75.

Als Sean und Michelle auf den Feldweg einbogen, der nach Atlee führte, kündigte ein glühend roter Himmel im Osten den Sonnenaufgang an.

»Wie unheimlich«, bemerkte Michelle, als sie die einsame, gewundene Straße hinauffuhren. »Hast du Waters eine Nachricht hinterlassen?«

»Ja, aber ich habe keine Ahnung, wann er uns zurückruft. Außerdem jagen wir vielleicht nur einem Phantom hinterher.«

»Mein Bauch sagt mir etwas anderes.«

»Meiner auch«, gab Sean zu.

»Wie möchtest du es angehen?«

»Erst mal sollten wir uns umsehen und dann für ein Wunder beten, dass wir Willa finden.«

Michelle deutete nach vorne. »Das da könnte das Atlee sein.« Das Haus erschien hinter einer langen Kurve. Große Pinien wuchsen zu beiden Seiten der Auffahrt zu dem alten Herrenhaus.

»Ich sehe keine Autos vor der Tür«, sagte Michelle und zog ihre Waffe.

»An einem Ort wie diesem kann man Autos vermutlich Gott weiß wo abstellen«, erwiderte Sean.

Das Klingeln des Telefons erschreckte sie beide.

Es war Aaron Betack. Sean hörte ihm ein paar Minuten zu, legte dann auf und schaute zu seiner Partnerin.

»Im Weißen Haus ist der Teufel los«, berichtete er. »Offenbar ist Jane von einem Restaurantbesuch nach Hause gekommen und ins Oval Office gestürmt. Sie und der Präsident sind dann raufgegangen und hatten eine Diskussion. Jetzt fliegt das Paar in einer Maschine ohne Kennzeichen an einen unbekannten Ort.«

»Was ist denn da los?«

»Offensichtlich hat jemand Kontakt zu Jane aufgenommen, als sie in dem Restaurant gewesen ist.«

»Aber warum ein Flugzeug ohne Kennzeichen?«

»Vermutlich soll niemand von diesem Trip erfahren, zumindest nicht die Öffentlichkeit.«

»Der Service steht bestimmt vor dem Durchdrehen, weil sie kein Vorauskommando haben schicken können.«

»Genau. Sie tun, was sie können, aber wenn du nicht weißt, wohin es geht, ist es so eine Sache.«

»Du hast Aaron nicht gesagt, was wir herausgefunden haben.«

»Er hat auch so schon alle Hände voll zu tun. Sollten wir aber etwas finden, was mit dem Präsidenten in Verbindung steht, geben wir ihm sofort Bescheid.«

»Licht und Motor aus!«, zischte Michelle plötzlich.

Der SUV verstummte und versank in Dunkelheit. »Was ist?«

»Da ist gerade jemand aus dem Haus gekommen.« Michelle deutete nach vorne. »Lass uns den Rest zu Fuß gehen.«

Sie stiegen aus und schlichen zu dem dunklen Haus.

Michelle hob die Hand. Offensichtlich hatte sie etwas gesehen, das Sean entgangen war. Wie er schon häufiger hatte feststellen müssen, war ihre Nachtsicht geradezu übermenschlich.

»Wo?«, flüsterte Sean ihr ins Ohr.

»Auf der Veranda.«

Sean starrte in die angegebene Richtung und sah eine kleine Gestalt auf den Stufen sitzen. Michelle raunte: »Das könnte Gabriel sein, der kleine Junge, den die MP verhört hat. Er war fast neun, stand in dem Bericht. Damit wäre er jetzt zehn oder elf.«

Sie warteten, ob jemand sich zu Gabriel gesellte. Rasch wurde es heller, und irgendwo krähte ein Hahn.

»Das habe ich auch schon lange nicht mehr gehört«, gestand Sean.

»Wir müssen etwas tun«, sagte Michelle. »Wir verlieren unsere Deckung, und wenn es noch heller wird, sieht er den SUV.«

»Du links, ich rechts.«

Sie trennten sich. Eine Minute später schlichen sie von zwei Seiten auf die Gestalt zu, die sich beim Näherkommen tatsächlich als ein kleiner Junge erwies.

Ein kleiner Junge, der weinte. Tatsächlich weinte er so heftig, dass er nicht einmal bemerkte, wie Michelle neben ihn trat. Als sie ihn an der Schulter berührte, sprang er auf und wäre fast die Stufen hinuntergefallen. Sean konnte ihn gerade noch rechtzeitig am Arm packen, bevor er davonlaufen konnte.

»Wer ... wer sind Sie?«, stammelte Gabriel und schaute die beiden Privatdetektive mit verheulten Augen an.

»Bist du Gabriel?«, fragte Michelle und legte dem Jungen die Hand auf den anderen Arm.

»Woher kennen Sie meinen Namen?« Der Junge hatte sichtlich Angst.

»Wir werden dir nichts tun«, sagte Sean. »Wir suchen nur jemanden. Ein kleines Mädchen mit Namen Willa.«

»Sind Sie von der Polizei?«

»Wie kommst du darauf, dass wir von der Polizei sein könnten?«, fragte Michelle und verstärkte den Griff um Gabriels dünnen Arm.

Gabriel schniefte, ließ die Schultern hängen und starrte auf seine nackten Füße. »Ich weiß nicht.«

»Weißt du, wo Willa ist?«

»Ich kenne keine Willa.«

»Das haben wir dich nicht gefragt«, sagte Sean. »Wir haben dich gefragt, ob du weißt, wo sie ist.«

»Nein, weiß ich nicht, okay?«

»Aber du weißt etwas über sie?« Michelle blieb hartnäckig.

Gabriel schaute zu ihr auf. »Ich habe nichts Falsches getan. Und meine Ma auch nicht.«

»Das hat ja auch niemand gesagt. Wo ist deine Mutter?«, fragte Michelle.

»Schläft.«

»Ist sonst noch wer im Haus?«

»Ich glaube, Mr. Sam ist weg.«

»Sam Quarry?«, fragte Sean. »Sie kennen ihn?«

»Ich habe von ihm gehört. Warum glaubst du, dass er weg ist?«

»Der Truck ist nicht da«, antwortete der Junge. »Warum hast du geweint, als wir gekommen sind?«

»Weil ... weil ... nur so.«

»Es muss doch einen Grund dafür geben«, sagte Michelle mit sanfter Stimme. »Brauchen Sie immer einen Grund zum Weinen?«, erwiderte Gabriel trotzig. »Ja.«

»Ich aber nicht. Ich weine manchmal einfach so.«

»Sam ist also weg, und deine Mutter schläft. Ist sonst noch jemand drin?«

Gabriel wollte etwas sagen, hielt dann aber inne.

Sean sagte: »Es ist ganz wichtig, dass wir wissen, wer hier ist.«

»Sind Sie nun von der Polizei oder nicht?«

Michelle zückte ihren Detektivausweis und zeigte ihn dem Jungen. »Wir arbeiten mit dem FBI und dem Secret Service bei Willas Entführung zusammen. Habt ihr hier einen Coushatta-Indianer mit Namen Eugene?«

»Nein, aber wir haben einen, der heißt Fred.«

»Ist er im Haus?«

»Nein, er wohnt in einem alten Trailer auf dem Land. Da lang«, sagte der Junge und deutete nach Westen.

»Wer ist sonst noch drin?«

»Miss Tippi war drin, aber jetzt ist sie weg.«

»Wer ist Tippi?«

»Mr. Sams Tochter. Er hat sie erst vor Kurzem aus dem Heim geholt.«

»Aus dem Heim? Was ist denn mit ihr?«

»Sie ist vor langer Zeit krank geworden. Man hat sie an Maschinen angeschlossen, damit sie atmen kann. Sie war Jahre in dem Heim. Mr. Sam und ich sind immer zu ihr gefahren, um ihr vorzulesen. Jane Austen, ›Stolz und Vorurteil‹. Haben Sie das Buch gelesen?«

»Warum hat er sie nach Hause geholt?«, hakte Michelle nach. »Ich weiß nicht. Er hat's einfach getan.«

»Und jetzt ist sie nicht mehr hier?«

»Jedenfalls nicht in ihrem Zimmer. Ich hab nachgesehen.«

»Hast du deswegen geweint? Weil du glaubst, dass ihr was passiert ist?«

Gabriel schaute Michelle in die Augen. »Ma'am, Mr. Sam ist ein guter Mann. Er hat mich und meine Mom aufgenommen, als wir nicht mehr wussten, wohin wir sollen. Er hilft den Leuten, vielen Leuten. Er würde Miss Tippi nie etwas antun. Er hat alles für sie getan.«

»Aber du hast trotzdem geweint. Dafür muss es doch einen Grund geben.«

»Warum sollte ich Ihnen den sagen?«

»Weil wir helfen wollen«, antwortete Michelle.

»Das sagen Sie, aber woher soll ich wissen, was Sie wirklich wollen?«

»Du bist ein kluger junger Mann«, bemerkte Sean.

»Mr. Sam traut keinem, solange man ihm keinen guten Grund dafür gibt.«

»Was machen Sie hier?«, schnappte eine Stimme.

Sie drehten sich um und sahen Ruth Ann in ihrem alten Bademantel in der Tür stehen. Ihre Aufmerksamkeit galt jedoch nicht dem Bademantel, sondern der doppelläufigen Schrotflinte in Ruths Händen.