74.

Quarry überprüfte die Geräte, die Tippi am Leben erhielten, und checkte den Sauerstoffgehalt. Alles arbeitete reibungslos, angetrieben von einem Generator. Draußen war es dunkel; die Sonne würde noch ein paar Stunden auf sich warten lassen.

Als er das Gesicht seiner Tochter berührte, dachte Quarry an sein Telefonat mit Jane Cox zurück. Er hatte noch nie mit der First Lady gesprochen. Leute wie er bekamen diese Gelegenheit nicht. Natürlich hatte er im Laufe der Jahre viel über sie gelesen und die Karriere ihres Mannes verfolgt. Irgendwie hatte er mehr von ihr erwartet. Er hatte sie sich gebildet, elegant und kampferprobt vorgestellt. Doch sie hatte ihn enttäuscht. Die First Lady hatte am Telefon einfach nur menschlich geklungen ... ängstlich, um genau zu sein. Sie hatte sich in ihrem Elfenbeinturm die ganze Zeit so sicher gefühlt, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie unter ihr die Scheiße zu kochen begann.

Nun, jetzt wusste sie es, und bald würde sie es auch aus nächster Nähe sehen.

Quarry atmete tief und langsam durch. Das war es jetzt. Bis zu diesem Punkt hätte er es noch jederzeit abblasen können - und das hätte er auch fast getan, als die Wände im Keller ihn in die Vergangenheit zurückgeführt hatten. Er zog Jane Austens »Stolz und Vorurteil« aus seiner Tasche. Im Licht von Daddys alter Taschenlampe las er das letzte Kapitel des Romans ... es würde wirklich das letzte Kapitel sein, das er seiner Tochter vorlas.

Quarry klappte das Buch zu und legte es Tippi sanft auf die Brust. Dann drückte er ihr die Hand. Das hatte er all die Jahre immer getan und gehofft, sie würde den sanften Druck seiner Finger erwidern, aber das war nie geschehen. Schließlich ließ er ihre Hand wieder los und schob sie unter die Decke.

Dann holte er sein kleines Diktiergerät aus der Tasche, legte es aufs Bett und schaltete es ein. Die nächsten paar Minuten hörten er und seine Tochter sich wieder Cameron Quarrys letzte Worte auf dieser Erde an. Und wie immer sprach Quarry den letzten Satz mit.

»Ich liebe dich, Tippi, Kleines. Und auch Mama liebt dich von ganzem Herzen. Ich kann es gar nicht erwarten, dich wieder in meinen Armen zu halten, mein kleines Mädchen ... wenn wir beide gesund und munter bei Jesus sind.«

Quarry schaltete das Gerät aus und steckte es weg.

Erinnerungen brachen in Wellen über ihn herein. Es hätte alles ganz anders laufen können. Es hätte alles anders laufen müssen.

»Deine Momma wird sich freuen, dich zu sehen, Tippi. Ich wünschte, ich könnte bei euch sein.«

Er beugte sich vor und küsste seine Tochter ein letztes Mal.

Quarry ließ die Tür offen, drehte sich dann noch einmal um und warf einen letzten Blick ins Zimmer. Selbst in der Dunkelheit konnte er Tippi dank der leuchtenden Maschinen, die sie in all den Jahren am Leben erhalten hatten, umrisshaft erkennen.

Die Ärzte hatten viele Male versucht, Quarry zu überreden, die Maschinen abstellen zu lassen.

Tippi war hirntot, hatten sie erst Quarry und seiner Frau und später ihm allein immer wieder gesagt, und das Ganze dann noch mit medizinischem Kauderwelsch garniert, von dem Quarry vermutete, dass es ihn hatte verwirren sollen. Er hatte es sich jedes Mal brav angehört und ihnen anschließend eine ganz einfache Frage gestellt: »Wenn es Ihre Tochter wäre, würden Sie es tun?«

Die leeren Blicke, mit denen er daraufhin bedacht worden war, waren ihm stets Antwort genug gewesen.

Ein Teil von ihm wollte sein Kind jetzt nicht verlassen, doch ihm blieb keine Wahl. Quarry ging von der Veranda herunter und schaute zum Waldrand. In dem kleinen Bunker, den Quarry ausgehoben und mit Holz verstärkt hatte, saß Carlos, die Fernbedienung in der Hand. Ein Kabel verband das Gerät mit einem zweiten, das in die Wand des kleinen Hauses eingebaut war. Der Bunker war mit Erde und Gras getarnt; darunter sorgten Bleiplatten dafür, dass man die Mauern nicht mit elektronischen Geräten durchdringen konnte. Quarry wusste, dass das FBI mit modernster Ausrüstung anrücken würde; deshalb hatte er sich aus alten Röntgenschürzen, die er bei einem Zahnarzt bekommen hatte, diesen Schutz gebaut.

Die Tarnung war so gut, dass man selbst aus wenigen Metern Entfernung den Mann nicht bemerkte, der alles aus dem Bunker beobachtete. Das zweite Kabel, das Quarry von einem Baum bis zum Bunker verlegt hatte, verband eine Kamera mit einem Monitor im Bunker. Wahrscheinlich blickte Carlos gerade auf diesen Monitor. Auf diese Weise hatte er klare Sicht auf alles, was außerhalb seines Unterstands vor sich ging. Carlos sollte so lange in dem Bunker bleiben, bis die Luft wieder rein war. Der Bunker war gut gelüftet, und es gab reichlich Essen und Wasser. War alles vorbei, sollte Carlos nach Mexiko fliehen und von da aus weiter nach Süden. Quarry hoffte, dass er es schaffen würde.

Quarry stand an einer Stelle, von der er wusste, dass Carlos ihn auf dem Bildschirm sehen konnte. Er hob den Daumen zum Zeichen, dass alles in Ordnung war, und salutierte dann. Anschließend fuhr er wieder nach Hause.

Quarry hatte einen Brief geschrieben und im Keller hinterlegt. Er war nicht an Ruth Ann oder Gabriel adressiert, aber es ging um sie. Quarry wollte, dass die Leute die Wahrheit erfuhren. Er allein war für das hier verantwortlich und sonst niemand. Sein Testament hatte er ebenfalls dort gelassen.

Quarry schlich nach oben und schaute nach Ruth Ann, die tief und fest schlief. Anschließend ging er zu Gabriel. Auch der Junge schlief friedlich.

Quarry zog einen Silberdollar aus der Tasche und legte ihn auf den Nachttisch des Jungen. Leise sagte er: »Geh aufs College, Gabriel. Lebe dein Leben und vergiss, dass du mich je gekannt hast. Und wenn du doch mal an mich denkst, dann hoffe ich, wirst du dich auch daran erinnern, dass ich nicht nur böse war. Das Leben hat mir Karten gegeben, mit denen ich nichts anfangen konnte. Aber ich habe getan, was in meiner Macht stand.«

Quarry ging in seine Bibliothek. Das Kaminfeuer war erloschen, mit einem Eimer Wasser gelöscht. Quarry spannte den Arm mit dem Brandzeichen. Dann schaltete er das Licht ein, schaute sich kurz die Bücher an, knipste das Licht wieder aus und schloss ein letztes Mal die Tür.

Eine halbe Stunde später parkte er seinen Truck neben der Cessna. Zwanzig Minuten später hob die Maschine ab. Während er über das Land flog, schaute er zu dem kleinen Haus hinunter. Er winkte nicht, nickte nicht, zeigte nicht, dass er da war. Jetzt musste er sich konzentrieren. Was vergangen war, war vergangen. Er durfte jetzt nur noch nach vorne schauen.

Daryl hatte die Landebahn für ihn mit Fackeln beleuchtet. Quarry setzte hart auf, ließ die Maschine ausrollen, wendete, stieg aus und schob Keile unter das Fahrwerk.

Wenn alles nach Plan lief, würden er und Daryl bald wieder von hier starten und in Texas landen. Alles in allem sollte es nicht mehr als ein paar Stunden dauern. Von dort hatten sie sich schon einen Weg über die Grenze und nach Mexiko gesucht. Die Grenze in südlicher Richtung zu überqueren, war allerdings auch wesentlich einfacher als umgekehrt. Waren sie erst einmal dort, würde Quarry dem FBI mit einem gestohlenen Handy die Koordinaten der Mine durchgeben, damit Willa und Diane gerettet werden konnten. Bis dahin würde den beiden nichts passieren; Essen und Wasser waren genug vorhanden.

Es war ein guter Plan - wenn er funktionierte.

Quarry schnappte sich seinen Rucksack und ging zum Mineneingang.

In ein paar Stunden würde er es wissen.