Prolog
Ihre Schritte waren bedächtig. Die Straße hinunter, dann nach links, zwei Querstraßen entlang, dann nach rechts. An einer Abzweigung legte sie eine kurze Pause ein; an der nächsten machte sie einen längeren Halt. Aber das war reine Gewohnheit, denn ihr inneres Radar zeigte keine Gefahr an. Sie beschleunigte ihre Schritte. Es waren noch ziemlich viele Passanten auf der Straße, obwohl es spät war, aber die Leute sahen sie nicht. Sie schien wie eine Brise an ihnen vorbeizuwehen - man fühlte sie, ohne sie sehen zu können.
Das dreistöckige Gebäude war dort, wo es immer gewesen war, wie festgekeilt zwischen einem Hochhaus zur Linken und einem Rohbau zur Rechten. Natürlich gab es Sicherheitseinrichtungen, aber die waren nicht der Rede wert. Einen Anfänger würden sie nur ein paar Minuten aufhalten, für einen Profi waren sie ein Witz.
Sie suchte sich ein Fenster auf der Rückseite des Gebäudes aus, statt durch die Vordertür einzubrechen. Diese Einstiegspunkte waren fast nie verkabelt. Sie legte den Riegel um, schob das Fenster hoch und wand sich hindurch. Die Bewegungssensoren hatte sie rasch hinter sich gelassen, aber dann wurde sie doch nervös: Sie war jetzt sehr nahe am Ziel, und das jagte ihr eine Heidenangst ein, auch wenn sie es nie zugegeben hätte.
Der Aktenschrank war verschlossen. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.
Du machst mir ganz schön Arbeit, Horatio.
Fünfzehn Sekunden später glitt die Schublade auf. Ihre Finger huschten über die Rücken der Aktenmappen. Genau in der Mitte hielt sie inne - dort, wo sie es nie erwartet hätte. Es war eine dicke Akte, aber damit hatte sie gerechnet. Sie zog die Akte heraus und blickte zum Kopierer.
Okay, dann los.
Horatio Barnes war ihr Psychiater. Vor einiger Zeit hatte er sie überredet, in eine Klinik zu gehen. Doch durch diese freiwillige Einkerkerung war aber nur ein einziges Rätsel gelöst worden, und das hatte nichts mit ihren Problemen zu tun. Später hatte Horatio sie hypnotisiert und in die Kindheit zurückgeführt; jeder Seelenklempner, der sein Geld wert war, tat das früher oder später. Die Sitzung hatte offenbar viele Dinge zutage gefördert. Das Problem war nur, dass Horatio beschlossen hatte, ihr nicht alles zu sagen, was sie ihm enthüllt hatte. Und nun war sie hier, um dieses Versäumnis zu korrigieren.
Sie legte die Seiten in den Papiereinzug des Kopierers und drückte den Knopf. Eins nach dem anderen huschten die Ereignisse ihres Lebens durch das Gerät. Und mit jedem Blatt Papier, das in die Ablage geworfen wurde, ging ihr Puls schneller.
Schließlich steckte sie die Originalakte wieder in die Schublade und band die Kopie mit einem Gummiband zusammen. Ruhig ging sie zu ihrem SUV zurück, erneut so unsichtbar wie eine Brise. Um sie her wogte das Nachtleben, doch niemand sah sie.
Sie stieg in ihren Wagen, ließ den Motor an. Ihre Hände legten sich um das Lenkrad. Sie hatte es schon immer geliebt, die Kraft der Achtzylindermaschine zu spüren, wenn sie über unbekannte Straßen raste. Doch als sie nun durch die Windschutzscheibe blickte, wollte sie nichts Unbekanntes mehr, nichts Neues. Sie wollte, dass alles wieder so wurde wie früher.
Sie blickte auf die Akte, sah den Namen auf der ersten Seite.
Michelle Maxwell.
Für einen Augenblick schien es ein fremder Name zu sein: Auf den kopierten Seiten standen das Leben, die Geheimnisse und die Qualen eines anderen. Probleme. Was für ein furchtbares Wort. Dabei klang es so harmlos. Probleme. Jeder hatte Probleme.
Der hubraumstarke Motor des SUV bollerte im Leerlauf und blies Kohlendioxid in eine Atmosphäre, die ohnehin schon voll davon war. Ein paar dicke Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe. Michelle sah, wie die Leute schneller gingen, um dem drohenden Wolkenbruch zu entfliehen. Eine Minute später war das Unwetter da. Michelle spürte, wie der Wind an ihrem SUV rüttelte. Ein greller Blitz, krachender Donner. Die Heftigkeit des Unwetters ließ darauf schließen, dass es nicht lange anhalten würde. Eine solch verschwenderische Gewalt hatte sich bald erschöpft, die Energie war rasch aufgebraucht.
Michelle stellte den Motor ab, griff nach den Kopien, riss das Gummiband herunter und begann zu lesen. Zuerst allgemeine Informationen: Geburtsdatum, Geschlecht, Bildungsweg, berufliche Laufbahn. Michelle blätterte weiter. Da stand nichts, was sie nicht schon wusste. Aber das war keine Überraschung. Schließlich ging es hier um sie.
Als Michelle auf die fünfte Seite der mit Maschine geschriebenen Notizen blickte, zitterten ihre Hände. Die Kopfzeile lautete: »Kindheit - Tennessee«. Sie schluckte mit trockenem Mund, hustete, rang nach Luft, und das machte es noch schlimmer. Der Speichel gerann ihr im Mund, so wie damals, als sie bei der Ruderregatta beinahe an Erschöpfung gestorben wäre. Das Rennen hatte ihr eine Silbermedaille eingebracht, die ihr mit jedem Tag weniger bedeutet hatte.
Michelle griff nach einer Flasche Mineralwasser und trank. Dabei tropfte Wasser auf die Kopien. Michelle fluchte und wischte so wütend über das Papier, dass sie es beinahe zerriss. Tränen liefen ihr über die Wagen, ohne dass sie den Grund dafür wusste. Sie hob das eingerissene Papier dicht vor die Augen, konnte die Schrift aber nicht mehr entziffern und schaute aus dem Wagen in die dichten Regenschleier. Das Unwetter hatte die Leute vertrieben; die Straßen waren leer.
Michelle richtete den Blick wieder auf die Seiten, aber da war nichts mehr. Natürlich standen die Worte immer noch da, nur konnte Michelle sie nicht sehen.
»Du schaffst es«, feuerte sie sich selbst an. »Du kriegst das hin.«
Michelle riss sich zusammen, konzentrierte sich.
»Kindheit ... Tennessee«, begann sie.
Sie war wieder sechs Jahre alt und lebte mit ihren Eltern in Tennessee. Ihr Dad war Polizeibeamter auf dem Weg nach oben, und ihre Mom war ... nun, ihre Mom. Michelle hatte vier ältere Brüder, die damals alle schon ausgezogen waren. Nur noch die kleine Michelle war zu Hause gewesen.
Mit einem Mal fand sie sich wieder zurecht. Die Worte waren klar, und auch die Bilder wurden deutlicher, je tiefer sie in diesen abgeschiedenen Winkel ihrer Erinnerungen kroch. Als sie umblätterte und ihr Blick auf das Datum fiel, war es, als hätte ein Blitz es in ihr Inneres eingebrannt. Eine Milliarde Volt Schmerzen und ein gequälter Schrei, den man beinahe sehen und fühlen konnte.
Michelle starrte aus dem Fenster. Es goss jetzt wie aus Eimern. Die Straßen waren immer noch leer.
Nein, doch nicht ... Als sie die Augen zusammenkniff, sah sie einen großen Mann, der ohne Schirm und Mantel im strömenden Regen stand. Er war durchnässt. Hemd und Hose klebten ihm auf der Haut. Er starrte Michelle an, sie starrte zurück. Weder Furcht noch Hass oder Mitgefühl waren im Blick des Mannes zu erkennen, als er sie durch den Regen hindurch beobachtete. Nur eine unterschwellige Traurigkeit, die zu Michelles Verzweiflung passte.
Michelle ließ den Motor an, legte den Gang ein und trat aufs Gaspedal. Als sie an dem Mann vorbeischoss, schaute sie zu ihm. Ein Blitz zuckte und machte die Nacht einen Wimpernschlag lang zum Tag. In der Explosion aus grellem Licht und krachendem Donner waren ihrer beider Bilder wie eingefroren, als sie einander anschauten.
Sean King sagte kein Wort. Er versuchte auch nicht, Michelle aufzuhalten. Er stand einfach da, das nasse Haar in der Stirn. Doch sein Blick war so eindringlich, wie Michelle es noch nie gesehen hatte. Es machte ihr Angst. Seans Blick schien ihr die Seele aus dem Leib reißen zu wollen.
Eine Sekunde später war Michelle um die Ecke gebogen und verlangsamte das Tempo. Sie ließ das Seitenfenster herunter, stoppte neben einem Mülleimer und warf die Kopien hinein.
Augenblicke später war ihr SUV im Unwetter verschwunden.