64.
Quarry saß in der Bibliothek von Atlee und zählte das übrig gebliebene Bargeld. Vor zwei Jahren hatte er etwas getan, wovon er nie geglaubt hatte, dass er es tun würde. Er hatte Familienerbstücke an einen Antiquitätenhändler verkauft, um zu finanzieren, was er nun tat. Dabei hatte er nicht annähernd das bekommen, was die Stücke wert gewesen waren; doch er hatte nicht wählerisch sein können.
Er steckte das Bargeld weg, holte seine Schreibmaschine, zog die Handschuhe an, spannte ein Blatt Papier ein und begann den letzten Brief, den er auf dieser Maschine schreiben würde. Wie bei den anderen Briefen, hatte er auch diesmal jedes Wort durchdacht.
Nach diesem Schreiben würde es keine Kommunikation per Brief mehr geben. Fortan würde sie sehr viel direkter sein. Quarry beendete den Brief und rief Carlos herein. Der drahtige kleine Mann wohnte im Haus, während Daryl Wachdienst in der Mine schob. Quarry hatte eine Aufgabe für Carlos, und nach seinem Kampf mit Daryl hatte er beschlossen, seinen Sohn näher daheim zu behalten.
Wie Quarry ihm befohlen hatte, trug Carlos ebenfalls Handschuhe. Er würde einen der Pick-ups nehmen und nach Norden fahren, um den Brief außerhalb des Staates aufzugeben. Der Mann stellte keine Fragen; er wusste, was man von ihm erwartete. Quarry gab ihm Geld für die Reise und den versiegelten Umschlag.
Nachdem Carlos gegangen war, schloss Quarry die Bibliothekstür ab, schürte das Feuer und stieß den Schürhaken in die Flammen, bis er glühte. Dann krempelte er den Ärmel hoch und brannte sich das dritte Zeichen ein. Diese Narbe stand im rechten Winkel zu der langen, aber ein Stück links davon. Während die Haut in der Hitze verbrannte, ließ Quarry sich auf seinen alten Schreibtischstuhl sinken. Er biss sich nicht auf die Lippe, denn die war noch vom Kampf mit seinem Sohn geschwollen. Schließlich öffnete er eine Flasche Jim Beam, zuckte zusammen, als der Alkohol sich in die Wunde brannte, und beobachtete die Flammen im Kamin.
Er musste sich noch ein Zeichen in die Haut brennen. Nur noch eins.
Quarry verließ die Bibliothek, wankte die Treppe zu Tippis Zimmer hinauf, öffnete die Tür und schaute in den dunklen Raum. Tippi lag im Bett. Himmel, wo sollte sie auch sonst liegen?
Ruth Ann half Quarry inzwischen, sich um Tippi zu kümmern. Quarry dachte darüber nach, zu ihr hineinzugehen und ihr vorzulesen, aber er war müde, und sein Kiefer schmerzte.
»Wollen Sie, dass ich ihr vorlese, Mr. Sam?«
Quarry drehte sich langsam um und sah Gabriel auf dem Absatz stehen, die kleine Hand auf dem dicken Holzgeländer, das vor mehreren Jahrhunderten von einem Mann gebaut worden war, der Hunderte von Sklaven besessen hatte. Quarry nahm an, das Holz war inzwischen genauso verrottet wie der Mann, der es verbaut hatte, doch die kleine schwarze Hand darauf zu sehen, beruhigte ihn irgendwie.
»Das wäre fein«, sagte er.
»Ma hat gesagt, dass Sie gefallen sind und sich am Mund wehgetan haben.«
»Nun ja, ich werde wohl zu alt für die Landwirtschaft.«
»Möchten Sie, dass ich ihr einen bestimmten Teil vorlese?«
»Das fünfte Kapitel.«
Gabriel schaute ihn neugierig an. »Warum ausgerechnet das?«
»Keine Ahnung. Ist mir nur gerade eingefallen.«
»Glauben Sie, Tippi möchte, dass wir ihr auch andere Bücher vorlesen?«
Quarry wandte sich von Gabriel ab und schaute zu seiner Tochter. »Nein, mein Sohn, ich glaube, das eine Buch reicht vollkommen.«
»Dann hole ich's.«
Gabriel ging an ihm vorbei und schaltete die Deckenlampe ein. Die plötzliche Helligkeit schmerzte Quarry, und er wandte sich ab.
Ich bin wirklich eine Kreatur der Nacht geworden, ging es ihm durch den Kopf.
Er bemerkte nicht, dass Gabriel ihn anstarrte. »Alles in Ordnung, Mr. Sam?«, fragte er. »Möchten Sie über irgendwas reden?«
Quarry schaute ihn an, als Gabriel sich neben Tippi setzte, das wertvolle Buch von Jane Austen in der Hand.
»Es gibt viele Dinge, über die ich gerne reden würde, Gabriel, aber nichts, was dich interessiert.«
»Sie wären überrascht.«
»Wirklich?«, erwiderte Quarry.
»Das war richtig nett, was Sie getan haben«, sagte Gabriel. »Ma das hier zu hinterlassen.«
»Und dir, Gabriel. Dir auch.«
»Danke.«
»Lies jetzt. Kapitel fünf.«
Gabriel begann, und Quarry hörte eine Weile zu. Dann ging er wieder nach unten, und seine schweren Stiefel ließen die Bohlen knarren. Kurz setzte er sich auf die Terrasse und genoss die Frische der Nacht, die in diesem Teil des Südens nur allzu selten war.
Ein paar Minuten später fuhr er in seinem alten Truck rumpelnd über die Feldwege. Schließlich kam er an, hielt und stieg aus. Rasch näherte er sich seinem Ziel, blieb aber noch einmal stehen, bevor er das kleine Haus erreichte, das er gebaut hatte. Ein paar Meter entfernt hockte er sich hin.
Zweihundertfünfundzwanzig Quadratfuß Perfektion, mitten im Nirgendwo. Quarrys Beine waren müde, und so setzte er sich schließlich in den Dreck und blickte auf das Haus. Er holte eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie sich aber nicht an. Sie hing da wie ein Strohhalm. Irgendwo im Wald rief eine Eule. Quarry sah ein Flugzeug am Himmel. Vermutlich war es nach Florida oder Atlanta unterwegs. Hier landete nie eine Maschine. Hier kam nie jemand vorbei. Hier gab es ja auch nichts, was einen Stopp gerechtfertigt hätte. Das wusste Quarry. Er hob die Hand und winkte den Passagieren, auch wenn die ihn ganz bestimmt nicht sehen konnten.
Quarry stand wieder auf und ging zu der Stelle, an der er Carlos antreffen würde. Dann schaute er wieder zum Haus zurück und maß die Flugbahn ab, vermutlich zum tausendsten Mal. Natürlich hatte sich nichts verändert. Nicht einen Millimeter. Die Kamera war da oben. Die Fernbedienung, die alles auslösen würde. Das Satellitentelefon für die Verbindung zu Quarry in der Mine. Das Dynamit. Willa. Ihre echte Mutter. Daryl. Kurt, der schon tot in einem Schacht lag ...
Ruth Ann.
Gabriel.
Und schließlich Tippi.
Das war das Schwerste von allem. Tippi.
Quarry stieg die kleine Anhöhe wieder herunter und ging entschlossen zum Haus und auf die Veranda. Doch die Tür öffnete er nicht. Er saß einfach nur da, den Rücken an einen Pfosten der Veranda gelehnt und den Blick stur auf die Tür gerichtet.
Das war das Schwerste.
Quarry atmete die kalte Nachtluft ein und spie sie wieder aus. Es war, als würde seine Lunge die Frische nicht mögen. Er hustete. Allmählich bekam er den gleichen Reizhusten wie Fred.
Ein paar Sekunden lang tat Quarry das Undenkbare. Er dachte tatsächlich darüber nach, aufzuhören. Der Brief war bereits abgeschickt, aber das hieß nicht, dass er weitermachen musste. Er könnte schon morgen zur Mine fliegen, Wohl und Willa holen und sie an einem sicheren Ort absetzen, wo man sie finden würde. Dann könnte er einfach mit Tippi hierbleiben.
Quarry stieg wieder in den Wagen und fuhr nach Atlee zurück. Er verschwand in der Bibliothek, schloss die Tür hinter sich ab, ignorierte den Jim Beam und nahm sich stattdessen einen Old Grand Dad. Dann saß er an seinem Schreibtisch, starrte in den kalten Kamin und spürte die geschwollene Haut an seinem Unterarm. Plötzlich fegte er mit einer einzigen, wütenden Bewegung alles von seinem Schreibtisch herunter.
»Was mache ich hier eigentlich!«, rief er, stand da und atmete keuchend. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Er lief hinaus, stürmte die Treppe hinunter und holte den Schlüsselbund aus der Tasche. Im Keller angekommen, rannte er durch den Tunnel, schloss die Tür auf und betrat den Raum. Dann schaltete er das Licht ein und starrte die Wände an. Sein Leben. Sein Straßenplan zur Gerechtigkeit. Quarry schaute sich all die alten Namen an, die Orte, die Ereignisse und die Linien, die sie nach Jahren voller Schmerz und Leidenschaft miteinander verbanden.
Allmählich beruhigte sein Atem sich wieder. Seine Nerven hatten die Zerreißprobe bestanden. Quarry zündete sich eine Zigarette an und atmete langsam den Rauch aus. Sein Blick blieb an einem Bild von Tippi an der Wand hängen, dem Ort, wo alles begonnen hatte.
Er würde die Sache bis zum Ende durchziehen.
Quarry schaltete das Licht aus und verbannte die Wände in die Dunkelheit; aber sie hatten ihren Zweck bereits erfüllt.
Quarry schloss die Tür ab und ging wieder nach oben.
Gabriel hatte Tippi zu Ende vorgelesen und war ins Bett gegangen. Als Quarry an seinem Schlafzimmer vorbeikam, sah er kurz nach ihm, indem er die Tür einen Spalt öffnete. Er lauschte dem leisen Atmen des Jungen und sah, wie seine Brust sich unter dem Laken hob und senkte.
Gabriel war ein guter Junge, und vermutlich wurde auch ein guter Mann aus ihm. Er würde ein Leben führen, das ihn weit weg von diesem Ort brachte. Das war gut. Er gehörte nicht hierher ... im Gegensatz zu Quarry.
Jeder Mensch musste sich seinen Weg selbst wählen. Gabriel hatte diese Entscheidung noch zu treffen. Quarry hatte es bereits getan. Für ihn gab es keine Ausfahrt mehr. Er schoss mit einer Million Meilen in der Stunde auf den Abgrund zu.
Als Quarry wieder nach oben ging, um sich schlafen zu legen, schaute er auf die Uhr. Carlos würde den Brief in ein paar Stunden aufgeben. Nach ein, zwei, höchstens drei Tagen müsste der Brief sein Ziel erreicht haben. Das hatte Quarry bei seinen Instruktionen berücksichtigt.
Dann würde es geschehen. Dann würde er sprechen können. Und sie würden zuhören. Da war er sicher. Er würde es ihnen klarmachen, und dann lag die Entscheidung bei ihnen. Aber die Menschen waren bisweilen seltsam. Manchmal waren sie einfach nicht zu durchschauen.
Als Quarry sein Schlafzimmer erreichte, wurde ihm bewusst, dass er selbst ein Musterbeispiel dafür war.
Er schaltete das Licht nicht an. Er trat einfach die Stiefel von den Füßen, öffnete seine Hose und ließ sie zu Boden fallen. Dann ging er zur Couch und nahm sich seine Flasche Schmerzmittel. Er legte sich hin, stellte die Flasche beiseite und träumte von besseren Zeiten.
Das war alles, was ihm geblieben war: ein Traum.