchen einfach nur länger, um herauszufinden, wohin genau.«
»Da haben Sie wahrscheinlich recht.«
»Sollte jemand fragen, werde ich es ihm wohl sagen. Trotzdem Mist. Er war wie ein Sohn für mich. Dass du mir ja nicht einfach so abhaust, ohne mir vorher Bescheid zu sagen, okay?«
Allein der Gedanke schien Gabriel zu entsetzen. »Sollte ich jemals weggehen, Mr. Sam, werden Sie es als Erster erfahren, gleich nach meiner Ma.«
»Braver Junge. Lies weiter, Gabriel. Man muss immer vorbereitet sein. Die Welt wird dir eine Chance geben, aber beim Schopf packen musst du sie schon selbst. Setzt du es in den Sand, dann war's das.«
»Das haben Sie mir schon oft gesagt.«
»Guter Rat ist es wert, wiederholt zu werden.«
Quarry ging in sein Zimmer im oberen Stock. Es hatte einst seinen Eltern gehört. Ordnung war nie eine von Quarrys Stärken gewesen, aber Ruth Ann und Gabriel taten ihr Bestes, um dieses Manko wettzumachen.
Quarrys Frau, Cameron, war seit mehr als drei Jahren tot. Es war der größte Verlust gewesen, den er je erlitten hatte, und Quarry hatte schon viel verloren. Nach Camerons Tod hatte er nicht mehr in ihrem gemeinsamen Bett geschlafen. Stattdessen hatte er die Nächte auf einer langen, verschlissenen, hundert Jahre alten Couch an der Schlafzimmerwand verbracht. Im Bad verwahrte er noch heute viele Sachen seiner Frau, und Ruth Ann staubte sie pflichtbewusst ab, obwohl sie nie mehr getragen werden würden.
Quarry hätte die Atlee-Plantage schon vor langer Zeit verkaufen können, und vermutlich hätte er es tun sollen, aber letztlich kam es für ihn nicht in Frage. Cameron hatte diesen Ort geliebt, und sich von ihm zu trennen würde bedeuten, auch sie für immer hinter sich zu lassen. Das konnte Quarry einfach nicht, ebenso wenig, wie er seinen eigenen Sohn töten konnte. Allerdings machte es ihm Angst, wie nahe daran er gewesen war. Das war der Familienwahnsinn der Quarrys. Tag für Tag, Jahr für Jahr war er stärker geworden und hatte sich wie ein Tumor in Quarrys Hirn ausgebreitet.
Quarry setzte sich auf die Couch und griff nach der Ginflasche. Doch bevor er einen Schluck trank, entschied er sich anders, stellte die Flasche wieder weg, stand auf und schnappte sich die Autoschlüssel vom Tisch.
Zwei Minuten später war er wieder auf der Straße und starrte zum Himmel hinauf, der so voller Sterne war, dass man fast hätte glauben können, es sei Tag. Quarry kurbelte das Fenster herunter, schaltete das Radio ein und trank den Gin. Die Hitze der Nacht schlug ihm ins Gesicht. Quarry hasste Klimaanlagen. Die Atlee-Plantage hatte nie eine gehabt, ebenso wenig wie jedes Auto, das er je besessen hatte. Ein Mann musste schwitzen. Vor dem Schweiß davonzulaufen war so, als würde man vor dem wegrennen, was einen zu einem Menschen machte.
Quarrys alter Truck fuhr zwanzig Meilen über Staub und Schotter und schließlich auf Asphalt, der noch immer heiß von der Sonne war.
Und dann war er da. Er war schon tausend Mal hier gewesen, und jeder Besuch war gleich und doch anders.
Quarry kannte jeden mit Vornamen. Die Besuchszeit war längst vorbei, aber das kümmerte ihn nicht. Er war Sam Quarry, den jeder kannte, denn jeder kannte Tippi Quarry. Sie hatten sie nach der Schauspielerin benannt. Cameron Quarry hatte den Film mit den vielen durchgeknallten Vögeln geliebt. Suzie, ihre jüngste Tochter, war die Frau, die den Schwarzen geheiratet hatte, um sich dann wieder von ihm scheiden zu lassen. Sie lebte jetzt in Kalifornien und tat Gott weiß was. Ihr Vater wusste es nicht genau. Allerdings war er sicher, dass er es missbilligen würde, hätte er es gewusst. Daryl war schon immer sein Baby gewesen.
Nur dass mein verdammtes Baby gerade eine dreifache Mutter umgebracht hat.
Doch keiner von ihnen war wie Tippi geendet. Tippi war vergangenen Monat sechsunddreißig geworden. Sie war schon seit dreizehn Jahren, acht Monaten und siebzehn Tagen hier. Quarry wusste das so genau, weil er im Kopf eine Strichliste führte, als zähle er seine letzten Tage auf Erden, und in gewisser Weise war es auch so. Seit Tippi hier war, hatte sie kein einziges Mal den Fuß aus diesem Gebäude gesetzt, und sie würde es auch nie tun.
Quarrys lange Beine trugen ihn zum Zimmer seiner Ältesten. Er öffnete die Tür so, wie er es schon unzählige Male getan hatte. Im Zimmer war es dunkel. Quarry schlich zu dem Stuhl, auf dem er schon so oft gesessen hatte, dass die Farbe abgescheuert war. Der Schlauch steckte in ihrem Hals. Bei langfristiger Behandlung taten die Ärzte das immer, weil es sauberer war. Die daran angeschlossene Pumpe arbeitete fleißig und blähte Tippis Lunge. Die Überwachungsgeräte piepten. Ein Sauerstoffschlauch führte von der Wand bis zur Nase seiner Tochter, und mittels computergesteuerter Infusion wurde sie mit Medikamenten und Nahrung versorgt.
Es gab da ein kleines Ritual, das Quarry stets befolgte. Er strich Tippis Haar vom Kissen auf ihre Schulter. Wie oft hatte er sich dieses Haar um den Finger gewickelt, als Tippi noch ein kleines Mädchen gewesen war? Dann berührte er ihre Stirn, die sie jedes Mal gefurcht hatte, wenn er sie als Kind in die Badewanne gesteckt hatte. Schließlich küsste er sie auf die Wange. Als Kind waren die Haut und die Knochen darunter angenehm zu berühren gewesen. Nun war die Haut verwelkt und hart, wie bei einer alten Frau.
Nachdem er das Ritual beendet hatte, nahm Quarry Tippis Hand, lehnte sich zurück und sprach zu ihr. Dabei schweiften seine Gedanken zu den Phrasen zurück, mit denen die Ärzte ihn und Cameron über den Zustand ihrer Tochter informiert hatten.
Massiver Blutverlust.
Sauerstoffmangel im Hirn.
Koma.
Und schließlich: irreversibel.
Das waren Worte, die keine Eltern je über ihre Kinder hören wollten. Tippi war nicht tot, aber sie war so nahe daran, wie es biologisch möglich war. Sie atmete nur noch dank einer Maschine und teurer Medikamente. Quarry holte ein Buch aus seiner Tasche und begann, Tippi im Licht der kleinen Nachttischlampe vorzulesen.
Bei dem Buch handelte es sich um Stolz und Vorurteil, Jane Austens berühmten Roman. Es war Tippis Lieblingsbuch, seit sie es als Teenager zum ersten Mal gelesen hatte. Ihre Begeisterung hatte Quarry dazu bewegt, das Buch ebenfalls zu lesen, sogar mehrmals. Bevor Tippi hier gelandet war, hatte Quarry sie immer als reales Gegenstück zu Jane Austens Elizabeth Bennet betrachtet. Elizabeth war die intelligente, lebhafte und entschlussfreudige Protagonistin des Romans. Doch nachdem Tippi an diesen Ort gekommen war, hatte Quarry seine Einschätzung überdacht und war zu dem Schluss gekommen, dass Tippi mehr der ältesten Tochter ähnelte, Jane Bennet. Süß, aber schüchtern, sensibel, aber nicht so klug wie Elizabeth. Ihre auffallendste Eigenschaft war, stets das Gute im Menschen zu sehen. Im Roman hatte Jane dadurch ihr Glück gefunden; im echten Leben hatte es für Tippi jedoch zu einer Katastrophe geführt.
Eine Stunde später stand Quarry wieder auf und sagte, was er immer sagte: »Schlaf gut, Liebling. Daddy kommt bald wieder. Ich liebe dich, Baby.«
Quarry fuhr zur Atlee-Plantage zurück. Als er sich mit seinem Gin auf die Couch legte, sah er noch einmal das Bild der jungen Tippi vor seinem geistigen Auge, wie sie ihren Daddy fröhlich anlächelte.