11.

Sie verließen die Kirche. Die Limousine hatte nicht auf sie gewartet.

Offenbar haben wir nicht für eine Rundfahrt bezahlt«, spöttelte Michelle.

Sie hatten sich gerade auf den Weg durch den Lafayette Park gemacht, als Sean sagte: »Festhalten. Da kommen sie.«

Die beiden Männer hielten entschlossen auf sie zu. Einer war der Magenkranke vom FBI. Auch den anderen kannten Sean und Michelle. Er gehörte zum Secret Service - ein hochrangiger Agent mit Namen Aaron Betack. Er hatte rasch Karriere gemacht und war von den Schützengräben ins Zentrum der Macht aufgestiegen. Sean fiel auf, dass Betack einen ungewöhnlich beschwingten Schritt hatte.

Die beiden Männer versperrten Sean und Michelle den Weg.

Sean spielte den Überraschten. »Na, so was. Geht ihr auch ein bisschen spazieren?«

Der Magenkranke sagte: »Wir wissen, wo Sie gewesen sind und mit wem Sie gerade gesprochen haben. Wir sind hier, um dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, sind zwei Cowboys ...« Er hielt inne und schaute Michelle lüstern an. »Entschuldigen Sie ... einen Cowboy und ein Cowgirl, die ständig Mist bauen.«

»Bitte helfen Sie mir auf die Sprünge«, sagte Sean in süßlichem Tonfall. »Ich glaube, beim letzten Mal habe ich Ihren Namen nicht richtig verstanden.«

»FBI Special Agent Chuck Waters.«

»Das ist gut zu wissen«, warf Michelle ein. »Bis jetzt habe ich Sie immer nur ›Lahmarsch‹ genannt.«

»Maxwell!«, stieß Betack hervor. »Ein bisschen mehr Respekt, verdammt!«

»Wenn Sie mir etwas zeigen, was ich respektieren kann«, gab Michelle zurück.

Waters trat einen Schritt auf sie zu und wedelte mit dem Finger direkt vor ihrer Nase. »Sie sollten sich lieber bedeckt halten, kleine Lady.«

Da Michelle fast einen Kopf größer war als Waters, sagte sie: »Wenn ich eine kleine Lady bin, müssen Sie ein Zwerg sein.«

»Und nur damit Sie es wissen, Chuck«, meldete Sean sich wieder zu Wort. »Diese kleine Lady hier kann Ihnen beiden in den Hintern treten, ohne dabei ins Schwitzen zu geraten. Deshalb schlage ich vor, Sie halten sich zurück.«

Betack, der so groß war wie Sean mit seinen eins neunzig - nur dass er noch breitere Schultern hatte -, räusperte sich, warf seinem FBI-Kollegen einen warnenden Blick zu und schüttelte den Kopf. Waters lief knallrot an, machte aber einen Schritt zurück.

Betack sagte: »Sean, du und Maxwell, ihr werdet nicht in diesem Fall ermitteln. Fertig, aus.«

»Als ich das letzte Mal auf meine Gehaltsabrechnung geschaut habe, stand da nichts davon, dass ich für den Staat arbeite.«

»Wie auch immer ...«

»Es gibt kein ›wie auch immer‹. Wir haben uns mit einer potenziellen Klientin getroffen und uns bereit erklärt, besagte Klientin zu vertreten. Wir sind hier in Amerika, Kumpel. So was ist hier erlaubt. Und jetzt entschuldigt uns bitte. Wir haben da einen Fall, um den wir uns kümmern müssen.«

»Das werden Sie bereuen, King!«, zischte Waters.

»Ich habe in meinem Leben schon viele Dinge bereut«, erwiderte Sean, »und doch bin ich noch hier.«

Er schob sich an den beiden Agenten vorbei. Michelle folgte ihm. Dabei versetzte sie Waters einen kräftigen Stoß mit dem Ellbogen.

Als sie Michelles SUV erreichten, sagte sie: »Ich bin stolz auf dich.«

»Musst du nicht. Wir haben uns gerade zwei der mächtigsten Organisationen der Welt zu Feinden gemacht.«

»Wennschon - dennschon.«

»Ich meine es ernst, Michelle.«

Sie legte den Gang ein. »Das heißt jetzt also, dass wir schnell Ergebnisse liefern müssen.«

»Glaubst du ernsthaft, dass dafür auch nur die geringste Chance besteht?«

»Wir haben auch früher schon harte Nüsse geknackt.«

»Ja, aber das hat immer ganz schön gedauert.«

»Jetzt lass mir doch ein bisschen Optimismus. Wo sollen wir zuerst hin? Zu Tuck?«

»Nein, zu den Kindern.« Sie fuhren los.

»Und?«, fragte Michelle nach einer Weile. »Was hältst du von Jane Cox' Geschichte?«

»Sie schien mir ziemlich direkt zu sein.«

»Ja?«

»Findest du nicht?«

»Du hast mir nie erzählt, wie gut du die Frau kennst.«

»Ach, weißt du ... Wer kennt jemanden schon richtig?«

»Lass den Mist. Ich will wissen, wie gut du sie kennst.«

»Warum ist das so wichtig für dich?«

»Ich will wissen, ob deine Beziehung zu ihr dein Urteilsvermögen trüben könnte.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ach, komm schon ... Ihr habt euch zwar gesiezt, aber ich habe gesehen, wie sie die Hand auf deine gelegt hat. Hattet ihr eine Affäre?«

»Glaubst du wirklich, ich wäre mit der Frau des Präsidenten in die Kiste gesprungen? Jetzt mach aber mal halblang.«

»Vielleicht war sie damals ja noch nicht die First Lady«, erwiderte Michelle ruhig. »Aber ich weiß das ja nicht, weil du mir ja nichts sagst, Partner. Das hier ist offenbar eine Einbahnstraße. Ich habe dir meine Seele entblößt, da erwarte ich ein wenig Gegenleistung.«

»Okay, okay.« Sean schwieg und schaute aus dem Fenster.

»Okay was?«

»Ich hatte keine Affäre mit Jane Cox.«

»Wolltest du?«

Sean blickte sie grimmig an. »Was kümmert dich das?«

Michelle lief rot an. »Ich ... Mir ist es egal, auf wen du scharf bist. Das geht nur dich etwas an.«

»Schön zu wissen, denn ich bin vor allem scharf auf ein bisschen Privatsphäre.«

Verlegenes Schweigen breitete sich aus.

Michelle suchte nach einer neuen Möglichkeit, mit Fragen ans Ziel zu gelangen, und fand sie auch. »Aber du warst doch längst aus dem Secret Service ausgetreten, als ihr Mann sich für das Präsidentenamt beworben hat.«

»Davor war er Senator.«

»Was hat das mit dem Secret Service zu tun? Oder hatte es gar nichts damit zu tun?«

»Doch ... und auch wieder nicht.«

»Toll. Danke, dass du das klargestellt hast.«

Sean schwieg.

»Komm schon, Sean!« Frustriert schlug Michelle aufs Lenkrad.

»Das reicht jetzt, Michelle.«

»Ja, ja. Ich bin ein Plappermaul!«

»Ich habe nie jemandem davon erzählt.«

Michelle schaute zu Sean. Er blickte düster vor sich hin. »Okay.«

Sean lehnte sich zurück. »Vor ein paar Jahren, in Georgia, habe ich mal für das Vorauskommando des Präsidenten gearbeitet. Eines Tages war ich mit einem anderen Agenten zum Essen. Er musste dann wieder zurück, um seine Schicht anzutreten, und ich hatte den Abend frei. Ich habe mir den Ort angeschaut und nach möglichen Problemstellen entlang der Strecke gesucht, die der Konvoi des Präsidenten nehmen würde. Ich war gut eine Stunde unterwegs. Es war so gegen halb zwölf. Da habe ich ihn dann gesehen.«

»Wen?«

»Dan Cox.«

»Den Präsidenten?«

»Damals war er noch nicht Präsident. Er war gerade erst in den Senat gewählt worden.«

»Du hast ihn also gesehen. Und weiter?«

»Er saß in einer Seitenstraße in seinem Wagen, sturzbetrunken, und irgendeine Tussi hat's ihm besorgt.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Glaubst du, ich hätte das erfunden?«

»Was ist dann passiert?«

»Ich habe ihn erkannt. Er war bei der Vorbesprechung mit den Würdenträgern der Stadt.«

»Weshalb hat er sich dann in einer Gasse von einer Frau verwöhnen lassen, die nicht seine Angetraute war?«

»Damals wusste ich nicht, dass es nicht seine Frau war. Trotzdem war die Situation ziemlich heikel. Cox gehörte derselben Partei an wie der Präsident, und ich wollte keinen unnötigen Wirbel verursachen. Also habe ich vorsichtig an die Wagenscheibe geklopft. Die Frau ist so schnell von ihm runter, dass ich Angst hatte, sie würde das Autodach durchschlagen. Und Cox war so voll, dass er keine Ahnung hatte, was los war.«

»Was hast du dann getan?«

»Ich habe der Lady gesagt, sie soll aussteigen.«

»War sie eine Nutte?«

»Ich glaube nicht. Sie war jung, aber nicht so gekleidet, wie man es von einer Nutte erwarten würde. Ich weiß noch, dass sie beinahe aus dem Auto gefallen wäre, als sie versucht hat, ihren Slip anzuziehen. Ich habe sie gebeten, sich auszuweisen.«

»Warum?«

»Nur für den Fall, dass mir später jemand in den Hintern tritt. Ich wollte die Frau jederzeit finden können.«

»Und sie hat dir einfach so ihren Ausweis gegeben?«

»Den Führerschein. Sie wollte natürlich nicht, aber ich habe geblufft und ihr gesagt, wenn sie sich weigert, rufe ich die Polizei. Also hat sie mir den Führerschein gegeben, und ich habe mir Name und Adresse aufgeschrieben. Sie wohnte in der Stadt.«

»Was ist dann passiert?«

»Sie ist einfach losmarschiert, ehe ich ihr ein Taxi rufen konnte. Ich wollte ihr hinterher, aber da hat Cox Laute von sich gegeben. Ich bin zum Wagen zurück, hab ihm die Hose zugemacht, ihn auf den Beifahrersitz verfrachtet, die Adresse von seinem Führerschein notiert und ihn nach Haus gefahren.«

»Und dann hast du Jane Cox kennengelernt?«

»Stimmt.«

»Hast du ihr alles erzählt?«

Sean wollte antworten, hielt dann aber inne.

»Diskretion ist der bessere Teil der Tapferkeit, ja?«

»So was in der Art«, erwiderte Sean. »Ich habe ihr nur gesagt, dass ich ihn im Wagen gefunden hätte und dass er ein bisschen ›unpässlich‹ gewesen sei. Allerdings konnte man das Parfüm an ihm riechen, und er hatte Lippenstift auf dem Hemd. Ich habe ihn ins Haus und nach oben ins Schlafzimmer geschleppt. Das alles war ziemlich peinlich. Zum Glück haben die Kinder schon geschlafen. Bei meiner Ankunft habe ich Jane meinen Dienstausweis gezeigt. Sie war mir sehr dankbar und hat gesagt, sie würde mir nie vergessen, was ich für sie getan hätte ... und für ihn. Dann brach sie in Tränen aus. Ich nehme an, es war nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist. Ich habe sie in die Arme genommen und versucht, sie zu beruhigen.«

»Du hast sie in die Arme genommen?«

»Ja, ich hab sie an mich gedrückt. Was hätte ich denn tun sollen, verdammt? Ich habe versucht, sie zu trösten.«

»Und als du sie so in den Armen gehalten hast, bist du scharf auf sie geworden.«

»Michelle!«

»Tut mir leid. Okay, du hast sie also in den Arm genommen. Und dann?«

»Sie hat aufgehört zu weinen, hat sich wieder gefasst und mir noch mal gedankt. Sie hat mir angeboten, mich in die Stadt zurückzufahren, aber das hielt ich für keine gute Idee. Also bin ich ein Stück zu Fuß gegangen und habe mir dann ein Taxi gerufen.«

»Und das war alles?«

»Nein. Sie hat mich angerufen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ... Wir wurden Bekannte und schließlich Freunde. Ich glaube, sie war mir wirklich dankbar. Hätte jemand anders Cox und das Mädchen gefunden, wäre er jetzt vermutlich nicht Präsident.«

»Sei dir da nicht so sicher. Politiker sind nicht gerade für ihre vorbildliche Moral berühmt.«

»Jedenfalls, ich kannte mich ziemlich gut in der Stadt aus, und die Frau hat mir Löcher in den Bauch gefragt. Ich glaube, zum Schluss hat sie Washington besser gekannt als ihr Mann.«

»Hast du auf diese Weise auch Tuck und dessen Familie kennengelernt?«

»Jane hat mich zu ein paar Familienfeiern eingeladen. Ich glaube, Cox hat sich nicht an mich erinnert, und auch nicht an jene Nacht. Ich weiß nicht, wie Jane ihm meine Anwesenheit erklärt hat, aber er hat sie nie in Frage gestellt. Nachdem er Präsident geworden war, habe ich die beiden nur noch selten gesehen. Leute wie ich verkehren nicht in solchen Kreisen. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt aus dem Secret Service ausgeschieden und wohnte nicht mehr in Washington. Aber Jane hat mir immer eine Weihnachtskarte geschickt, und ich habe den Kontakt zu Tuck und seiner Familie aufrechterhalten. Als wir hierher gezogen sind, waren sie die Ersten, die mich willkommen hießen.«

Michelle musterte ihn überrascht. »Warum hast du mich ihnen nie vorgestellt?«

Ein Grinsen schlich sich auf Seans Gesicht. »Ich wollte sie nicht vergraulen.«

»Und jetzt eilst du der Lady wieder mal zu Hilfe.«

»Wie gesagt ... Déjà-vu.«

»Dann lass uns hoffen, dass wir es überleben. Letzte Nacht haben sie mich fast erwischt. Seit ich mit dir zusammenarbeite, brauche ich meine neun Leben verdammt schnell auf.«

»Ja, aber dafür ist es nicht langweilig.«