85.

Das Land freute sich über die sichere Rückkehr von Willa Dutton. Der gleichzeitige Verlust der Mutter machte die Geschichte nur umso ergreifender. Willa war jetzt Amerikas mutige kleine Lady, doch man hatte nicht viel von ihr gesehen, denn ihre Familie schirmte sie vor den Medien ab.

Ein offensichtlich erleichtertes Präsidentenehepaar erwähnte dies ständig bei ihren Wahlkampfveranstaltungen und bat sowohl die Öffentlichkeit als auch die Medien darum, auf die Privatsphäre des trauernden Kindes Rücksicht zu nehmen.

Wenn Willa die Topstory war, kam das versuchte Attentat auf Dan Cox gleich dahinter. Die mutmaßlichen Täter waren zwar noch unbekannt, aber die Ermittlungen liefen. Während Dan Cox selbst stets nur kurz und bescheiden über den Vorfall sprach, sorgte sein Stab dafür, dass das ganze Land wusste, wie tapfer er und die First Lady gewesen waren. Sie hatten ihr Leben riskiert, um ihre geliebte Nichte zu retten und eine Verschwörung zu zerschlagen, von der die meisten Menschen glaubten, Terroristen steckten dahinter.

Dan Cox lag in den Umfragen nun so weit vorne, dass selbst die Opposition die Unmöglichkeit eingestand, die kommenden Wahlen zu gewinnen. Und Jane war noch nie so populär gewesen wie jetzt. Sie war auf den Titelseiten zahlloser Zeitschriften erschienen und in den besten Nachrichten- und Talkshows des Landes aufgetreten. Denen, die sie gut kannten, fiel dabei auf, dass sie zwar noch immer strahlend schön, wenn auch dünner war, aber auch irgendwie verändert. Das Leuchten, das sie früher in den Augen gehabt hatte, gab es nicht mehr.

Sean King und Michelle Maxwell waren ebenfalls ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit geraten, wenn auch unfreiwillig. Nachdem der Präsident und Agent Waters ihren Beitrag zur Zerschlagung der Verschwörung erwähnt hatten, waren sie mit Interviewanfragen geradezu überschüttet worden - in einem Ausmaß, dass beide an einen unbekannten Ort hatten fliehen müssen.

Sie hatten Waters kurz berichtet, was in der Mine vorgefallen war, und hatten ihm auch von Diane Wohl und Daryl und Sam Quarry erzählt. Daraufhin wurde versucht, die Mine freizulegen, doch rasch war klar geworden, dass die Beweise dort drinnen für immer verschüttet bleiben würden.

Als Waters Sean und Michelle nach Quarrys Motiv befragte, täuschten sie Unwissenheit vor.

Seans Arm und die anderen Verletzungen verheilten allmählich, und Michelle konnte inzwischen wenigstens auf die Krücken verzichten. Gabriel hatte auf wundersame Weise keine körperlichen Verletzungen davongetragen. Allerdings hatte der Verlust seiner Mutter seinen Preis von ihm gefordert.

Sean und Michelle hatten diskutiert, was mit dem Jungen nun geschehen solle.

»Wir können ihn nicht einfach in eine Pflegefamilie geben«, sagte Michelle.

»Das will ich auch nicht«, erwiderte Sean. »Ich möchte, dass er ein großartiges Zuhause mit einer großartigen Familie bekommt.«

»Ich glaube, für den Jungen wird für sehr lange Zeit nichts mehr großartig sein«, bemerkte Michelle, »egal in was für eine Familie er kommt.«

»Meinst du, wir könnten uns eine Zeit lang um ihn kümmern?«, schlug Sean schließlich vor.

»Wir? Wir leben doch in verschiedenen Wohnungen. Wir sind nicht verheiratet. Und in unserem Beruf sind wir ohnehin die Hälfte der Zeit unterwegs. Man würde uns den Jungen nie überlassen.«

»Wir könnten es wenigstens versuchen.«

Michelle dachte darüber nach, ergriff dann Seans Hand und lächelte. »Ja, das könnten wir.«

Und mit der Hilfe von FBI und Weißem Haus erhielten Sean und Michelle die vorübergehende Vormundschaft über Gabriel Macon, nachdem man festgestellt hatte, dass er keine lebenden Verwandten mehr besaß. Zwar würde es in Zukunft einige rechtliche Probleme mit dieser Regelung geben, aber Gabriel hatte zumindest vorläufig ein Heim und jemanden, der sich um ihn kümmerte.

Ein paar Tage, nachdem sie die Vormundschaft erhalten hatten, waren Sean und Michelle noch einmal nach Atlee gefahren. Den Jungen hatten sie nicht mitgenommen, denn für ihn gab es dort nichts mehr. Gabriel war in einem Stadthaus untergebracht, das Sean und Michelle vom Secret Service zur Verfügung gestellt worden war.

Das FBI war noch immer vor Ort und untersuchte die Überreste des alten Herrenhauses sowie den Ort, an dem das Präsidentenehepaar beinahe ums Leben gekommen und Tippi Quarry gestorben war.

Insgeheim bewunderten die FBI-Agenten Sam Quarry für die Genialität seines mörderischen Plans. Sean und Michelle erfuhren, dass man in der Nähe der Hütte, in der der Präsident und seine Frau fast umgekommen waren, ein Loch in der Erde gefunden hatte, eine Art Bunker. Im Innern hatte sich ein Monitor befunden sowie ein Fernglas, außerdem eine Fernsteuerung und Proviant. Aber falls jemand dort drinnen gesessen hatte, war er längst verschwunden.

Sean und Michelle vermuteten, dass es sich bei diesem Jemand entweder um Carlos Rivera oder Kurt Stevens gehandelt hatte, doch Beweise dafür gab es nicht.

»Er hat für Dan und Jane Cox eine regelrechte Gaskammer gebaut«, sagte Sean, als sie sich die kleine Hütte anschauten.

»Und er hat seine eigene Tochter in dieser Kammer getötet.«

»Das fällt wohl mehr unter Euthanasie«, erwiderte Sean. »Nach all den Jahren.«

Die wichtigste Frage blieb für das Paar jedoch ungelöst: Was sollten sie mit dem tun, was sie im Keller von Atlee herausgefunden hatten?

»Alle sind tot«, sagte Sean. »Quarry. Tippi. Ruth Ann.«

»Vielleicht sollten wir es einfach darauf beruhen lassen«, meinte Jane. »Sonst ziehen wir Gabriel und Willa wieder mit hinein.«

»Und wir stellen das Land auf eine Zerreißprobe«, fügte Sean hinzu.

»Dann kommt Cox damit durch.«

»Ich weiß. Aber vielleicht ist das besser als die Alternative.«

Sie fuhren wieder zur Ruine von Atlee zurück. Einer der SWAT-Leute, die das Gelände sicherten, trat auf sie zu.

»Ich habe in der Zeitung über Sie gelesen«, sagte er. »Ich wollte Ihnen danken, was Sie für den Präsidenten getan haben.«

»Kein Problem«, erwiderte Sean nicht gerade enthusiastisch, während Michelle schwieg. Beide sahen den Präsidenten der Vereinigten Staaten in einem völlig anderen Licht als der SWAT-Mann, auch wenn sie beschlossen hatten, nichts deswegen zu unternehmen.

Der Mann nickte in Richtung der Ruine. »Als ich das letzte Mal hier war, sah es noch ganz anders aus.«

»Sie waren hier, als das Haus noch stand?«, fragte Michelle.

Der Mann nickte. »Ich bin an dem Tag mit der First Lady im Hubschrauber geflogen. Sie hat uns hier landen lassen. Sie sagte, sie fühle sich nicht gut. Sie ist reingegangen und hat sich mit irgendeiner schwarzen Frau getroffen. Ich glaube, es war die Haushälterin. Sie haben ein bisschen miteinander geredet, und dann ist die First Lady hinunter in den Keller gegangen. Sie hat darauf bestanden. Sie durfte als Einzige rein. Als sie wieder herauskam, sind wir so schnell wie möglich nach Hause zurück.«

Sean und Michelle starrten zu den Trümmern hinüber.

Und dann ist Atlee abgebrannt.