26.
Jane Cox blickte aus dem Wohnzimmerfenster der Präsidentenwohnung. 1600 Pennsylvania Avenue lag genau im Zentrum der Hauptstadt. Dennoch hätte das Haus für jene, die hier lebten, genauso gut in einem anderen Sonnensystem liegen können. Außer den anderen Familien, die in diesem Haus gewohnt hatten, konnte niemand verstehen, was es bedeutete, sein Leben an die Präsidentschaft zu binden. Und selbst für diese Leute hatten die Zeiten sich geändert. So hatte Harry Truman vor gar nicht allzu vielen Jahren noch ohne Schutz durch die Stadt spazieren können. Heutzutage war das undenkbar. Außerdem hatten die Pressegeier damals noch nicht mit Argusaugen auf jede noch so kleine Chance gelauert.
Jane konnte nachvollziehen, warum einige First Ladys alkoholkrank oder depressiv geworden waren. Sie hatte sich bis jetzt von allem ferngehalten, abgesehen von dem ein oder anderen Glas Wein oder Bier im Wahlkampf. Ihre Drogenerfahrung beschränkte sich auf Marihuana während des Studiums und eine einzige Prise Kokain unmittelbar nach dem Examen bei einem Karibikurlaub. Damals hatte das Gott sei Dank niemanden interessiert, und auch später war es nicht wieder ausgegraben worden, als sie von einer emanzipierten Studentin zur »First Verlobten« geworden war.
Jane rief Pam Duttons Schwester an, sprach mit John und Colleen und tat ihr Bestes, die Kinder zu beruhigen. Sie fühlte die Angst der beiden und wünschte sich, sie könnte ihnen mehr sagen als nur, dass sie für Willa hoffe und bete. Danach rief sie bei ihrem Bruder an, der noch immer zur Beobachtung im Krankenhaus lag; allerdings hofften die Ärzte, er könne bald entlassen werden. Die beiden Kinder hatten ihn besucht.
Jane ließ sich von den Angestellten das Abendessen bringen und aß allein. Sie hatte mehrere Einladungen zum Essen für diesen Abend bekommen, aber alle abgelehnt. Die meisten dieser Einladungen stammten von Leuten, die nur ihren eigenen Status aufbessern wollten, indem sie mit der First Lady das Brot brachen. Außerdem ließen sich mit einem gemeinsamen Foto später ganz hervorragend die Enkel langweilen. Jane wollte lieber allein sein ... na ja, so allein, wie es in einem Haus mit mehr als neunzig Angestellten und ungezählten Sicherheitsbeamten möglich war.
Jane beschloss, einen Spaziergang zu machen, natürlich begleitet von Beratern und Männern des Secret Service. Für eine Weile setzte sie sich in den Children's Garden, ein schattiges Fleckchen, entworfen von Lady Bird Johnson. Jane liebte es, sich die in Bronze gegossenen Hand- und Fußabdrücke von Präsidentenenkeln anzusehen, die den Fußweg bildeten. Sie hoffte, ihre Kinder würden ihr und Dan einst auch ein paar Enkel schenken.
Später ging sie an den Tulpenbeeten im Rose Garden vorbei, wo im Frühling Tausende von Pflanzen blühten und den Boden in sämtlichen Farben leuchten ließen. Als Nächstes machte sie sich auf den Weg zum Solarium, das auf Anregung von Grace Coolidge in einer Dachkammer eingebaut worden war. Es war der am wenigsten formelle Raum im ganzen Haus; außerdem hatte man von dort die beste Aussicht - jedenfalls Janes Meinung nach. Die First Ladys waren stets an vorderster Front gewesen, wenn es darum ging, das Weiße Haus für zukünftige Präsidenten und ihre Familien zu verbessern und ihre eigene Handschrift zu hinterlassen. Auch Jane hatte in den letzten drei Jahren in dieser Hinsicht einiges getan, doch es war nichts im Vergleich zu dem, was auf Jackie Kennedy zurückzuführen war.
Jane kehrte wieder in die Präsidentenwohnung zurück und erinnerte sich an ihren ersten Tag hier, vor drei Jahren. Die alte First Family war um zehn Uhr morgens ausgezogen, und die Cox waren um vier Uhr nachmittags gekommen. Es war wie eine ganz normale Wohnungsübergabe gewesen ... fast. Als sie zur Tür hereingekommen waren, hingen ihre Kleider bereits im Schrank und die Bilder an der Wand. Ihre Lieblingssnacks lagen im Kühlschrank, und im Badezimmer standen ihre persönlichen Toilettenartikel. Jane wusste noch immer nicht, wie die Angestellten das in nur sechs Stunden geschafft hatten.
Später nippte Jane an ihrem Kaffee und dachte über ihre Diskussion mit Sean King nach. Sie konnte sich auf ihn verlassen. Er war ihr immer ein Freund gewesen, und er hatte die politische Karriere ihres Mannes gerettet. Sie wusste, dass King im Augenblick sauer auf sie war, aber das würde vorbeigehen. Sie selbst ärgerte sich mehr über ihren Bruder. Fast ihr Leben lang hatte sie sich um ihn gekümmert, vor allem, weil ihre Mutter gestorben war, als Jane elf Jahre alt gewesen war; Tuck war fünf Jahre jünger. Manche würden sagen, sie hatte ihn verhätschelt. Jetzt musste Jane sich der Tatsache stellen, dass ihr Beschützerinstinkt mehr geschadet als genutzt hatte. Dennoch konnte sie ihm nicht einfach den Rücken zukehren.
Jane ging wieder zum Fenster und beobachtete die Passanten vor dem Weißen Haus. Ihrem Haus. Wenigstens für die nächsten vier Jahre, wenn man den Umfragen Glauben schenkte. Doch die endgültige Entscheidung darüber trafen einhundertdreißig Millionen Amerikaner.
Als Jane die Wange an das kugelsichere Glas drückte, richteten sich all ihre Gedanken auf Willa. Das Kind war irgendwo da draußen mit Leuten, die seine Mutter ermordet hatten. Und diese Leute wollten irgendetwas, doch Jane wusste nicht was.
Jane Cox bereitete sich innerlich bereits auf die Möglichkeit vor, dass Willa vielleicht nie wieder in ihr Leben zurückkehren würde, dass sie vielleicht längst tot war. Jane hatte sich antrainiert, ihre Gefühle nie zu zeigen, jedenfalls nicht öffentlich, es sei denn, die politischen Umstände verlangten es. Aber sie war nicht kalt. Nur hatte eine übermäßige Zurschaustellung von Wut, Frivolität oder auch zu auffälliges Heucheln von Ernst schon so manche politische Karriere vor die Wand gefahren. Niemand wollte, dass unmoralische, launische Finger die Abschusscodes von Nuklearwaffen hielten, und die Öffentlichkeit mochte es auch nicht, wenn die Frau eines solchen Mannes nicht ganz dicht im Oberstübchen war.
Also hatte Jane Cox sich seit zwanzig Jahren jedes Wort genau überlegt, jede Bewegung vorher durchdacht und sich jedes körperliche, spirituelle und emotionale Handeln im Vorfeld eingehend überlegt. Und dafür musste sie nicht viel tun ... außer ihre Menschlichkeit aufgeben.
Der Terminplan, den man ihr heute Abend gegeben hatte, enthielt ein Zehnminutenfenster, um ihren Mann anzurufen, der sich auf einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania befand. Jane rief an und sagte das Übliche. Sie gratulierte ihm zu den letzten Umfrageergebnissen und seinen Fernsehauftritten, bei denen er ja so gut ausgesehen hatte.
»Alles in Ordnung mit dir, Liebling?«, fragte Cox.
»Alles in Ordnung ... außer Willa«, erwiderte Jane ein wenig emotionaler, als sie beabsichtigt hatte.
Die politischen Fähigkeiten ihres Mannes galten als ausgesprochen gut, selbst bei seinen Konkurrenten. Bei seiner Frau jedoch schien Dan Cox nie dieses Maß an Wahrnehmungsfähigkeit erlangt zu haben.
»Natürlich«, sagte er. Im Hintergrund waren Gespräche zu hören. »Wir tun, was wir können. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Jane.«
»Ich weiß.«
»Ich liebe dich«, sagte er.
»Ich weiß. Viel Glück heute Abend.« Jane legte auf. Ihr Zeitfenster war aufgebraucht.
Eine halbe Stunde später schaltete Jane CNN an. In einem Wahljahr schaltete sie prinzipiell keine politischen Sendungen ein, es sei denn, ihr Mann trat irgendwo auf. Die zweite Garde war gerade fertig, und die fünfundsiebzigtausend Menschen warteten auf den Mann, den zu sehen sie gekommen waren.
Begleitet von einem lauten, schnellen Song betrat Präsident Daniel Cox die Bühne. Jane erinnerte sich noch an Zeiten, als politische Veranstaltungen nicht wie Rockkonzerte aufgezogen worden waren; es hatte keine Anheizer gegeben, keine ohrenbetäubende Musik und keine lächerlichen Slogans aus der Menge. Früher war alles würdevoller und vielleicht auch realer gewesen. Nein, nicht vielleicht: Es war realer gewesen, echter. Heute war alles nur noch Show. Aufs Stichwort wurde ein Feuerwerk abgebrannt, als Janes Mann ans Rednerpult trat und den Blick auf die unsichtbaren Teleprompter richtete. Ja, auch das war früher anders gewesen, erinnerte sich Jane. Früher hatten Politiker tatsächlich frei gesprochen oder höchstens mal einen Blick auf ihre Notizen geworfen. Jane hatte mal gelesen, dass manche Politiker zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs und des Bürgerkriegs in der Lage gewesen waren, sich mehrere hundert Seiten lange Reden zu merken und fehlerfrei wiederzugeben.
Jane wusste, dass kein heutiger Politiker - ihr Mann eingeschlossen - eine solche Leistung vollbringen konnte. Andererseits war ein Versprecher zu Lincolns Zeiten im Gegensatz zu heute ja auch nicht binnen Sekunden auf der ganzen Welt verbreitet worden. Dennoch sehnte sich ein Teil von Jane nach diesen alten Zeiten, während sie zuschaute, wie ihr Mann vom Teleprompter ablas, mit den Fäusten aufs Rednerpult schlug und im Hintergrund, für die Kameras unsichtbar, Schilder den Teilnehmern der Veranstaltung sagten, wann sie zu applaudieren und zu jubeln hatten. Ja, die gute alte Zeit ... Früher hatten auch sie einmal selbstgemachte Sticker und Flugblätter verteilt, und ihr Mann hatte sich unter die Leute gemischt, aus dem Herzen gesprochen und sie persönlich darum gebeten, ihn zu wählen.
Heutzutage war es mehr, als setze sich ein ganzer Kleinstaat in Bewegung, wann immer der Präsident auf eine Veranstaltung ging. Man brauchte fast tausend Leute, mehrere Frachtflugzeuge und genug Fernmeldetechnik, um ein eigenes Telekommunikationsunternehmen aufzubauen, um es Janes Mann zu erlauben, in jedem Hotelzimmer der Welt auf das amerikanische Telefonnetz zuzugreifen. Die Führer der freien Welt konnten nicht spontan sein. Leider galt das auch für ihre Lebenspartner.
Jane schaute Dan weiterhin zu. Er sah gut aus, und das schadete keiner Karriere, auch keiner politischen. Dan wusste, wie er mit seinen Zuhörern umgehen musste. Er hatte einfach diese Art; die hatte er schon immer gehabt. Dan konnte einen gemeinsamen Nenner mit Millionären und Fabrikarbeitern finden, mit Schwarz und Weiß, mit den Klugen und den Dummen. Deshalb war er ja so weit gekommen. Die Menschen liebten ihn. Und sie glaubten, dass er sich wirklich um sie kümmere. Und das tat er auch; Jane glaubte das ebenfalls. Und ohne die bedingungslose Hingabe seiner besseren Hälfte hatte es noch kein Mann bis zum Präsidenten gebracht.
Jane hörte zu, wie Dan seine typische Siebenundzwanzig-Minuten-Jubelrede ablieferte. Heute Abend ging es um Wirtschaft, um Jobs und um die Zukunft der Stahl- und Kohleindustrie, denn Pennsylvania war ein Schlüsselstaat. Jane ertappte sich dabei, wie sie die Worte der Rede mitsprach. Genau wie er legte sie dabei rhetorische Pausen von ein, zwei, drei Sekunden ein, gefolgt von einem Slogan oder einem Scherz, den sich irgendein Redenschreiber von den Eliteuniversitäten des Ostens ausgedacht hatte.
Jane zog sich aus und schlüpfte ins Bett. Noch bevor sie das Licht ausknipste, fühlte sie, wie die Dunkelheit sich um sie schloss.
Am nächsten Morgen würde ein Zimmermädchen die Kissen der First Lady feucht von Tränen finden.