27.

Willa legte Stolz und Vorurteil beiseite. Nicht lange, nachdem sie hierhergebracht worden war, hatte sie die Wände abgeklopft und etwas Festes dahinter entdeckt. Sie hatte auf Schritte gelauscht und auf ihre Uhr geschaut; so war sie schließlich zu dem Schluss gekommen, dass jede Stunde jemand vor ihrer Zelle patrouillierte. Sie bereitete sich ihre eigenen Mahlzeiten zu, bestehend aus Doseneintopf, kalt gegessen, oder Militärrationen. Das war zwar nicht, was sie gewohnt war, aber das kümmerte ihren Magen nicht. Sie trank Flaschenwasser, kaute Cracker, versuchte, sich warm zu halten, und benutzte die batteriegetriebene Lampe nur sparsam. Wenn sie sich ausruhte, schaltete sie die Lampe aus und versuchte, sich nicht von der Dunkelheit ängstigen zu lassen.

Willa lauschte auf den Mann, den großen, älteren Mann. Sie hatte gelernt, ihn am Geräusch seiner Schritte zu erkennen. Sie mochte ihn lieber als die anderen, die ihr Wasser, Essen, saubere Kleidung und neue Batterien für die Lampe brachten. Die anderen sprachen nie, schauten ihr nie in die Augen, und doch hatte Willa Angst vor ihnen. Sie hatte Angst, ihr Schweigen würde plötzlich durch wilde Wut ersetzt werden.

Anfangs hatte Willa versucht, mit ihnen zu sprechen, doch jetzt nicht mehr. Stattdessen versuchte sie, sich unsichtbar zu machen, wann immer die Männer kamen, und wenn sie die Tür wieder hinter sich schlossen, seufzte Willa erleichtert.

Sie blickte auf die Uhr. Die Schritte waren gerade vorbeigekommen. Sie hatte jetzt Zeit. Zwei Stunden frei. Willa nahm die Lampe und ging zur Tür. Vorsichtig klopfte sie daran. Und wartete. Klopfte. Wartete.

»Hallo?«, sagte sie. »Ich ... äh, ich glaube, hier drin ist ein richtig großes Feuer ausgebrochen.«

Keine Antwort.

Willa stellte die Lampe ab und holte den Stift aus der Tasche, den Quarry ihr gegeben hatte. Genauer gesagt, sie holte die Klammer des Stifts heraus. Die hatte einen Neunzig-Grad-Haken an einem Ende. Als Nächstes nahm Willa ein langes Stück Metall mit einem dreieckigen Knauf, das sie aus den Deckeln der Konservendosen gefertigt hatte. Mit der Lampe hatte sie das Metall gehalten, es mit der scharfen Kante eines anderen Deckels zurechtgeschnitten und dann entsprechend zusammengerollt und geformt.

Willa betrachtete das Schlüsselloch und rief sich ins Gedächtnis, was sie über das Schlösserknacken gelernt hatte. Vor zwei Jahren hatten sie die First Family in einem hundert Jahre alten Haus an der Küste von South Carolina besucht, das wohlhabende Freunde dem Präsidenten für einen zweiwöchigen Sommerurlaub zur Verfügung gestellt hatten. Colleen Dutton, damals erst fünf, hatte sich selbst im Badezimmer eingesperrt. Das verängstigte Mädchen hatte geschrien, gegen die alte Tür gehämmert und an dem antiken Schloss gezerrt, doch ohne Erfolg. Dann war ein Secret-Service-Mann zur Rettung herbeigeeilt. Nach nur zehn Sekunden hatte er das Schloss mit einer Büroklammer geknackt und Colleen befreit.

Willa hatte ihre untröstliche Schwester nach dieser Episode stundenlang in den Armen gehalten. Später hatte sie sich Sorgen gemacht, Colleen würde sich auch daheim versehentlich ins Badezimmer einsperren; also hatte sie den Agenten gebeten, ihr das Schlösserknacken beizubringen. Das hatte der Mann getan; er hatte ihr auch den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen und einem Sicherheitsschloss gezeigt. Sicherheitsschlösser waren schwerer zu knacken. Sie verlangten nach größerem Können und zwei verschiedenen Werkzeugen - und genau so einem Schloss sah Willa sich hier gegenüber.

Sie hing die Lampe an den Türgriff, sodass ihr Arbeitsbereich beleuchtet war. Dann schob sie die Stiftklammer hinein, drehte sie wie einen Schlüssel und übte so gerade genug Druck aus, dass die inneren Bolzen nicht wieder zurückrutschten. Anschließend schob sie das zweite Werkzeug mit der anderen Hand in den oberen Teil des Schlosses. Sie wandte so viel Kraft auf, dass ihr trotz der Kälte im Raum der Schweiß über die Stirn lief. Einmal rutschte sie ab, und die Klammer löste sich.

Willa steckte sie wieder hinein und versuchte es erneut. Sie hatte diese Handgriffe zu Hause viele Male geübt, hatte aber nie sagen können, wie lange es dauerte. Sie war keine Expertin, und so fehlte es ihr an Gefühl für den Druck der Bolzen. Es konnte Minuten oder auch Stunden dauern. Willa betete, dass es nur Minuten waren.

Als sie Schritte hörte, die näher kamen, erstarrte sie. Sie drehte das Handgelenk, schaute auf ihre Uhr. Es waren erst zwanzig Minuten vergangen. Kam der Mann zu ihr? Der alte Mann, der so sanft sprach? Und doch fühlte sie seinen Zorn und wusste, wie gefährlich er war. Nein, das war nicht sein Schritt. Das war einer der anderen Männer. Willa zog ihre Werkzeuge heraus und wollte gerade zu ihrem Bett zurückfliehen, als die Schritte verhallten. Trotzdem wartete Willa noch, um sicherzugehen.

Schließlich machte sie sich wieder ans Werk, diesmal mit doppelter Konzentration. Jetzt spürte sie, wie die Bolzen von ihrem selbstgemachten Dietrich abglitten. Einen nach dem anderen hob sie sie hoch und hielt dabei die Klammer so fest, dass ihre Hand zu schmerzen begann.

Dann fiel der letzte Bolzen zurück. Willa zog den Hebel heraus und drehte die Klammer wie einen Schlüssel. Der Riegel wurde zurückgezogen. Willa atmete tief durch und sprach ein stummes Gebet. Sie drehte die Lampe auf die niedrigste Stufe hinunter, lauschte aufmerksam und öffnete die Tür.

Dann wartete sie ein paar Augenblicke und verschwand in der Dunkelheit.