23.
Während seine Partnerin sich in Tennessee den Dämonen der eigenen Familie stellte, aß Sean eine Pizza in seinem Büro und betrachtete einen Stapel Ausdrucke. Er hoffte, dass irgendwo in diesem Papierwust etwas verborgen war, das ihm verriet, ob Tuck Dutton aus bislang unbekannten Gründen seine Frau hatte ermorden und seine Tochter hatte entführen lassen.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Jane Cox.
»Ich möchte, dass du mich im Krankenhaus triffst«, sagte sie. »Tuck will mit dir reden.«
»Worüber?«, fragte Sean misstrauisch.
»Ich denke, das weißt du.«
Sean zog sich sein Jackett an und ging zu seinem Mietwagen. Sein eigenes Auto stand in der Werkstatt. Der Schaden würde ungefähr achttausend Dollar betragen, und seine Versicherung hatte ihm erklärt, »ein Kugelhagel« werde nicht von der Police abgedeckt.
»Warum nicht?«, hatte Sean nachgehakt.
»Weil wir es als terroristischen Akt betrachten, und für entsprechende Schäden braucht man eine Zusatzversicherung, die Sie nicht haben«, erwiderte die Versicherungskauffrau, der es irgendwie gelang, ihre Weigerung in einen fröhlichen Tonfall zu verpacken.
»Das hatte mit Terrorismus nichts zu tun. Es war ein Verbrechen, und ich war das Opfer.«
»Sie haben siebenunddreißig Einschusslöcher in Ihrem Fahrzeug, Mr. King. Laut unseren Geschäftsbedingungen ist das kein Verbrechen, sondern Terrorismus.«
»Das bestimmen Sie anhand der Zahl der Einschusslöcher? Das ergibt doch keinen Sinn!«
»Sie können jederzeit gegen die Entscheidung Einspruch einlegen.«
»Wirklich? Was sagen denn Ihre Geschäftsbedingungen über die Chancen, dass ich den Prozess gewinne? Weniger als null?«
Miss Gutgelaunt hatte ihm daraufhin kurz und knapp für sein Vertrauen gedankt und aufgelegt.
Sean ließ den Motor an und wollte gerade losfahren, als jemand an die Scheibe klopfte. Er drehte sich um. Es war eine Frau, Anfang dreißig, blondes Haar, gut gebaut, ein bisschen zu viel roter Lippenstift und ausgetrocknete Haut von zu viel Make-up im Kampf gegen hochauflösende Kameras. Die Frau hielt ein Mikrofon in der Hand.
Sean schaute an ihr vorbei und sah den Ü-Wagen, der die Ausfahrt versperrte.
Scheiße.
Sean ließ das Fenster herunter.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Sean King?«
»Ja. Hören Sie, ich habe eine Presseerklärung abgegeben. Die können Sie sich gerne besorgen.«
»Die neuesten Entwicklungen rechtfertigen ein erneutes Nachfragen.«
»Was denn für Entwicklungen?«
»Haben Sie vertrauliche Daten aus dem Büro von Tuck Dutton gestohlen?«
Sean zog sich der Magen zusammen, und die Galle kam ihm hoch.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Leugnen Sie, in seinem Büro gewesen zu sein?«
»Ich leugne weder etwas, noch gebe ich etwas zu.«
»Tuck Duttons Firma arbeitet an streng geheimen Projekten für das Heimatschutzministerium.«
»Sind Sie Reporterin oder Pressesprecherin eines Unternehmens? Ich kann das nicht mehr so recht unterscheiden.«
»Ist Ihnen klar, dass es ein Verbrechen ist, das Eigentum anderer zu stehlen? Und dass man Sie des Landesverrats anklagen könnte, sollten Sie vertrauliche Informationen zum Zweck der Spionage entwendet haben?«
»Okay, jetzt reden Sie wie ein Möchtegernanwalt. Ich hingegen bin echt. Wenn Sie Ihrem Freund jetzt also nicht sagen, er soll seinen Van zur Seite fahren, werde ich mal sehen, wie weit ich ihn mit meinem Wagen schieben kann. Und dann werde ich ihn aus der Fahrerkabine zerren und einen Akt der Körperverletzung begehen. Allerdings werde ich es Notwehr nennen. Und die ist nicht strafbar.«
»Wollen Sie uns drohen?«
»Ich stehe kurz davor, die Cops zu holen und Sie wegen Freiheitsberaubung und Nötigung anzuzeigen. Schlagen Sie das ruhig mal in Ihrem Jura für Anfänger nach. Es könnte sich lohnen.«
Sean ließ den Motor aufheulen und legte den Rückwärtsgang ein.
Die Frau sprang zurück, und der Ü-Wagenfahrer trat gerade noch rechtzeitig aufs Gas, um Sean auszuweichen.
Eine halbe Stunde später ging Sean zu Tucks Krankenzimmer. Seine Laune verschlechterte sich mit jedem Schritt. Natürlich hatte er sich die Informationen besorgt, aber nicht, weil er ein Spion war, sondern weil er feststellen wollte, ob Tuck mit dem Mord an seiner Frau zu tun hatte. Sicher, das konnte man als Straftat auslegen, aber es war nicht das erste Mal, dass er die Regeln ein wenig gebeugt hatte. Deshalb war er auch nicht wütend. Irgendjemand wollte ihm eins auswischen, und er wollte wissen, wer und warum.
Sean zeigte seinen Ausweis einem der Secret-Service-Agenten im Flur. Da die First Lady anwesend war, nahmen sie sich besonders viel Zeit, ihn zu filzen. Dann winkten sie ihn durch. Tuck saß auf einem Stuhl neben dem Bett. Jane Cox stand neben ihm, die Hand unterstützend auf die Schulter ihres Bruders gelegt.
Zwei Agenten standen an der Wand, bis Jane sagte: »Bitte warten Sie draußen.« Ein stämmiger Agent schaute Sean durchdringend an, als er und sein Partner sich zur Tür bewegten. »Wir sind direkt draußen, Ma'am.« Er schloss die Tür hinter sich. Sean drehte sich zu den beiden Geschwistern um.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Jane.
»Es hörte sich nach einer wichtigen Sache an. Ich hoffe, so ist es auch.«
Seans schroffe Art schien Jane zu überraschen. Bevor sie etwas erwidern konnte, richtete Sean seine Aufmerksamkeit auf Tuck. »Offenbar fühlst du dich schon besser. Die Mutter aller Gehirnerschütterungen verheilt anscheinend gut, oder?«
»Es tut noch immer höllisch weh«, erwiderte Tuck abwehrend.
Sean zog sich einen Stuhl heran und setzte sich den beiden gegenüber.
»Mir ist gerade eine Reporterin auf Hexenjagd ins Genick gesprungen.« Er schaute zu Jane. »Weißt du was darüber?«
»Natürlich nicht. Wie sollte ich?«
»Ich weiß nicht.« Sean richtete den Blick wieder auf Tuck. »Okay, Zeit ist knapp. Warum also um den heißen Brei reden? Cassandra Mallory?«
»Was ist mit ihr?«
»Wie stehst du zu ihr?«
»Sie ist eine Mitarbeiterin.«
»Das ist alles?«
»Natürlich.«
»Dein Partner hat einen anderen Eindruck.«
»Dann irrt er sich.«
Sean stand auf und blickte aus dem Fenster. Unten wartete die Fahrzeugkolonne darauf, dass die First Lady ihren Besuch beendete. Das Leben im Glashaus - Sean kannte es nur allzu gut. Jede noch so kleine Bewegung wurde überwacht, und das nahm einem beinahe die Luft zum Atmen. Und doch gab man Hunderte von Millionen Dollar aus und widmete Jahrzehnte seines Lebens dem Ziel, in dieses Glashaus hineinzukommen. War das Wahnsinn, Eitelkeit oder etwas von beidem, was sich da hinter der Fassade des Dienstes am Vaterland verbarg?
Sean drehte sich wieder um. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn er zugab zu wissen, dass das Passwort für Tucks Computer »Cassandra1« lautete, würde er damit eingestehen, den Rechner gehackt zu haben. Also fragte er stattdessen: »Wärst du bereit, dich zu diesem Thema einem Lügendetektortest zu unterziehen?«
Tuck wollte etwas erwidern, doch Sean sah, wie die First Lady den Griff um die Schulter ihres Bruders verstärkte, und er schwieg.
»Sean«, begann sie, »warum tust du das?«
»Du hast mich gebeten, diesen Fall zu untersuchen, und genau das tue ich. Ich habe keinen Einfluss darauf, wohin mich das führt, auch wenn es einige Orte gibt, die ich lieber meiden würde. Du hast mir gesagt, ich solle tun, was auch immer nötig sei. Das war im Weißen Haus, vor gar nicht allzu langer Zeit. Ich bin sicher, du erinnerst dich.«
»Ich erinnere mich auch daran, dich gebeten zu haben, Willa zu finden.«
»Das wird mir aber kaum gelingen, wenn ich nicht zuerst herausfinde, wer sie entführt hat - und wer dabei Pam getötet hat.« Bei den letzten Worten funkelte er Tuck an.
»Ich hatte nichts damit zu tun«, beteuerte Tuck.
»Dann hast du sicher auch nichts gegen einen Test mit dem Lügendetektor.«
»Du kannst mich nicht dazu zwingen«, schoss Tuck zurück.
»Nein, aber wenn ich zum FBI gehe und ihnen erzähle, was ich herausgefunden habe, werden sie an Orten nachforschen, von denen du nicht willst, dass sie dorthin gehen. Bestehst du den Lügendetektortest, erfährt das FBI kein Wort. So ist der Deal.«
Jane sagte ruhig: »Du hast also mit Hilal gesprochen, seinem Partner, ja?«
»Ich dachte, du wärst mit den Geschäften deines Bruders nicht so vertraut.«
Jane fuhr ungerührt fort: »Hat Hilal dir auch erzählt, dass er verzweifelt versucht, Tuck auszukaufen? Dass er die Firma alleine haben will?«
Sean schaute zu Tuck. »Stimmt das?«
»Ja. Ich werde nicht lügen. Ich musste ein paar finanzielle Rückschläge in Kauf nehmen. David wusste, dass ich Geld brauchte. Er will mich auskaufen, aber zu einem Preis, der nicht annähernd dem Wert unserer Verträge mit dem Heimatschutzministerium entspricht. Das wären nämlich mehrere Millionen Dollar zusätzlich.«
»Wie du siehst«, sagte Jane, »liegt es in Hilals Interesse, Tuck anzuschwärzen. Wenn Tuck ins Gefängnis geht, bekommt Hilal alles für einen Apfel und ein Ei.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Sean.
»Aber ich müsste dann verkaufen, allein schon, um mir die Anwälte leisten zu können«, erklärte Tuck. »Er würde einen lächerlichen Preis bezahlen, und ich habe die Firma aufgebaut.«
Jane fügte hinzu: »Sean, du solltest deine Aufmerksamkeit nicht auf Tuck, sondern auf einen plausibleren Verdächtigen richten.«
Sean ließ sich einen Augenblick Zeit, um das zu verarbeiten. »Ihr glaubt also, Hilal habe die Entführung und den Mord in Auftrag gegeben, nur um Tuck die Schuld in die Schuhe zu schieben und die Firma zu übernehmen? Das ist ein bisschen weit hergeholt, meint ihr nicht? Und warum Willa entführen?«
Jane setzte sich auf die Bettkante. »Ich werde nicht versuchen, die Gedankengänge eines potenziellen Psychopathen zu rekonstruieren. Aber das ist nicht weiter hergeholt, als zu glauben, mein Bruder hätte seine Frau ermordet, seine Tochter gekidnappt und sich einen Schlag auf den Kopf verpassen lassen, der ihn genauso gut hätte töten können - und das alles nur, weil er angeblich eine Affäre hat.«
Sean blickte wieder aus dem Fenster und steckte die Hände in die Taschen. Was Jane sagte, ergab durchaus Sinn. Vielleicht war er tatsächlich ein wenig voreilig gewesen, was Hilals Aussage betraf. Aber was war mit dem Computerpasswort? Dann kam ihm ein Gedanke. Was, wenn jemand das Passwort in »Cassandral« geändert hatte? Was, wenn Hilal es getan hatte in dem Glauben, Sean würde den Rechner hacken, das Passwort erraten und daraus ohne Zweifel schließen, Tuck und die Frau hätten ein Verhältnis?
Diese Wahrscheinlichkeit, schloss Sean, war genauso groß wie die, dass die Versicherung für den »Terroristenschaden« aufkam.
Er wirbelte herum. »Tuck, wie lautet dein Computerpasswort im Büro?« Sean schnippte mit den Fingern, um den Mann zur Antwort zu drängen. »Komm schon. Was ist?«
Tuck zögerte gerade lange genug. »Carmichael.«
Jane sagte rasch: »Das ist Pams Mädchenname, nicht wahr?«
Tuck nickte, hob die Hand und wischte sich eine Träne aus dem rechten Auge.
Sie lügen mich beide an, dachte Sean. Irgendwie wissen sie, dass ich den Computer gehackt habe. Sie haben mir dieses Reporterweib auf den Hals gehetzt, um mich abzuschrecken.
Tucks Winkelzug war nicht überraschend; aber dass die First Lady dabei mitmachte, kam Sean seltsam vor. Anscheinend musste er noch viel tiefer graben.
»Okay, ich werde Hilal überprüfen.«
»Gut.« Jane stand auf, küsste Tuck auf die Wange und umarmte ihn.
Als sie auf Sean zuging, sagte sie: »Ich wäre dankbar, wenn wir in dieser Angelegenheit weiter zusammenarbeiten würden.«
»Sicher.« Sean ignorierte Janes ausgestreckte Hand und verließ das Zimmer.