42.
Sie fuhren von der Hauptstraße ab. Die Reifen des SUV knirschten auf dem harten Schotter. Sean saß am Steuer; er war Michelles präzisen Richtungsangaben genau gefolgt.
»Wann warst du das letzte Mal hier?«, fragte Sean.
Michelle schaute starr nach vorne. Der zunehmende Mond war neben den Autoscheinwerfern die einzige Lichtquelle. »Als Kind«, antwortete sie schließlich.
Sean blickte sie überrascht an. »Wie kannst du dich dann noch so genau erinnern, wie man hierherkommt? Hast du es nachgeschlagen?«
»Nein, ich ... ich wusste es einfach. Keine Ahnung woher.«
Die Sorgenfalten auf Seans Stirn wurden tiefer.
Eine seltsame Mischung verschiedener Gefühle huschte über Michelles Gesicht. Sean sah, dass sie große Erwartungen hatte. Er sah aber auch ihre Furcht - und die brachte er für gewöhnlich nicht mit Michelle in Verbindung.
Sie bogen in eine dunkle Straße ein. Vor sechzig Jahren war diese Siedlung brandneu gewesen. Inzwischen verfielen die Häuser. Die Vorgärten waren verwildert.
»Die Gegend hier hat auch schon bessere Tage gesehen«, bemerkte Michelle.
»Sieht so aus«, erwiderte Sean leise. »Welches ist es?«
Michelle deutete nach vorne. »Das da. Das alte Bauernhaus, das einzige in der Straße. Der Rest steht auf ehemaligem Weideland.«
Sean hielt vor dem Haus. »Sieht nicht so aus, als würde hier jemand wohnen.«
Michelle machte keine Anstalten, auszusteigen.
»Was jetzt?«, fragte Sean nach einer Weile.
»Ich weiß nicht.«
»Möchtest du nicht aussteigen und es dir wenigstens mal ansehen? Dann war der ganze Weg nicht umsonst.«
Michelle zögerte. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie dann und öffnete die Tür.
Gemeinsam gingen sie den ausgetretenen Weg zum Haus hinauf. Das Gebäude lag ein gutes Stück von der Straße entfernt. An einem verrotteten Seil hing ein alter Reifen unter dem Geäst einer sterbenden Eiche, und im Hof stand ein alter, reifenloser Truck auf Ziegelsteinen.
Plötzlich blieb Michelle stehen und starrte die Überreste mehrerer Sträucher an. Sie waren fast bis zu den Wurzeln heruntergeschnitten.
»Das war mal eine Hecke«, sagte Michelle. »Ich habe vergessen, was für eine. Eines Morgens sind wir aufgewacht, und sie war einfach weg. Mein Dad hatte sie zu irgendeinem Hochzeitstag gepflanzt. Nachdem die Büsche geschnitten worden waren, sind sie nie mehr nachgewachsen. Ich glaube, wer immer das getan hat, hat ein Unkrautvernichtungsmittel darauf geschüttet.«
»Habt ihr je herausgefunden, wer das war?«
Michelle schüttelte den Kopf und ging weiter zum Haus. Vorsichtig stiegen sie über die Terrasse; dann legte Michelle die Finger um den Türknauf. Er ließ sich leicht drehen. Sean legte die Hand auf ihre. »Bist du sicher, dass du das willst?«
»Jetzt sind wir schon den ganzen Weg hierhergefahren, und ich bezweifle, dass ich je wieder zurückkehren werde.«
Sean nahm die Hand wieder weg, und sie gingen hinein. Das Haus war leer und verdreckt.
Sean hatte eine Taschenlampe aus dem SUV mitgenommen; jetzt leuchtete er damit umher. Zerlumpte Decken kamen zum Vorschein, leere Packungen, Bierflaschen und mehr als ein Dutzend benutzter Kondome.
»Das ist nicht gerade was fürs Poesiealbum«, murmelte Michelle und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
»Erinnerungen haben nur selten mit der Realität zu tun«, sagte Sean. »Meist erinnert man sich nur an die guten Dinge.«
Michelle schaute zur Treppe.
Sean folgte ihrem Blick. »Welches war dein Zimmer?«
»Das zweite rechts.«
»Möchtest du rauf?«
»Später vielleicht.«
Sie gingen weiter durch das Erdgeschoss. Überall stapelte sich der Müll. Sean fiel auf, dass Michelle dies alles gar nicht zu registrieren schien. Sie stieß die Hintertür auf und trat hinaus. Auch dort erwartete sie Müll und der Kadaver des alten Trucks. Der Garage fehlte das Tor, und im Inneren sah es nicht besser aus als im Haus.
Alles war so erbärmlich, so deprimierend, dass Sean es kaum ertragen konnte, hier zu sein. Warum Michelle nicht schreiend davonlief, konnte er nicht begreifen.
»Und? Was machen wir jetzt?«, fragte er.
Michelle setzte sich auf die hintere Veranda. Sean stellte sich neben sie.
»Bist du je an den Ort zurückgekehrt, an dem du aufgewachsen bist?«, fragte sie.
»Einmal«, antwortete Sean.
»Und?«
»Große Erkenntnisse hat es nicht gebracht. Es war nur alles kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, aber ich war ja auch deutlich größer geworden. Ich habe mir einfach das Haus angeschaut und bin dann weitergefahren.«
»Das würde ich auch gerne tun. Mir das Haus anschauen und weiterfahren.«
»Dann lass uns gehen.« Sean zog die Wagenschlüssel aus der Tasche und warf sie Michelle zu. »Die Ehre gebührt dir.«
Als sie durchs Haus zurückgingen, blieb Michelle an der Treppe stehen.
»Hör mal, du musst dich deshalb nicht quälen«, sagte Sean besorgt.
Michelle stieg die Stufen hinauf.
»Bist du dir ganz sicher?«, fragte Sean.
»Nein«, antwortete Michelle, ging aber weiter.
Sean folgte ihr.
Sie gelangten an einen großen Treppenabsatz und blieben stehen. Insgesamt vier Türen führten von hier weg, zwei auf jeder Seite.
»Die zweite war deine, ja?« Sean deutete nach rechts.
Michelle nickte.
Er wollte die Tür aufmachen, doch Michelle hielt ihn davon ab.
»Nicht.«
Sean trat einen Schritt zurück und schaute sie an. »Vielleicht sollten wir lieber gehen.«
Michelle nickte. Doch kaum hatte sie sich umgedreht, fuhr sie wieder herum, riss die Tür auf ...
... und schrie, als sie plötzlich ein Mann anstarrte.
Der Mann rannte an ihr und Sean vorbei, polterte die Stufen hinunter und huschte durch die offene Tür.
Michelle zitterte so heftig, dass Sean nicht einmal daran dachte, dem Mann hinterherzujagen. Er nahm sie in die Arme. Erst als sie sich beruhigt hatte, ließ er sie los. Sie blickten einander an. Ohne Zweifel hatten sie beide die gleiche Frage im Sinn.
Sean sprach sie als Erster aus: »Was hat dein Vater hier gemacht?«