2.
Sean schaute während der Fahrt zu Michelle hinüber. Es war ein kurzer, abschätzender Blick. Falls Michelle ihn bemerkt hatte, sagte sie nichts. Stattdessen blickte sie stur nach vorn.
»Wann hast du die Frau kennengelernt?«, fragte sie.
»Als ich noch als Bodyguard gearbeitet habe. Wir sind in Verbindung geblieben. Eine nette Familie.«
»Hm«, machte Michelle und schaute weiter nach vorn.
»Warst du in letzter Zeit mal bei Horatio?«
Michelle verstärkte den Griff um den Kaffeebecher. »Warum bist du mir zu seiner Praxis gefolgt?«
»Weil ich wusste, was du vorhast.«
»Und was?«
»Du bist eingebrochen, um herauszufinden, was du ihm unter Hypnose erzählt hast.«
Michelle schwieg.
»Hast du es herausgefunden?«, hakte Sean nach.
»Es ist schon ziemlich spät, um jemanden zu Hause zu besuchen.«
»Weiche mir nicht aus, Michelle. Wir müssen darüber reden.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte sie.
»Du meine auch nicht.«
»Sag schon: Warum fahren wir so spät zu diesem Haus?«
»Vielleicht geht es um einen Auftrag, den wir übernehmen sollen.«
»Deine nette Familie braucht einen Privatdetektiv?«
Sean nickte. »Und sie wollte nicht warten.«
Sie bogen von der kurvenreichen Landstraße in eine lange, von Bäumen gesäumte Auffahrt ein. Kurz darauf erschien eine Villa im Kolonialstil vor ihnen.
»Nicht übel«, bemerkte Michelle. »Dein Freund scheint ja ganz gut zurechtzukommen.«
»Regierungsaufträge. Offenbar gibt der Staat das Geld mit vollen Händen aus.«
»Da wäre ich nie drauf gekommen«, sagte Michelle. »Seltsam, das Haus ist dunkel. Hast du dich in der Uhrzeit geirrt?«
»Bestimmt nicht.« Sean hielt vor dem Haupteingang.
Michelle stellte den Kaffeebecher ab und zog ihre Pistole aus dem Gürtelholster. »Da hat eine Frau geschrien!«
»Warte.« Rasch legte Sean ihr eine Hand auf den Arm. Als Augenblicke später im Inneren des Hauses ein Krachen zu hören war, griff er ins Handschuhfach nach seiner eigenen Pistole. »Verdammt, du hast recht. Sehen wir nach, bevor wir die Cops rufen.«
»Geh du hintenrum, ich nehme die Vorderseite«, sagte Michelle.
Sean nickte, stieg aus und rannte zur Rückseite der Villa. Michelle ließ den Blick in die Runde schweifen. Es waren keine Fahrzeuge zu sehen. Sie huschte zum Vordereingang. Die Schreie und das Krachen waren inzwischen verstummt. Michelle hätte rufen und sich erkundigen können, ob alles in Ordnung sei, hätte damit aber Einbrecher gewarnt, die sich möglicherweise im Haus aufhielten.
Die Vordertür war abgeschlossen. Kaum hatte Michelle die Hand vom Türknauf genommen, krachte es. Die Kugel durchschlug das dicke Holz. Splitter wirbelten durch die Luft. Michelle spürte das Geschoss, als es an ihr vorbeizischte, bevor es in Seans Wagen einschlug.
Sie sprang von der Veranda, rollte sich ab und rannte los. Dabei riss sie das Handy aus der Tasche und wählte die 911. Sofort hob jemand ab. Sie wollte gerade etwas sagen, als das Garagentor aufflog und ein Geländewagen auf sie zuraste. Sie sprang zur Seite, schoss erst auf die Reifen, dann auf die Windschutzscheibe. Das Mobiltelefon flog ihr aus der Hand, als sie sich zu Boden warf und eine Böschung hinunterrollte. Sie landete in einem Haufen Laub und Dreck, sprang auf und blickte nach oben. Der Wagen hatte angehalten, der Beifahrer war ausgestiegen.
Michelle feuerte.
Die Kugel traf den Mann in die Brust, doch das Hartmantelgeschoss schaltete ihn nicht aus. Stattdessen taumelte er zurück, als seine kugelsichere Panzerung die Kugel auffing. Als er sicheren Stand gefunden hatte, hob er seine eigene Waffe.
Michelle warf sich hinter den dicken Stamm einer Eiche, ehe die MP5 des Mannes losratterte. Ein Dutzend Kugeln schlugen in den Baum und rissen die Rinde ab. Eichensplitter wirbelten durch die Luft.
Michelle konnte sich keinen Augenblick Pause erlauben, denn ein geübter Schütze brauchte nur Sekunden, um das Magazin einer Maschinenpistole zu wechseln. Sie sprang aus ihrer Deckung, beide Hände um den Griff der Waffe gelegt. Diesmal würde sie auf den Kopf des Mannes zielen.
Aber da war niemand mehr, auf den sie hätte zielen können.
Der Mann war verschwunden.
Vorsichtig stieg Michelle die Böschung hinauf, die Pistole im Anschlag. Doch als sie hörte, wie der Motor des Pick-ups ansprang, war es mit der Vorsicht vorbei. Sie kletterte weiter, so schnell sie konnte. Als sie die Auffahrt erreichte, war der Wagen bereits verschwunden.
Michelle rannte zu Seans Auto. Sie wollte dem Flüchtigen hinterher, sah dann aber Rauch unter der Motorhaube hervorquellen. Ihr Blick fiel auf die Einschusslöcher im Blech der Karosserie. Mit diesem Wagen würden sie und Sean nirgendwohin fahren.
»Sean?«, rief sie. »Sean!«
»Hier drin!«
Michelle eilte die Treppe hinauf, über die Splitter der Tür hinweg, stürmte ins Wohnzimmer und schwenkte dabei die Waffe in einem weiten Bogen.
Sean kniete auf dem Boden neben einer Frau. Sie lag auf dem Rücken, Arme und Beine vom Körper abgespreizt. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber starr und leer. Das rote Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Was die Frau getötet hatte, war auf den ersten Blick zu sehen: Ihre Kehle war zerfetzt.
»Mein Gott«, sagte Michelle. »Wer ist das?«
»Pam Dutton. Die Frau, mit der wir uns treffen wollten.«
Michelle sah Buchstaben auf den nackten Armen der Toten. »Was hat das zu bedeuten?«
»Keine Ahnung.« Sean beugte sich näher an die Tote heran. »Sieht aus, als wären die Buchstaben mit einem schwarzen Marker geschrieben.«
»Ist sonst noch jemand im Haus?«
»Finden wir's raus.«
»Wir dürfen den Tatort nicht kontaminieren, ehe die Spurensicherung hier ist.«
»Wir dürfen aber auch niemanden sterben lassen, den wir retten können«, konterte Sean.
Die Durchsuchung des Hauses dauerte nur ein paar Minuten. Im Obergeschoss gab es vier Schlafzimmer, zwei auf jeder Seite des Flurs. Im ersten Schlafzimmer entdeckten sie ein kleines Mädchen. Es war bewusstlos, hatte aber keine erkennbaren äußeren Verletzungen. Ihre Atmung war stabil, der Puls schwach, aber regelmäßig.
»Das ist Colleen Dutton«, sagte Sean.
»Wurde sie unter Drogen gesetzt?«
Sean hob das Augenlid des Kindes. Die Pupille war stark vergrößert. »Sieht so aus.«
Im zweiten Schlafzimmer lag ein kleiner Junge; er war im gleichen Zustand wie das Mädchen.
»John Dutton«, sagte Sean und überprüfte auch hier die Pupillen. »Ebenfalls betäubt.«
Das dritte Schlafzimmer war leer.
Das vierte Schlafzimmer war das größte. Und es war nicht leer.
Der Mann lag auf dem Boden. Er trug Hose und T-Shirt und war barfuß. Eine Seite seines Gesichts war blau und geschwollen.
»Das ist Tuck Dutton, Pams Mann.« Sean fühlte den Puls des Bewusstlosen. »Er atmet regelmäßig. Offenbar hat er einen ziemlichen Schlag abbekommen.«
»Wir sollten die Cops anrufen.« Michelle nahm das Telefon vom Nachttisch. »Mist! Die Leitung ist tot. Sie müssen die Kabel durchgeschnitten haben.«
»Versuch es über dein Handy.«
»Das habe ich verloren, als die Kerle mich überfahren wollten.«
»Was für Kerle?«
»Ein Fahrer und ein Typ mit einer Maschinenpistole. Hast du niemanden gesehen, als du reingekommen bist?«
Sean schüttelte den Kopf. »Als ich die Schüsse gehört habe, bin ich direkt durch die Hintertür ins Haus. Aber ich habe ein Krachen gehört.«
»Da sind die Kerle mit dem Wagen durchs Garagentor gebrochen«, sagte Michelle.
»Pam tot, Tuck niedergeschlagen, John und Colleen mit Drogen betäubt ...«, murmelte Sean.
»Du hast mir doch gesagt, sie hätten drei Kinder.«
»Haben sie auch. Willa ist anscheinend verschwunden. Das leere Schlafzimmer ist ihres.«
»Ob sie in dem Pick-up entführt wurde?«
»Was für ein Modell war es?«
»Ein Tundra, viertürig, dunkelblau. Ein Fahrer und der Schütze saßen darin.«
»Hast du sie gut genug gesehen, dass du sie identifizieren könntest?«
»Nein, aber einer trug eine kugelsichere Weste. Sie hat das Hartmantelgeschoss aus meiner Waffe aufgehalten. Außerdem hatte der Kerl eine schwarze Skimaske auf.«
Sean wählte 911 auf seinem Handy, gab die Informationen weiter, schob das Handy zurück in die Tasche und schaute sich um.
»Was ist das da?«, fragte er und zeigte auf den Schrank.
Michelle ging durchs Zimmer und besah sich das Gepäckstück, das aus dem Schrank hervorlugte. »Eine Reisetasche, halb offen.« Sie bückte sich. »Hier ist ein Anhänger ... United Airlines, Flug 567 nach Dulles. Das Datum ist heute.« Sie holte einen Waschlappen aus dem Bad, um den Reißverschluss zu öffnen, ohne mögliche Fingerabdrücke zu verwischen. Dann schaute sie in die Tasche. »Männerkleidung. Vermutlich gehört die Tasche Tuck.«
Sean blickte auf die nackten Füße und das T-Shirt des bewusstlosen Mannes. »Er kommt nach Hause, begrüßt Pam, geht rauf, um seine Tasche abzustellen, zieht sich um und kriegt eins über den Schädel.«
»Da ist noch etwas. Der Tundra, der aus der Garage kam ... Entweder gehörte der Wagen den Duttons, oder die Typen haben ihn in der Garage abgestellt.«
»Vielleicht, damit niemand sieht, wie sie Willa in den Wagen laden.«
»Hier draußen? Um diese Zeit? Warum sollten sie sich solche Umstände machen? Man kann von hier aus nicht einmal das Nachbarhaus sehen. Ich weiß gar nicht, ob es hier überhaupt Nachbarn gibt.«
»Warum haben sie ausgerechnet Willa mitgenommen und keines der anderen Kinder?«
»Gute Frage. Und warum bringen sie die Mutter um und lassen alle anderen am Leben?«
Sean und Michelle stiegen nach unten. Sean ging durch die Küche in die Garage, die Platz für drei Fahrzeuge bot. Auf einem Stellplatz stand eine Mercedes-Limousine, auf einem anderen ein Chrysler-Minivan. Der dritte Stellplatz war leer.
»Da hat wahrscheinlich der Pick-up gestanden«, sagte Michelle. »Weißt du, ob die Duttons einen blauen Tundra hatten?«
»Nein. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Wagen ihnen gehörte, weil der Stellplatz frei ist. Die meisten Garagen sind mit Gerümpel vollgepackt. Dass hier alle drei Stellplätze frei sind bedeutet, dass die Duttons drei Fahrzeuge hatten, sonst hätten sie den freien Platz garantiert als Lagerraum genutzt.« Sean legte die Hand auf die Motorhaube des Mercedes. »Ist noch warm.«
Michelle strich mit den Fingern über die Reifen. »Und die sind feucht. Heute Abend hat es leicht geregnet. Tuck muss mit dem Wagen vom Flughafen gekommen sein.«
Sie kehrten ins Wohnzimmer und zur toten Pam Dutton zurück. Mit dem Ellbogen schaltete Sean das Licht an, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Dann zückte er seinen Notizblock und notierte die Buchstaben, die auf dem Arm der Toten standen.
Michelle bückte sich und untersuchte Pams Hände. »Sie hat Blutspuren und Haut unter den Fingernägeln. Wahrscheinlich hat sie sich gewehrt.«
»Ist mir auch schon aufgefallen. Hoffen wir, dass man in der DNA-Datenbank fündig wird.«
»Müsste da nicht mehr Blut sein?«, fragte Michelle.
Sean schaute sich die Leiche genauer an. »Du hast recht. Der Teppich müsste voller Blut sein. Wie es aussieht, haben sie ihr die Halsschlagader durchgeschnitten. Sie muss binnen kürzester Zeit ausgeblutet sein.«
Michelle wies auf ein Plastikstück, das unter dem Ellbogen der Toten hervorragte. »Ist es das, was ich glaube?«
Sean nickte. »Eine leere Spritze.« Er schaute zu seiner Partnerin. »Haben die Täter ihr Blut mitgenommen?«