24.
Sam Quarry ließ den Blick über sein Farmland schweifen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, krümmte den schmerzenden Rücken und spürte ein angenehmes Ziehen, als der Druck von seiner überstrapazierten Wirbelsäule genommen wurde. Er stand auf dem höchsten Punkt der Atlee-Plantage, einer fünfzehn Meter hohen Felsformation, deren Spitze nur über in den Stein gehauene Stufen zu erreichen war, die von den Stiefeln seiner Vorfahren abgewetzt waren. Solange Quarry zurückdenken konnte, war dieser Fels als »Angel Rock« bekannt, als wäre er eine Leiter zum Himmel oder zumindest zu einem besseren Leben als dem unten auf der Farm, auf der sich die Quarrys abrackerten. Quarry war kein Spieler, aber ein paar Dollar hätte er schon darauf verwettet, dass keiner seiner Vorfahren diese Reise beendet hatte.
Trotz ihrer historischen Bedeutung war die Atlee-Plantage vor allem eine Farm. Das Einzige, was sich in den letzten zweihundert Jahren geändert hatte, waren die Nutzpflanzen, die angebaut wurden, und die Art des Anbaus. Trecker hatten die von Maultieren gezogenen Pflüge ersetzt, und unterschiedliche Getreidesorten hatten den Platz von Baumwolle und Tabak eingenommen. Quarry war nicht mit irgendeiner Getreidesorte verheiratet. Er probierte alles aus, solange es auf so kleinen Farmen wie Atlee Profit einbrachte. Wie die meisten Farmer war er von Details besessen - von der Bodenbeschaffenheit über die Wetterbedingungen und der Zahl der Angestellten bis hin zu den Bankkrediten.
Für den Kiwianbau lag die Atlee-Plantage zu weit im Norden von Alabama. Quarry hatte es mit Raps probiert, denn in der Nähe hatte eine Rapsmühle eröffnet. Raps war eine ertragreiche Ölfrucht und erbrachte mehr Gewinn pro Hektar als Winterweizen. Dazu produzierte Quarry noch traditionelle Feldfrüchte wie Weißkohl, Bohnen, Melonen, Tomaten und Rüben.
Ein Teil davon ernährte die Menschen, die mit Quarry zusammen auf der Atlee-Plantage lebten, doch das Meiste wurde an örtliche Firmen und Läden verkauft, denn der Profit wurde dringend gebraucht. Quarry hatte außerdem Vieh: Zwanzig Schweine und zwei Dutzend Rinder, die sich in Atlanta und Chicago gut verkaufen ließen. Doch auch von dem Fleisch konsumierten sie einen Teil selbst.
Doch auch unter den besten Umständen war die Landwirtschaft ein riskantes Geschäft. Auch wenn man alles richtig machte, konnte einem eine Hitze- oder Kältewelle die gesamte Ernte vernichten. Und Mutter Natur entschuldigte sich nie für ihre göttliche und manchmal katastrophale Einmischung. Quarry hatte schon viele gute und auch schlechte Jahre erlebt. Es war klar, dass er mit seiner Arbeit nie reich werden würde, doch um Geld ging es auch nicht. Quarry zahlte stets seine Rechnungen und ging erhobenen Hauptes durch die Stadt. Er war fest davon überzeugt, dass man vom Leben auch nicht mehr erwarten durfte, es sei denn, man war korrupt, übertrieben ehrgeizig oder beides.
Quarry verbrachte die nächsten Stunden, indem er zusammen mit den Leiharbeitern auf dem Feld arbeitete, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen hatte die Feldarbeit ihm schon immer gefallen, zum anderen schienen seine Arbeiter stets kräftiger zuzupacken, wenn El Jefe dabei war.
Nachdem er von der eine Meile entfernten Bushaltestelle zu Fuß gekommen war, gesellte Gabriel sich am Nachmittag zu Quarry. Der Junge war kräftig und fleißig, und er wusste mit den Landmaschinen umzugehen. Später, beim Abendessen, ließ Quarry Gabriel das Gebet sprechen, während seine Mutter, Ruth Ann, und Daryl zuschauten. Dann aßen sie eine schlichte Mahlzeit, die fast ausnahmslos aus Lebensmitteln bestand, die sie bei der letzten Ernte eingelagert hatten. Anschließend hörte Quarry sich an, was Gabriel an diesem Tag in der Schule gelernt hatte.
Schließlich schaute er die Mutter des Jungen bewundernd an. »Er ist sehr klug, Ruth Ann. Er saugt alles auf wie ein Schwamm.«
Ruth Ann lächelte stolz. Sie war klapperdürr und litt an einer Magenstörung, deren Behandlung sie sich nicht leisten konnte und die sie in zehn Jahren vermutlich umbringen würde. »Na, von mir hat er das nicht«, sagte sie. »Kochen und Putzen, mehr habe ich nicht im Kopf.«
»Aber das machst du sehr gut.« Das kam von Daryl, der Gabriel gegenübersaß. Er hatte sich gerade ein großes Stück selbstgebackenes Brot in den Mund gestopft und mit lauwarmem Quellwasser heruntergespült.
»Wo ist Carlos?«, fragte Gabriel. »Er ist doch nicht weggegangen wie Kurt?«
Daryl warf seinem Vater einen nervösen Blick zu, doch Quarry tunkte sein Brot ruhig in die Reste der Tomatensoße und antwortete: »Er ist außerhalb und erledigt ein paar Dinge für mich. Er ist bald wieder zurück.«
Nach dem Abendessen ging Quarry auf den Dachboden und setzte sich in den Schutt seiner Familiengeschichte, zum größten Teil Möbel, Bücher, Kleider und Papiere. Doch war es nicht Nostalgie, was ihn hier heraufgeführt hatte. Quarry breitete die Pläne auf einem alten Beistelltisch aus, der seiner Urgroßmutter mütterlicherseits gehört hatte. Man hatte ihren Mann mit einer Schrotflinte getötet, und zwar wegen einer - so die Familienlegende - »Lady mit hübschem Gesicht, guten Manieren und sehr dunkler Haut«.
Quarry studierte die Straße, das Gebäude, Zugangspunkte und potenzielle Problemzonen, die auf den Plänen eingezeichnet waren. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf mehrere Zeichnungen mechanischer Natur, die er vorbereitet hatte. Quarry hatte einst ein Maschinenbaustudium begonnen, das jedoch mit dem Einsatz in Vietnam endete, als sein Vater darauf bestanden hatte, sein Sohn müsse bei der Bekämpfung der kommunistischen Pest in vorderster Front dabei sein. Als Quarry Jahre später zurückkehrte, war sein Vater tot gewesen, und die Atlee-Plantage hatte ihm gehört. Wieder aufs College zu gehen war nicht mehr infrage gekommen.
Doch Quarry hatte seine handwerkliche Begabung nicht eingebüßt: Fast alles, was einen Motor oder bewegliche Teile besaß, konnte er reparieren. Egal wie kompliziert eine Maschine sein mochte, ihre Eingeweide waren für Quarry wie ein offenes Buch. Das hatte sich schon häufig ausgezahlt: Wo andere Farmer auf Werkstätten angewiesen waren, schnappte Quarry sich einen Werkzeugkasten und erledigte die Sache selbst.
So betrachtete er nun auch die Pläne und Zeichnungen mit dem Auge eines Fachmanns und sah sofort, wo Verbesserungen nötig waren, um ein Desaster zu vermeiden. Anschließend ging er wieder nach unten, wo er Daryl in der kleinen Waffenkammer neben der Küche beim Waffenreinigen fand.
»Nichts riecht besser als Waffenöl«, bemerkte Daryl und blickte zu seinem Vater, als dieser den Raum betrat.
»Das sagst du.«
Daryls Lächeln verschwand, vielleicht wegen der Erinnerung an eine 45er, die ausgerechnet von jenem Mann auf seinen Kopf gerichtet worden war, der nun wenige Schritte von ihm entfernt stand.
Quarry schloss die Tür und verriegelte sie. Dann setzte er sich neben seinen Sohn und breitete die Pläne auf dem Boden aus.
»Ich bin das schon mit Carlos durchgegangen, aber ich möchte, dass du es auch verstehst - nur für den Fall.«
»Ich weiß«, sagte sein Sohn und wischte über den Lauf seines Lieblingsjagdgewehrs.
Quarry raschelte mit dem Papier vor Daryls Nase. »Das ist wichtig, Sohn. Es darf nichts schiefgehen. Nichts. Also hör gut zu.«
Nach einer halben Stunde stand Quarry zufrieden auf und rollte seine Pläne zusammen. Als er sie wieder in die lange Röhre steckte, in der er sie aufbewahrte, sagte er: »Das mit Kurt hat mich so sehr mitgenommen, dass ich mit dem verdammten Flieger fast abgestürzt wäre.«
»Ich weiß«, erwiderte Daryl, einen Hauch von Furcht in der Stimme, denn er wusste, wie unberechenbar sein Vater war.
»Wärst du es gewesen, hätte ich wahrscheinlich sogar geweint. Ich wollte nur, dass du es weißt.«
»Du bist ein guter Mann, Daddy.«
»Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete Quarry, als er den Raum verließ.
Er ging zu Gabriels Zimmer und rief durch die Tür: »Möchtest du mich zu Tippi begleiten? Ich muss auf dem Weg auch noch mal bei Fred anhalten.«
»Ja, Sir, gerne.« Gabriel legte sein Buch beiseite, zog seine Tennisschuhe an, setzte die Baseballkappe auf und stieg zu Quarry in den alten Dodge.
Kurz darauf hielten Quarry und Gabriel vor dem Trailer. Zwischen ihnen stand eine Kiste mit ein paar Flaschen Jim Beam und drei Stangen Camel ohne Filter. Nachdem sie die Kiste auf der Treppe des Trailers abgestellt hatten, hoben Quarry und Gabriel zwei große Kisten mit eingelegtem Gemüse und Äpfeln von der Ladefläche.
Quarry klopfte an die Tür des alten, verbeulten Trailers, während Gabriel eine Eidechse durch den Staub jagte, die aber rasch unter dem Wohnwagen verschwand. Der alte, faltige Indianer öffnete die Tür und half Quarry und Gabriel, die Vorräte hineinzutragen.
»Danke«, sagte der Mann in seiner Muttersprache und beäugte die Kisten.
»Wir haben mehr, als wir brauchen können, Fred.«
Als der Indianer hierhergekommen war, hatte er Quarry seinen Namen nicht genannt; er war einfach aufgetaucht. Nach ein paar Monaten hatte Quarry ihn einfach Fred genannt, und der Indianer hatte sich nie beschwert. Quarry wusste nicht, wie die anderen Indianer den Mann nannten, aber das war schließlich ihre eigene Angelegenheit.
Die beiden anderen Indianer waren ebenfalls im Wohnwagen. Einer schlief auf der durchgesessenen Couch, die keine Beine und Federn mehr hatte, sodass der Mann fast auf dem Boden lag. Sein lautes Schnarchen ließ darauf schließen, dass die Ausladeaktion ihn nicht im Mindesten kümmerte. Der andere Mann schaute sich eine Comedyshow auf dem alten Fünfzehn-Zoll-Fernseher an, den Quarry Fred vor ein paar Jahren geschenkt hatte.
Sie machten eine Flasche Jim Beam auf, rauchten und redeten, während Gabriel mit dem alten Köter spielte, der Fred und seinen Trailer adoptiert hatte, und an einer Colaflasche nippte.
Wenn Quarry gelegentlich über ein Coushatta-Wort stolperte, schlug Gabriel es nach, und jedes Mal lachte Fred dann und bot Gabriel zur Belohnung einen Schluck Whiskey an.
Und jedes Mal hob Quarry die Hand. »Wenn er ein Mann ist, kann er trinken, aber ich würde ihm nicht dazu raten. Langfristig schadet es ihm mehr, als dass es ihm guttut.«
»Aber Sie trinken doch auch, Mr. Sam«, sagte Gabriel. »Und nicht zu knapp.«
»Nimm dir nicht mich zum Vorbild, Sohn. Such dir ein höheres Ziel aus.«
Schließlich fuhren sie zu Tippi weiter. Quarry ließ Gabriel ihr aus Stolz und Vorurteil vorlesen.
»Also, irgendwie ist das langweilig«, verkündete der Junge am Ende des Absatzes.
Quarry nahm ihm das Buch ab und steckte es in seine Tasche. »Sie sieht das anders.«
Gabriel blickte zu Tippi. »Sie haben mir nie erzählt, was mit ihr passiert ist, Mr. Sam.«
»Stimmt, habe ich nicht.«