5.
Sam Quarry liebte sein Heim - oder das, was davon übrig war. Die Atlee-Plantage war seit fast zweihundert Jahren im Besitz seiner Familie. Einst hatte das Anwesen sich über viele Meilen erstreckt, und Hunderte von Sklaven hatten hier geschuftet. Nun waren Quarry nur noch zweihundert Morgen geblieben, und mexikanische Einwanderer brachten die Ernte ein. Auch das Herrenhaus hatte schon bessere Zeiten gesehen, doch wenn einem die Löcher in der Decke, die zugigen Zimmer und die gelegentliche Maus auf den brüchigen Holzdielen nichts ausmachten, konnte man noch immer in der Villa wohnen. Über den Fußboden des einstigen Herrenhauses waren konföderierte Generäle geschritten, sogar Jefferson Davis höchstpersönlich. Quarry kannte die Geschichte, doch er schwelgte nicht darin. Schließlich konnte niemand sich seine Familie oder deren Geschichte aussuchen.
Quarry war zweiundsechzig, schlank und kräftig, hatte dichtes, schneeweißes Haar, sonnengebräunte Haut und eine laute, befehlsgewohnte Stimme. Er liebte das Leben im Freien und genoss es, auf die Jagd zu gehen, zu fischen und im Garten zu arbeiten. Er war ein »Mann der Erde«, wie er selbst es zu nennen pflegte.
Quarry saß an seinem überladenen, narbigen Schreibtisch in der Bibliothek. Es war derselbe Schreibtisch, hinter dem schon Generationen von Quarrys gesessen und wichtige Entscheidungen getroffen hatten, die das Leben vieler Menschen beeinflusst hatten. Im Gegensatz zu einigen seiner Ahnen, die nachlässig gewesen waren, nahm Sam Quarry seine Verantwortung ernst. Er führte ein strenges Regiment, um für sich selbst und für die Leute zu sorgen, die hier noch beschäftigt waren. Außerdem war die Atlee-Plantage alles, was Quarry geblieben war.
Er streckte seine eins neunzig große Gestalt und faltete die schwieligen, sonnengebräunten Hände auf dem Bauch. Dann ließ er den Blick über die schlecht gemalten Porträts und die körnigen Schwarzweißfotos seiner männlichen Vorfahren schweifen und überdachte seine Situation. Quarry nahm sich stets Zeit, alles genau zu durchdenken - anders als die meisten anderen Menschen heutzutage, vom Präsidenten bis hin zu Wall-Street-Magnaten und dem Mann von der Straße. Alles musste schnell gehen. Jeder wollte alles am liebsten schon gestern. Diese Ungeduld führte häufig zu Fehlern.
Eine halbe Stunde saß Quarry einfach nur da und rührte sich nicht, während sein Hirn auf Hochtouren arbeitete. Schließlich beugte er sich vor, streifte sich Handschuhe über und begann unter dem strengen Blick seines Großvaters und Namensvetters Samuel W. Quarry, der lange Zeit die Opposition gegen die Bürgerrechtler in Alabama geführt hatte, nach dem Zweifingersystem auf der abgegriffenen Tastatur seiner IBM Selectric zu tippen. Einen PC besaß Quarry nicht, nur ein Handy. Er hatte oft genug davon gehört und gelesen, wie einfach es sei, Informationen von einem Computer zu stehlen, selbst wenn der Dieb in einem anderen Land saß. Wollte jemand etwas von seiner Schreibmaschine stehlen, müsste er bei Quarry einbrechen - und Quarry bezweifelte, dass ein Einbrecher sein Anwesen lebend verlassen würde.
Quarry hörte zu tippen auf, zog das Blatt heraus, überflog den kurzen Text, steckte das Blatt in einen Umschlag und verklebte die Lasche mit Wasser aus einem Glas auf seinem Schreibtisch. Er wollte keine Spuren hinterlassen, auch nicht in Gestalt der DNA seines Speichels.
Quarry legte den Umschlag in eine Schreibtischschublade, die er mit einem fast hundert Jahre alten Schlüssel verschloss; der uralte Mechanismus funktionierte noch ausgezeichnet. Dann stand er auf, ging zur Tür und trat hinaus ins Tageslicht, um einen Blick auf sein zerfallendes Königreich zu werfen. Dabei kam er an Gabriel vorbei, einem dürren, elfjährigen schwarzen Jungen, dessen Mutter, Ruth Ann, als Haushälterin für Quarry arbeitete. Quarry tätschelte Gabriel den Kopf und gab ihm einen zusammengefalteten Dollar sowie eine alte Briefmarke aus seiner Sammlung. Gabriel war ein kluger Junge, der genug Grips hatte, um ein College zu besuchen, und Quarry war entschlossen, ihm dabei zu helfen. Er hatte nicht die Vorurteile seines Großvaters und Urgroßvaters geerbt, die den erzkonservativen George Wallace als großen Politiker hatten hochleben lassen, als einen Mann, »der wenigstens noch wusste, wie man die Nigger auf den Platz verweist, der ihnen zusteht«.
Sam Quarry war der Überzeugung, dass alle Menschen ihre Stärken und Schwächen hatten, egal welcher Hautfarbe sie waren. Seine jüngste Tochter hatte sogar einen Farbigen geheiratet, und Sam hatte die Braut voller Freude zum Altar geführt. Inzwischen waren sie geschieden, und Quarry hatte die beiden seit Jahren nicht gesehen. Doch er gab die Schuld an der Trennung nicht seinem Ex-Schwiegersohn. Er wusste, wie schwierig es war, mit seiner jüngsten Tochter zusammenzuleben.
Quarry verbrachte zwei Stunden damit, mit seinem verbeulten, rostigen Pick-up, der schon mehr als stolze zweihunderttausend Meilen auf dem Buckel hatte, über sein Land zu fahren. Schließlich hielt er vor einem jahrzehntealten, silbernen Airstream-Wohnwagen mit zerfetztem Zeltvordach. Im Inneren gab es ein winziges Bad mit Toilette, einen mit Propangas betriebenen Herd, einen kleinen Kühlschrank unter der Spüle, einen Boiler, ein Mini-Schlafzimmer und eine Klimaanlage. Über ein Kabel zur großen Scheune wurde der Wohnwagen mit Strom versorgt. Quarry hatte den Airstream von einem Großhändler in Zahlung genommen, der während der Erntezeit in finanzielle Schwierigkeiten geraten war.
Unter dem Vordach saßen drei Männer, Indianer vom Stamm der Coushatta. Quarry war mit der Geschichte der Eingeborenen in Alabama sehr gut vertraut. Die Coushatta hatten jahrhundertelang im Norden von Alabama gesiedelt, mit den Muskogee und Cherokee als östlichen Nachbarn und den Chickasaw und Choctaw im Westen. Im Jahre 1830 waren die Coushatta zwangsweise in Reservate nach Texas und Oklahoma gebracht worden. Heutzutage lebten fast alle Coushatta in Louisiana, doch eine Hand voll hatte es zurück in den Goldammer-Staat geschafft.
Einer der Coushatta war vor Jahren hierhergekommen, lange nachdem Quarry das Anwesen von seinem Vater geerbt hatte. Seitdem lebte der Indianer hier. Quarry hatte ihm den Wohnwagen als Heim überlassen. Die anderen beiden waren erst seit sechs Monaten hier, und Quarry wusste nicht, ob sie blieben oder nicht. Aber er mochte sie, und sie schienen ihn zu tolerieren. Grundsätzlich vertrauten die Coushatta keinem weißen Mann, duldeten aber Quarrys Besuche und seine Gesellschaft, denn technisch gesehen gehörte sein Land ihnen: Die Coushatta hatte es schon bestellt, lange bevor es Weiße in Alabama gegeben hatte.
Quarry setzte sich auf einen Stuhl mit dickem Gummikissen, trank ein Bier mit den Coushatta, drehte sich ein paar Zigaretten und tauschte Geschichten mit den Indianern. Der Coushatta, dem Quarry vor gut zehn Jahren den Wohnwagen überlassen hatte, war klein und gebeugt, mit weißem Haar und einem Gesicht wie eine Skulptur von Frederic Remington. Von allen Indianern sprach er am meisten, und er trank auch mehr als die anderen. Er war ein gebildeter Mann, doch Quarry wusste nur wenig über ihn.
Quarry unterhielt sich mit den Indianern in deren eigener Sprache, doch sein Coushatta war ziemlich beschränkt; deshalb kamen die Indianer ihm entgegen, indem sie Englisch mit ihm redeten - und nur mit ihm, was Quarry ihnen nicht verübeln konnte: Der Weiße Mann trampelte noch immer auf ihnen herum, obwohl die Indianer das einzige Volk waren, das sich mit Fug und Recht als Amerikaner bezeichnen konnte. Das aber behielt Quarry wohlweislich für sich, denn die Indianer mochten kein Mitleid, hassten es sogar.
Fred, der alte Indianer, erzählte gerne die Geschichte, wie die Coushatta an ihren Namen gekommen waren. »Es bedeutet ›verirrter Stamm‹«, sagte er. »Unser Volk ist vor langer Zeit in zwei Gruppen von hier aufgebrochen, wobei die erste Gruppe Zeichen für die zweite hinterließ, damit diese ihr folgen konnte. Doch am Mississippi verschwanden die Zeichen plötzlich. Die zweite Gruppe zog trotzdem weiter und traf auf ein Volk, das unsere Sprache nicht verstand. Unsere Leute sagten ihnen, sie hätten sich verirrt, was in unserer Sprache coushai heißt. Das andere Volk glaubte, das sei unser Name. So hat er sich entwickelt und ist bis heute geblieben.«
Quarry, der die Geschichte schon ein Dutzend Mal gehört hatte, erwiderte: »Im Grunde, Fred, haben wir alle uns in gewisser Weise verirrt.«
Gut eine Stunde später, als die Sonne den Männern auf die Köpfe knallte und die Luft einem Glutofen glich, stand Quarry auf, klopfte sich den Staub von der Hose, tippte sich zum Abschied an den Hut und versprach den Indianern, bald wiederzukommen und eine Flasche Feuerwasser, Maiskolben, einen Eimer Äpfel und richtige Zigaretten mitzubringen, denn die Indianer konnten sich nur Selbstgedrehte leisten.
Fred schaute zu Quarry auf, steckte sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen, bekam einen Hustenanfall und sagte: »Bring das nächste Mal die Filterlosen mit, die schmecken besser.«
»Mach ich, Fred.«
Quarry fuhr über zerfurchte Feldwege, sodass sein Wagen durchgeschüttelt wurde, doch er bemerkte es kaum. Das hier war sein Grund und Boden, sein Leben.
Der Weg endete.
Da stand das kleine Haus.
Genau genommen war es kein Haus, sondern eine Hütte. Hier wohnte niemand, jedenfalls noch nicht. Und selbst wenn es einmal so weit war, würde es hier niemand längere Zeit aushalten: Es war bloß ein Zimmer mit einem Dach und einer Tür.
Quarry drehte sich um die eigene Achse. Er sah nichts als Staub, Bäume und ein Stück blauen Alabamahimmel - der schönste Himmel, den er je gesehen hatte. Auf jeden Fall war er schöner als der Himmel in Südostasien, den Quarry inmitten feindlichen Abwehrfeuers durchflogen hatte, als der Vietcong ihn und seine F-4 Phantom II aus der Luft holen wollte.
Quarry ging zu der Hütte und betrat die Veranda. Er hatte die Hütte selbst gebaut. Sie stand nicht auf dem Gelände seines Anwesens, sondern ein paar Meilen entfernt auf einem kleinen Grundstück, das Quarrys Großvater vor siebzig Jahren gekauft hatte. Der alte Herr hatte allerdings nie etwas damit angefangen, denn das Grundstück lag mitten im Nirgendwo. Sein Großvater musste betrunken gewesen sein, als er diesen Flecken Dreck gekauft hatte, und er war oft betrunken gewesen. Für Quarrys Zwecke aber war das Grundstück ideal.
Die Hütte war nur sechzig Quadratmeter groß, aber das reichte. Die einzige Tür war von normaler Größe und hing an Messingscharnieren. Quarry schloss die Tür auf, ging aber nicht sofort hinein.
Er hatte die Wände fast doppelt so dick gebaut wie bei normalen Gebäuden dieser Art, doch man musste schon genau hinschauen, um es zu bemerken. Zwischen Innen- und Außenwand waren schwere Metallplatten eingelassen, was dem kleinen Gebäude eine unglaubliche Stabilität verlieh. Quarry hatte das Metall selbst eingesetzt und verschweißt. Jede Naht war ein wahres Kunstwerk. Wahrscheinlich hätte nicht einmal ein ausgewachsener Tornado die Hütte zum Einsturz bringen können.
Quarry ließ erst einmal frische Luft ins Innere, ehe er die Hütte betrat. Er hatte einmal den Fehler begangen, das nicht zu tun, und fast das Bewusstsein verloren, weil der Sauerstoffgehalt der Luft im Inneren extrem niedrig war. Es gab keine Fenster, und der Boden bestand aus dicken Holzplanken, mit Sandstrahl behandelt, sodass es nicht den winzigsten Splitter gab. Zwar gab es Fugen zwischen den Brettern, aber sie waren für das menschliche Auge kaum zu erkennen.
Der Unterbau war ebenfalls eine Besonderheit. Quarry konnte mit Fug und Recht behaupten, dass vermutlich kein Fußboden in Amerika ein Fundament besaß wie dieser. Die Innenwände waren über Weidedraht verputzt, und das Dach war so fest mit den Mauern verbunden wie der Rumpf eines Ozeanriesen mit dem Deck. Quarry hatte extrem starke Bolzen und Nieten verwendet, um jede Eigenbewegung der Hütte und sämtliche Einwirkungen von außen zu unterbinden. Das Fundament bestand aus gegossenem Beton, und es gab einen Kriechgang im Boden, knapp einen halben Meter breit.
Die Möblierung war schlicht: ein Bett, ein mit Leder gepolsterter Stuhl, ein batteriebetriebener Generator und noch ein paar andere Dinge einschließlich eines Sauerstofftanks an der Wand. Quarry stieg von der Veranda hinunter und begutachtete sein Werk. Jede Gehrung an den Außenwänden war perfekt, obwohl Quarry während des Baus häufig bei künstlichem Licht gearbeitet hatte. Es war eine anstrengende, schweißtreibende Arbeit gewesen, doch seine Gliedmaßen und sein Verstand waren von den beiden stärksten menschlichen Gefühlen angetrieben worden:
Hass.
Und Liebe.
Quarry nickte zufrieden. Er hatte gute Arbeit geleistet. Besser konnte er es nicht machen. Die Hütte wirkte unscheinbar, obwohl es sich in Wahrheit um ein ingenieurtechnisches Wunderwerk handelte. Nicht schlecht für einen Jungen aus dem tiefsten Süden, der nicht einmal aufs College gegangen war.
Quarry schaute nach Westen, wo er eine Überwachungskamera in einem Baum angebracht hatte, geschützt vor der Sonne und neugierigen Blicken. Äste und Blattwerk hatte er so zurechtgeschnitten, dass die Kamera alles sehen konnte, was sie sehen sollte. Ein in der Rinde verborgenes Kabel auf der Rückseite des Stammes führte über ein in der Erde verlegtes PVC-Rohr zu dem kleinen Haus, wo es sich gabelte und zwischen den Metallplatten durch die Wände führte.
Quarry schloss die Hütte ab und stieg in seinen Dodge. Jetzt musste er woanders hin, aber nicht mit einem Pick-up.
Quarry schaute hinauf zum makellosen Alabamahimmel. Ein schöner Tag für einen Flug.