46.
Zum zweiten Mal in zwei Tagen hörten Sean und Michelle einen Prediger über die geliebten Verstorbenen reden. Es war ein verregneter, stürmischer Nachmittag, und schwarze Schirme schützten die Trauergäste vor den Elementen, als Pam Dutton fünf Meilen von ihrem Sterbeort entfernt zur Ruhe gebettet wurde. Die Kinder standen mit ihrem Vater in der ersten Reihe unter einem Baldachin. Tucks Kopf war verbunden; er sah aus, als hätte er ein paar Cocktails zu viel gehabt und sich auch noch eine Hand voll Pillen eingeworfen. Seine Schwester, die First Lady, saß neben ihm und hatte ihm schützend den Arm um die Schultern gelegt. Colleen Dutton hockte auf Janes Schoß. John drückte sich an seinen Vater. Neben Jane saß ihr Mann. Ganz in Schwarz gekleidet, schaute er mit präsidialem Ernst drein.
Eine Wand aus Secret-Service-Beamten umringte die Grabstelle. Die umliegenden Straßen waren geräumt und abgeriegelt worden, und jeden Kanaldeckel, über den die Präsidentenkolonne gefahren war, hatte man zugeschweißt. Der Friedhof war für alle geschlossen, abgesehen von der trauernden Familie und den eingeladenen Gästen. Ein ganzes Heer von Journalisten und Fernsehteams wartete vor den Toren in der Hoffnung, einen Blick auf den Präsidenten und die trauernde First Lady zu erhaschen, wenn diese den Friedhof verließen.
Michelle stieß Sean mit dem Ellbogen an und nickte nach links. Agent Waters vom FBI war ebenfalls hier; sein Blick war fest auf Sean und Michelle gerichtet.
»Er sieht nicht allzu glücklich aus«, bemerkte Michelle.
»Ich wette, er war in seinem ganzen Leben noch nicht glücklich«, erwiderte Sean.
Sie hatten am frühen Morgen einen Flug aus Tennessee genommen. Während des Fluges hatten sie darüber gesprochen, was am Abend zuvor geschehen war.
Als sie zu Frank Maxwells Haus zurückgekehrt waren, war der Mann selbst noch nicht wieder da. Michelle hatte versucht, ihn auf dem Handy anzurufen, aber niemand hatte sich gemeldet. Sie wollten gerade die Cops rufen, als er durch die Garagentür kam.
»Dad?«
Er drängte sich an Michelle vorbei, ging in sein Schlafzimmer und schloss die Tür. Als Michelle versuchte, ihm zu folgen, hatte er bereits hinter sich abgeschlossen.
»Dad!«, rief sie durch die Tür. »Dad!« Sie hämmerte auf das Holz, bis eine Hand sie packte. Es war Sean.
»Lass ihn erst einmal in Ruhe.«
»Aber ...«
»Hier geht irgendetwas vor, das wir nicht verstehen. Wir sollten ihn jetzt nicht drängen.«
Sean schlief auf der Couch, Michelle in einem der freien Schlafzimmer. Ihre Brüder logierten bei Bobby, nicht weit entfernt.
Als sie am nächsten Morgen aufwachten, um rechtzeitig zum Flughafen zu kommen, war Frank Maxwell bereits verschwunden. Diesmal versuchte Michelle es erst gar nicht auf seinem Handy.
»Er geht sowieso nicht dran«, sagte sie bei einer Tasse Kaffee am Flughafen.
»Was hat er in dem alten Haus getan?«, fragte Sean.
»Vielleicht war er aus dem gleichen Grund da wie ich.«
»Und was bedeutet das?«
»Dass ich es nicht genau weiß«, antwortete Michelle kläglich.
»Möchtest du lieber hierbleiben? Ich kann auch alleine zur Beerdigung.«
»Nein, ich glaube nicht, dass ich hier im Augenblick noch irgendwas erreichen kann. Und eine weitere Beerdigung kann nicht annähernd so deprimierend sein wie hierzubleiben und zuzuschauen, wie meine Familie weiter auseinanderfällt.«
Nun war die Bestattung von Pam Dutton vorbei, und die Trauergäste gingen auseinander. Sean fiel allerdings auf, dass viele von ihnen darauf bedacht waren, dem Präsidenten die Hand zu schütteln, und man musste ihm zugutehalten, dass er ihnen entgegenkam, so gut es ging.
»Er kann es sich ja auch nicht leisten, potenzielle Wähler zu verärgern«, bemerkte Michelle spitz.
Jane verließ den Friedhof mit ihrem Bruder und den Kindern. Mehrere Agenten flankierten sie, aber die meisten blieben beim Präsidenten. Als Sean diese Szene beobachtete, erinnerte er sich wieder einmal daran, dass dieses eine Leben mehr wert war als alle anderen. Auch die First Lady war ein wichtiger Schützling in der Welt des Secret Service, aber nichts im Vergleich zum Präsidenten. Sollte ein Agent je in die Situation kommen, zwischen beiden wählen zu müssen, wäre die Entscheidung leicht.
Michelle hatte offenbar Seans Gedanken gelesen, denn sie fragte: »Hast du dich je gefragt, was du getan hättest?«
Sean drehte sich zu ihr um. »Was meinst du damit?«
»Wenn du die Entscheidung treffen müsstest, wen von beiden du rettest?«
»Wenn es eine Regel gibt, die der Service einem einhämmert, dann die: Der Präsident ist der Einzige, dessen Leben mit allen Mitteln bewahrt werden muss.«
»Aber nehmen wir mal an, er hätte ein Verbrechen begangen. Und was ist, wenn er durchdreht und die First Lady angreift? Wenn er kurz davor steht, sie umzubringen? Was würdest du tun? Würdest du ihn ausschalten, oder würdest du seine Frau sterben lassen?«
»Warum führen wir eigentlich so ein Gespräch? Ist es nicht deprimierend genug, dass wir auf einer Beerdigung sind?«
»Ich habe mich nur gefragt.«
»Gut, dann frag dich. Ich halte mich da raus.«
»Es ist doch nur hypothetisch.«
»Mir fällt es schon schwer genug, mit der Realität fertig zu werden.«
»Werden wir die First Lady besuchen gehen?«
»Nach unserem letzten Telefonat bin ich da nicht so sicher. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob wir auf derselben Seite stehen.«
»Was meinst du damit?«
Sean stieß einen lauten Seufzer aus. »Schon gut, schon gut.« Er schaute zu dem Mann, der auf sie zukam. »Na, der Tag wird ja immer besser.« Michelle drehte sich um und sah Agent Waters.
»Ich dachte, ich hätte Sie beide gebeten, die Stadt nicht zu verlassen«, sagte er mit scharfem Unterton.
»Haben Sie nicht. Sie sagten nur, wir sollen Ihnen für weitere Fragen zur Verfügung stehen«, erwiderte Michelle. »Und hier sind wir und stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
»Wo waren Sie?«, wollte Waters wissen.
»In Tennessee.«
»Was ist denn in Tennessee?«, hakte er wütend nach. »Eine Spur, von der Sie uns nichts erzählt haben?«
»Nein. Wir waren noch auf einer anderen Beerdigung.«
»Wessen?«
»Auf der meiner Mutter«, sagte Michelle.
Waters musterte sie aufmerksam. Vielleicht glaubte er, Michelle wollte ihn nur provozieren. Schließlich aber schien er zufrieden zu sein. »Tut mir leid«, sagte er. »Kam es unerwartet?«
»Mord kommt in den meisten Fällen unerwartet«, antwortete Michelle und ging weiter in Richtung der geparkten Autos.
Waters blickte Sean an. »Meint sie das ernst?«
»Ich fürchte ja.«
»Verdammt.«
»Und?«, fragte Sean. »Brauchen Sie uns für irgendwas?«
»Nein. Nicht im Moment.«
»Gut. Bis dann.«
Sean holte Michelle ein. Sie wollten gerade in ihren SUV steigen, als sie hinter sich jemanden hörten, der offensichtlich außer Atem war.
»Was ist los, Tuck?«, fragte Sean und packte ihn am Arm. »Komm schon, Mann. Du bist gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen. Da solltest du nicht durch die Gegend sprinten.«
Tuck sog die Luft ein, stützte sich am Wagen ab und nickte in Richtung der Präsidentenlimousine, in die gerade Jane Cox und ihr Mann einstiegen, umringt vom Secret Service.
»Der Kerl, den ich ... mit Pam gesehen habe ...«, keuchte Tuck.
»Was ist mit ihm?«, fragte Michelle.
»Er ist hier.«
»Wo?« Sean schaute sich um.
»Da drüben.«
Tuck deutete zur Limousine.
»Welcher ist es?«
»Der große Kerl gleich neben dem Präsidenten.«
Sean schaute zu dem Mann, dann zu Tuck und schließlich zu Michelle.
»Aaron Betack?«, sagte Sean, und der Regen nahm an Stärke zu.