31.

Michelle starrte auf die Leiche ihrer Mutter. Die Autopsie war beendet, und auch wenn noch ein paar Untersuchungsergebnisse ausstanden, war jetzt bereits klar, dass Sally Maxwell keines natürlichen Todes gestorben war. Sie war durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden.

Michelle hatte mit dem leitenden Gerichtsmediziner gesprochen. Da ihr Bruder Sergeant bei der hiesigen Polizei war, hatte sie Zugang zu Stellen bekommen, die ihr ansonsten verschlossen geblieben wären. Die Familien von Mordopfern erhielten üblicherweise nur offizielle Beileidsbekundungen und ein bisschen Zeit allein mit ihren Toten, aber keine Fakten. Der Grund dafür war so einfach wie beunruhigend: Häufig fanden Morde innerhalb der Familie statt.

Der Pathologe hatte sich knapp ausgedrückt, doch seine Aussage war unmissverständlich gewesen. »Ihre Mutter ist nicht gestürzt und hat sich den Kopf aufgeschlagen. Dafür war die Wunde zu tief. Der glatte Betonboden hätte eine solche Verletzung nicht hervorrufen können, und am Türgriff oder dem Treppengeländer fanden sich keine Spuren. Außerdem hätten die Kanten auch nicht zum Wundprofil gepasst.«

»Was genau war das denn für ein Profil?«

»Ich sollte eigentlich nicht mit Ihnen darüber reden«, erwiderte der Arzt gereizt.

»Bitte. Es geht um meine Mom. Ich bin dankbar für jede Hilfe, die Sie mir geben können.« Das Flehen schien den Mann zu rühren.

»Es war ein ungewöhnliches Profil. Ungefähr zehn Zentimeter lang und einen Zentimeter breit. Müsste ich raten, würde ich auf Metall tippen. Aber es war von der Form her wirklich seltsam.«

»Also wurde sie eindeutig umgebracht.«

Der Pathologe schaute Michelle durch seine Brille hindurch an. »Ich mache das jetzt schon seit dreißig Jahren, aber ich habe noch niemanden gesehen, der sich selbst durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand tötet und die Waffe nach seinem Tod dann so gut versteckt, dass die Polizei sie nicht mehr finden kann.«

Anschließend war die Leiche von Michelles Mutter freigegeben und an ein Bestattungsinstitut überstellt worden. Michelle war noch einmal hergekommen, um ihre Mutter zu sehen, bevor sie für die Beerdigung zurechtgemacht wurde. Eine Decke verhüllte sie bis zum Hals; deshalb war zum Glück der y-förmige Schnitt nicht zu sehen, den der Gerichtsmediziner vorgenommen hatte.

Michelles Brüder hatten sie nicht begleiten wollen. Als Polizisten wussten sie, dass eine Leiche nach der Autopsie wie die andere aussah, besonders, wenn der Tod bereits achtundvierzig Stunden zurücklag. Die Phrase »Schönheit geht nicht tiefer als die Haut« war nirgends passender als hier. Nein, Michelles »harte« Brüder wollten warten, bis der Körper künstlich aufgefrischt, geschminkt, elegant gekleidet und in einem Dreitausend-Dollar-Sarg aufgebahrt war.

Michelle wollte sich aber nicht so an ihre Mutter erinnern; deshalb war sie hier. Sie musste sehen, welche Gewalt der Frau angetan worden war, die ihr vor über dreißig Jahren das Leben geschenkt hatte. Michelle war versucht, den Kopf der Toten zu drehen, um sich die Wunde selbst anzusehen, widerstand aber diesem Verlangen. Es wäre despektierlich gewesen. Und wenn der Pathologe die Tatwaffe schon nicht bestimmen konnte, dann konnte Michelle es erst recht nicht.

Sie stellte sich die letzten Augenblicke im Leben ihrer Mutter vor. Hatte sie ihren Mörder gesehen? Hatte sie ihn gekannt? Hatte sie gewusst, warum sie ermordet worden war? Hatte sie Schmerzen gelitten?

Und die letzte, furchtbarste Frage:

Hat Dad sie ermordet?

Michelle nahm die Hand ihrer Mutter und streichelte sie. Sie sagte Dinge zu der toten Frau, die sie nie über die Lippen gebracht hatte, als sie noch am Leben gewesen war. Michelle fühlte sich leerer denn je, und in letzter Zeit waren ihre Depressionen schon schlimm genug gewesen.

Fünf Minuten später war sie wieder an der frischen Luft und atmete tief durch. Die Nachhausefahrt ging in Erinnerungen an ihre Mutter unter. Als Michelle schließlich in der Einfahrt ihres Hauses parkte, blieb sie noch eine Zeitlang im Auto sitzen und rang um Fassung.

Ihr Vater hatte Abendessen gemacht. Michelle setzte sich zu ihm. Ihre Brüder waren gemeinsam ausgegangen - vermutlich so ein Männerding, nahm Michelle an - und gaben ihrer kleinen Schwester auf diese Weise ein wenig Zeit allein mit ihrem alten Herrn.

»Die Suppe schmeckt gut«, bemerkte Michelle.

Frank löffelte sich ein wenig Hühnerbrühe in den Mund. »Die habe ich selbst gemacht. Im Laufe der Jahre habe ich immer häufiger gekocht.« Dann fügte er ein wenig verbittert hinzu: »Aber das kannst du ja nicht wissen. Du warst ja nicht hier.«

Michelle lehnte sich zurück, brach sich ein Stück Brot ab und kaute darauf, während sie sich fragte, was sie erwidern sollte. In gewisser Weise konnte sie nichts darauf erwidern: Sie war nicht hier gewesen. Auf der anderen Seite fragte sie sich, warum Dad ihr ausgerechnet jetzt Schuldgefühle bereiten wollte.

»Hatte Mom auch genug Beschäftigung?«

»Sie hatte ihre Freundinnen. Deine Mutter war schon immer sozialer als ich. Ich nehme an, das lag am Job. Ich musste stets eine gewisse Distanz wahren. Sie hatte nie dieses Problem.«

Und sie war nicht so verbittert.

»Man weiß nie, ob ein Kumpel nicht plötzlich gegen das Gesetz verstößt.« Kaum hatte Michelle ausgesprochen, wünschte sie sich, diese Worte nie gesagt zu haben.

Frank ließ sich Zeit, bevor er erwiderte: »Ja, so was in der Art.«

»Gab es da jemand Besonderen? Freunde, meine ich.«

»Freundinnen. Rhonda, Nancy, Emily, Donna.«

»Was haben sie denn so gemacht?«

»Karten spielen, Shoppen, Golf, Essen gehen, ein Schwätzchen halten ... was Rentnerinnen eben so machen.«

»Und du hast dich ihnen nie angeschlossen?«

»Manchmal. Aber es war nun mal eine Frauenrunde.«

»Zu wem wollte Mom an jenem Abend?«

Wieder ließ Frank sich länger Zeit, bevor er antwortete. Wäre Michelle eine Spielerin gewesen, sie hätte darauf gewettet, dass ihr Vater ihr eine Lüge auftischte.

»Zu Donna ... glaube ich. Sie hat irgendwas von Abendessen gesagt. Sicher bin ich mir aber nicht. Das war so im Vorbeigehen.«

»Wie heißt Donna mit Nachnamen?« Diesmal zögerte Frank nicht. »Warum?«

»Warum was?«

»Warum willst du Donnas Nachnamen wissen?«

»Jemand hat sie angerufen und ihr gesagt, Mom habe es nicht geschafft, weil sie tot ist.«

»Nicht in diesem Ton, Kleine!«

»Ich bin seit zwanzig Jahren keine Kleine mehr, Dad.«

Frank legte den Löffel weg. »Ich habe sie angerufen, okay? So groß ist die Stadt auch nicht. Sie hatte es bereits gehört.«

»Dann wollte Mom also wirklich zu Donna?«

Einen Augenblick lang schaute Frank seine Tochter verwirrt an. »Was? Ja ... Ja, ich glaub schon.«

Michelle spürte einen schrecklichen Schmerz in der Brust. Sie stand auf, murmelte irgendeine dumme Entschuldigung und verließ das Haus. Draußen rief sie den einzigen Menschen an, dem sie je wirklich vertraut hatte.

Sean King war gerade eben in Washington gelandet.

»Ich brauche dich«, sagte Michelle, nachdem sie Sean informiert hatte, was passiert war.

Sean suchte sich einen Flug nach Nashville.