67.
Michelle parkte den SUV, stieg aus und schaute zu dem alten Haus mit dem sterbenden Baum hinauf, der verrottenden Schaukel und dem Skelett des Trucks in der Garage.
Dann blickte sie über die Straße zu dem Haus, wo einst eine alte Dame mit Namen Hazel Rose gewohnt hatte. Ihr Haus war stets makellos gewesen. Gleiches galt für den Hof. Nun war das Gebäude nicht mehr zu retten; einige Teile waren sogar schon eingefallen. Und doch wohnte dort drüben noch jemand. Spielzeuge lagen verstreut im Hof, und Michelle sah Wäsche in der Brise flattern. Es war eine deprimierende Szenerie. Ihre Vergangenheit zerfiel vor ihren Augen.
Hazel Rose war stets nett zu Michelle gewesen - auch noch, als das kleine Mädchen nicht mehr zu den Teapartys gekommen war, die die alte Frau für die Kinder in der Nachbarschaft gegeben hatte. Warum sie sich jetzt ausgerechnet daran erinnert hatte, wusste Michelle nicht. Sie drehte sich wieder zu ihrem Haus um. Sie wusste, was sie zu tun hatte, auch wenn sie es nicht tun wollte.
Michelles Gefühl hatte sie nicht getrogen. Der Wagen ihres Vaters parkte direkt vor ihrem. Die Tür des alten Hauses stand auf. Michelle ging an dem Auto und dann an den kümmerlichen Resten der Rosenhecke vorbei.
Ja, das war das gewesen, erinnerte sie sich nun. Eine Rosenhecke. Warum war ihr das jetzt eingefallen?
Dann erinnerte sie sich an die Lilien auf dem Sarg ihrer Mutter und wie sie Sean gesagt hatte, ihre Mutter habe stets Rosen vorgezogen. Und sie hatte einen Schmerz in ihrer Hand gespürt wie von einem Dorn, der sie gestochen hatte. Doch da war kein Dorn gewesen, denn es hatte gar keine Rosen gegeben. Genau wie jetzt. Keine Rosen.
Michelle ging weiter und dachte darüber nach, was sie zu ihm sagen sollte.
Sie musste nicht lange überlegen.
»Ich bin hier oben«, rief seine Stimme ihr zu.
Michelle hob den Blick und schirmte die Augen mit der Hand vor der Sonne ab. Ihr Vater stand an einem offenen Fenster im ersten Stock.
Michelle stieg über die Trümmer auf der Terrasse hinweg und betrat das Haus, das sie für kurze Zeit ihr Heim genannt hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. In gewisser Hinsicht hatte sie das Gefühl, in der Zeit zurückzureisen. Mit jedem Schritt wurde sie jünger, weniger selbstbewusst und weniger fähig. All die Jahre der Selbständigkeit, ihre Erfahrungen auf dem College, beim Secret Service und als Seans Partnerin waren wie weggeblasen. Sie war wieder sechs Jahre alt, zog einen verbeulten Plastikbaseballschläger hinter sich her und suchte nach jemandem zum Spielen.
Michelle betrachtete die alte Treppe. Als Kind war sie auf einem Stück Karton immer wieder die Stufen heruntergerutscht. Ihre Mutter mochte das nicht, aber sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater gelacht und sie aufgefangen hatte.
»Mein jüngster Sohn«, hatte er Michelle manchmal genannt, denn sie war wie ein Junge gewesen.
Michelle ging nach oben. Ihr Vater wartete schon auf sie.
»Ich dachte mir schon, dass du hierherkommst«, sagte er.
»Warum?«
»Vielleicht hast du ja noch etwas zu erledigen.«
Michelle öffnete die Tür zu ihrem alten Zimmer, ging zum Fenster und setzte sich auf die Fensterbank, den Rücken gegen die schmutzige Scheibe gelehnt.
Ihr Vater lehnte sich an die Wand, die Hände in den Taschen. Gedankenverloren scharrte er mit dem Fuß über den zerkratzten Holzfußboden. »Erinnerst du dich noch an viel von hier?«, fragte er und starrte weiter auf seinen Schuh.
»Als ich zum Haus hinaufgegangen bin, habe ich mich an die Rosenhecke erinnert. Du hast sie zu eurem Hochzeitstag gepflanzt, nicht wahr?«
»Nein, zum Geburtstag deiner Mutter.«
»Und jemand hat die Hecke in irgendeiner Nacht zerschnitten.«
»Ja.«
Michelle schaute aus dem Fenster. »Wir haben nie herausgefunden, wer es getan hat.«
»Ich vermisse sie. Ich vermisse sie wirklich.«
Michelle drehte sich um und sah, dass ihr Vater sie beobachtete. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe dich noch nie so weinen sehen wie gestern Morgen.«
»Ich habe geweint, weil ich dich beinahe verloren hätte, Baby.«
Diese Antwort überraschte Michelle. Dann aber fragte sie sich, warum.
»Ich weiß, dass Mom dich geliebt hat, Dad. Auch wenn sie ... Auch wenn sie es nicht immer auf die richtige Art gezeigt hat.«
»Lass uns rausgehen. Hier drin ist es stickig.«
Sie schlenderten über den Hinterhof. »Deine Mutter und ich waren schon in der Highschool zusammen. Sie hat auf mich gewartet, als ich in Vietnam gewesen bin. Wir haben geheiratet. Dann kamen die Kinder.«
»Vier Jungs in vier Jahren. Wie die Karnickel.«
»Und dann ist mein kleines Mädchen gekommen.«
Michelle lächelte und zwackte ihn in den Arm. »Das war wohl ein Unfall, hm?«
»Nein, Michelle, das war kein Unfall. Wir haben dich geplant.«
Sie schaute ihn fragend an. »Ich habe euch zwar nie danach gefragt, aber ich dachte immer, ich wäre nicht eingeplant gewesen. Wolltet ihr denn unbedingt ein Mädchen?«
Frank blieb stehen. »Wir wollten unbedingt ... etwas haben.«
»Etwas, das euch zusammenhält?«
Frank ging weiter, Michelle aber nicht. Er blieb wieder stehen und schaute zurück.
»Hast du je an eine Scheidung gedacht, Dad?«
»Eine Scheidung? So einen Schritt hat man zu unserer Zeit nicht so schnell unternommen.«
»Eine Scheidung ist nicht immer falsch ... nicht wenn man zusammen nicht mehr glücklich ist.«
Frank hob die Hand. »Deine Mutter war nicht glücklich. Was mich betrifft, ich hatte daran gearbeitet. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich viel zu viel Zeit auf der Arbeit anstatt mit ihr verbracht habe. Sie hat die Kinder großgezogen und einen fantastischen Job gemacht. Aber sie hat es ohne große Unterstützung von meiner Seite getan.«
»Das Leben eines Cops.«
»Nein, nur das Leben dieses Cops.«
»Du hast von Doug Reagan gewusst, nicht wahr?«
»Ich habe gesehen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte.«
Michelle konnte nicht glauben, dass sie ihrem Vater diese Frage stellte, aber sie musste es tun. »Hätte es dich gestört, wenn du gewusst hättest, dass sie miteinander schlafen?«
»Ich war ihr Mann. Natürlich hätte es mich verletzt, zutiefst sogar.«
»Hättest du dem ein Ende gemacht?«
»Ich hätte Reagan vermutlich krankenhausreif geschlagen.«
»Und Mom?«
»Deiner Mutter habe ich im Laufe der Jahre auf andere Art wehgetan. Und es war nicht ihre Schuld.«
»Indem du nicht für sie da warst?«
»In vieler Hinsicht ist das sogar noch schlimmer, als jemanden zu betrügen.«
»Glaubst du?«
»Was ist eine Affäre im Vergleich zu Jahrzehnten der Gleichgültigkeit.«
»Du warst doch nicht die ganze Zeit fort.«
»Du warst noch nicht da, und die Jungs waren noch klein. Glaub mir, deine Mom war im wahrsten Sinne des Wortes allein erziehend. Diese Zeit, dieses Vertrauen bekommst du nie mehr zurück ... zumindest habe ich es nicht bekommen.«
»Hast du auch um sie geweint?«
Er streckte die Hand aus. Michelle nahm sie.
»Du weinst, meine Süße. Du weinst immer.«
»Ich möchte nicht hierbleiben.«
»Dann lass uns gehen.«
Michelle hatte es fast zu ihrem SUV geschafft, als es geschah. Sie warf sich herum und rannte zum Haus.
»Michelle!«, schrie ihr Vater.
Doch sie war schon in dem alten Gebäude und stürmte die Stufen hinauf. Schritte folgten ihr. Michelle nahm zwei Stufen auf einmal und keuchte schwer, als wäre sie schon Meilen und nicht nur ein paar Meter gerannt.
Sie gelangte in den obersten Stock. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war geschlossen. Doch das war auch nicht ihr Ziel. Sie rannte zur Tür am anderen Ende des Flurs und trat sie auf.
»Michelle, nein!«, brüllte ihr Vater hinter ihr.
Michelle starrte in das Zimmer. Ihre Hand wanderte zu ihrer Waffe. Sie löste den Sicherheitsriemen und zog die Sig, hielt den Lauf nach vorne gerichtet.
»Michelle!« Die Schritte kamen rasch näher.
»Geh weg von meiner Mom!«, schrie sie.
In Michelles Geist schaute ihre Mutter sie ängstlich an. Sie kniete auf dem Boden, und ihr Kleid war halb zerrissen. Michelle konnte den BH ihrer Mutter sehen, ihren Ausschnitt. So viel Nacktheit entsetzte sie.
»Baby!«, rief Sally Maxwell ihr zu. »Geh wieder runter.« Ihre Mutter war jung, hübsch und voller Leben. Das lange weiße Haar war dunkelbraunen Strähnen gewichen. Sie war wunderschön. Makellos mit Ausnahme des zerrissenen Kleides, dem verängstigten Gesichtsausdruck und dem Mann im Tarnanzug vor ihr.
»Geh weg von ihr! Tu ihr nicht mehr weh!«, kreischte Michelle mit einer Stimme, die ihr selbst fremd war.
»Baby, bitte, es ist schon gut«, sagte ihre Mutter. »Geh wieder runter.«
Michelles Finger wanderte zum Abzug. »Hör auf! Hör auf!«
Der Mann drehte sich um und schaute sie an. Normalerweise hätte er wahrscheinlich gelächelt wie in all den anderen Nächten, aber diesmal war seine eigene Waffe auf ihn gerichtet, die, die Michelle aus dem Holster gezogen hatte, das er so sorglos über den Stuhl geworfen hatte. Man lächelte nicht, wenn eine Waffe auf einen gerichtet war, auch nicht von einem sechsjährigen Kind.
Er trat einen Schritt auf sie zu.
Und genau wie in jener Nacht feuerte Michelle einen einzelnen Schuss ab. Die Kugel schlug in die gegenüberliegende Wand ein.
Eine große Hand riss ihr die Pistole aus der Hand. Sie ließ die Waffe los. Sie war so schwer, dass Michelle sie nicht mehr halten konnte. Sie schaute in den Raum, hörte ihre Mutter schreien. Sie schrie wegen dem, was Michelle getan hatte. Sie schrie wegen des toten Mannes auf dem Boden.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Michelle drehte sich um.
»Dad?«, sagte sie in seltsamem Tonfall.
»Ist schon gut, Baby«, sagte ihr Vater. »Ich bin ja da.«
Michelle deutete ins Zimmer. »Ich habe das getan.«
»Ich weiß. Du hast nur deine Mutter beschützt. Das ist alles.«
Sie packte ihn an der Schulter. »Wir müssen ihn wegbringen. Aber lass mich nicht im Wagen, Dad. Diesmal nicht. Ich kann sein Gesicht sehen. Du musst sein Gesicht zudecken.«
»Michelle!«
»Du musst sein Gesicht zudecken. Wenn ich sein Gesicht sehe ...« Sie atmete schnell und flach.
Ihr Vater legte die Waffe beiseite und drückte sie an sich, bis ihre Atmung sich wieder beruhigte ... bis Michelle wieder in das Zimmer blickte und sah, was sich wirklich dort befand.
Nichts.
»Ich habe ihn erschossen, Dad. Ich habe einen Mann getötet.«
Frank löste sich von ihr und musterte sie aufmerksam. Sie erwiderte seinen Blick. Ihre Augen waren klar. »Du hast nichts Falsches getan«, sagte Frank Maxwell. »Du warst nur ein Kind. Nur ein ängstliches kleines Kind, das seine Mutter beschützen wollte.«
»Aber sie ... Er war auch vorher schon da. Er war bei ihr, Dad.«
»Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dann mir. Es war meine Schuld. Nur meine Schuld.« Die Tränen rannen ihm über die Wangen, und Michelle spürte, dass auch ihr das Wasser in die Augen stieg.
»Das werde ich nie tun. Ich werde dir niemals die Schuld daran geben.«
Frank packte ihre Hand und führte sie die Treppe runter.
»Wir müssen weg von hier, Michelle. Wir müssen weg von hier, und wir dürfen nie mehr wiederkommen. Das ist die Vergangenheit. Wir können sie nicht rückgängig machen. Wir müssen weiter vorwärtsgehen, Michelle. So funktioniert das Leben. Sonst wird es uns beide vernichten.«
Draußen hielt er die Tür des SUV für seine Tochter auf, und sie stieg ein. Bevor er die Tür schloss, fragte er: »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Michelle atmete tief durch und nickte. »Ich weiß nicht genau, was da drin geschehen ist.«
»Ich glaube, du weißt alles, was du wissen musst. Jetzt ist es an der Zeit zu vergessen.«
Michelle schaute über seine Schulter hinweg. »Du hast die Rosenhecke kaputt geschnitten, nicht wahr?«
Frank folgte ihrem Blick und drehte sich dann wieder zu seiner Tochter um. »Deine Mutter hat diese Rosen geliebt. Ich hätte sie ihr nie weggenommen.«
»Du hattest vermutlich einen guten Grund.«
»Väter sind nicht perfekt, Michelle. Ich habe vieles getan, ohne einen guten Grund dafür gehabt zu haben.«
Michelle starrte zu dem alten Haus hinauf. »Ich komme nie mehr hierher zurück.«
»Es gibt auch keinen Grund dafür.«
Michelle wandte sich wieder ihrem Vater zu. »Wir müssen vieles anders machen, Dad. Ich muss vieles anders machen.«
Frank drückte ihre Hand und schlug die Tür zu.
Als er zu seinem Wagen ging, schaute Michelle ein letztes Mal zu dem Haus, und ihr Blick blieb bei dem Zimmer hängen.
»Es tut mir leid, Mom. Es tut mir leid, dass du nicht mehr bei uns bist. Ich wollte nie etwas bedauern müssen, aber nun sieht es aus, als wenn das alles wäre, was mir geblieben ist.« Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken und weinte, wie sie noch nie geweint hatte.
Als sie den Blick wieder hob, sah sie gerade noch, wie ihr Vater sich die eigenen Tränen aus den Augen wischte und dann in den Wagen stieg.
»Leb wohl, Mom«, sagte Michelle und ließ den Motor an. »Ich ... Mir ist es egal, was du getan hast. Ich werde dich immer lieben.«