43.

Die Air Force One landete auf der Andrews Air Force Base, und die Piloten kehrten den Schub der vier Triebwerke um. Der Präsident saß im vorderen Teil des Flugzeugs in seiner Suite mit den beiden Betten. Unmittelbar nach der Landung flog er mit Marine One in der üblichen Hubschrauberformation weiter. Kurz nach Mitternacht würde der Helikopter mit dem Präsidenten auf dem Rasen des Weißen Hauses landen.

Dan Cox sprang die Einstiegsleiter hinunter. Er war voller Energie, als wollte er den Tag beginnen und nicht beenden. Das war typisch für ihn, zumal im Wahlkampf. Mit seiner Leidenschaft raubte er weit jüngeren Ratgebern den Atem, die sich einen Kaffee nach dem anderen hineinschütten mussten, um mit Cox Schritt halten zu können. Im Wahlkampf schien der Präsident so viel Adrenalin zu produzieren, dass er schier endlos weitermachen konnte. Und da war ja noch das Amt selbst, das einen mit mehr Energie versah als jedes andere auf der Welt. Als Präsident der Vereinigten Staaten war man Rockstar, Hollywoodstar und Sportikone in einem. Man war schlicht und ergreifend der Mensch auf Erden, der Gott am nächsten kam.

In dieser Nacht bewegte sich der Präsident wie jedes Mal in einer Blase, die der Secret Service »das Paket« nannte. Sie bestand aus dem Präsidenten selbst, hochrangigen Stabsmitgliedern, Bodyguards und ein paar glücklichen Medienvertretern. Als er sich dem Haus näherte, wurden die Reporter und Beamten weggeführt, bis nur noch eine höhere Beamtin und die Agenten des Secret Service übrig waren.

Sofort öffneten sich sämtliche Türen für den politischen Führer der freien Welt. Der Präsident betrat das Weiße Haus, als würde es ihm gehören. Inoffiziell war es auch so. Auch wenn vom Steuerzahler finanziert, waren es sein Haus, sein Helikopter, sein Jumbo-Jet. Niemand betrat das Haus oder nutzte die Fahrzeuge, ohne dass der Präsident es ausdrücklich erlaubt hätte.

Die Beamtin kehrte in ihr Büro zurück, und der Präsident ging zur Wohnung der First Family weiter, die selbst die Secret-Service-Männer nicht betraten. Hier war er in der eigentlichen Blase, dem wohl sichersten Ort der Welt, Pennsylvania Avenue 1600. Würde es nach dem Secret Service gehen, würde Dan Cox das Gebäude nie verlassen, es sei denn, die Wähler warfen ihn hinaus. Aber er war der Präsident, der Mann des Volkes. Deshalb musste er sich auch unters Volk mischen, selbst wenn seine Bodyguards Magengeschwüre bekamen.

Dan Cox warf sein Jackett beiseite und drückte einen Knopf auf einem kleinen Kästchen auf dem Tisch. Ein Bediensteter des Weißen Hauses erschien. Cox gab seine Bestellung auf, und eine Minute später bekam er einen Gin Tonic mit Eis und zwei Limonenscheiben. Das war eine der angenehmen Seiten dieses Jobs. Der Präsident der Vereinigten Staaten konnte so ziemlich alles bekommen, was er wollte, und das zu jeder Zeit.

Nachdem der Bedienstete gegangen war, ließ Cox sich neben seiner Frau auf die Couch fallen. Jane las in einer Zeitschrift und tat ihr Bestes, entspannt auszusehen.

»Hast du die letzten Umfragewerte gesehen?«, fragte Dan fröhlich.

Sie nickte. »Ja. Sie sehen ganz gut aus, aber da ist trotzdem noch viel Luft nach oben, zumal es gegen Ende stets enger wird.«

»Ich weiß. Es ist noch früh. Aber seien wir mal ehrlich: Der anderen Seite fehlt einfach der Schwung.«

»Sei nicht so übertrieben selbstbewusst«, tadelte Jane.

Er hob sein Glas. »Auch einen?«

»Nein, danke.«

Dan knabberte ein paar ungesalzene Mandeln. »Hast du mich je übertrieben selbstbewusst erlebt? Oder habe ich je eine Wahl verloren?«

Jane küsste ihn auf die Wange. »Es gibt für alles ein erstes Mal.«

»Sie wollen noch immer drei TV-Diskussionen. Ich denke eher an zwei.«

»Du solltest dich nur auf eine einlassen.«

»Warum denn? So gut ist Graham nicht.«

»Das nenne ich eine freundliche Untertreibung. Graham ist in Debatten geradezu mies. In allem, was er tut, ist er bestenfalls mittelmäßig. Das amerikanische Volk braucht nur eine Gelegenheit, um zu erkennen, was für ein hoffnungsloser Fall er ist. Warum also solltest du deine Zeit verschwenden? Du musst ihm nicht gleich drei Gelegenheiten geben, die öffentliche Meinung zu ändern und zu dir aufzuschließen. Und vergessen wir nicht: Du bist auch nur ein Mensch, und Menschen machen Fehler. Warum solltest du dich unnötig unter Druck setzen? Er kann mit drei Debatten nur gewinnen, du aber nur verlieren. Die Opposition weiß, dass sie erst in vier Jahren eine realistische Chance haben wird, wenn deine zweite Amtszeit ausläuft. Die verlassen sich darauf, dass sie bis dahin einen jungen Kerl mit Verstand, ein paar echten Ideen und einer Stammwählerschaft finden, der sich wirklich um das Weiße Haus bewerben kann. Graham ist bloß ein Lückenfüller.«

Dan lächelte und hob seinen Drink zum Toast. »Warum bezahle ich überhaupt ein Wahlkampfteam? Es reicht vollkommen, die Missus zu fragen.«

»Wenn man genug Schlachten überlebt, vergisst man das Gelernte nicht mehr so leicht.«

»Wenn meine Amtszeit abgelaufen sind, könntest du dich ja um das Amt bewerben«, bemerkte Dan im Scherz. »Dann säße ein zweiter Cox die nächsten acht Jahre im Weißen Haus.«

»Das Weiße Haus ist ja ganz nett, aber auf Dauer wohnen will ich hier nicht.«

Plötzlich schien Dan sich an irgendetwas zu erinnern. Er stellte seinen Drink ab, legte den Arm um seine Frau und fragte: »Gibt es schon etwas Neues von Willa?«

»Nichts.«

»Das ganze verdammte FBI ist an dem Fall, und sie haben nichts herausgefunden? Morgen früh rufe ich als Erstes bei Munson an. Das ist völlig inakzeptabel.«

»Es ist irgendwie seltsam, dass jemand Willa entführt.«

Dan drückte sie fester an sich. »Jane, du bist wirklich sehr klug; deshalb hast du sicher auch schon darüber nachgedacht. Dass sie Willa entführt haben, könnte etwas mit uns zu tun haben. Sie missbrauchen das kleine Mädchen, um uns wehzutun ... vielleicht sogar dem ganzen Land.«

Jane packte Dans Arm. »Und wenn sie irgendwas verlangen? Als eine Art Lösegeld?«

Dan Cox ließ seine Frau los, stand auf und ging vor ihr auf und ab. Er war noch immer ein sehr attraktiver Mann. Jane bewunderte seine breiten Schultern, das makellose Haar, das kantige Kinn, die hohen Wangenknochen und das Funkeln in den Augen. Körperlich gesehen war er eine Mischung aus JFK und Ronald Reagan mit einer Prise Theodore Roosevelt.

Als Jane ihn an einem schönen Herbsttag zum ersten Mal auf dem Campus ihrer Uni gesehen hatte, hatte sie sich auf den ersten Blick in ihn verliebt. Er hatte kurz vor dem Bachelor gestanden, und sie hatte gerade erst mit dem Studium angefangen. Nun schien dieser Tag eine Million Jahre zurückzuliegen, und in vieler Hinsicht war das auch so. Dieses Leben lag lange zurück. Tatsächlich konnte Jane sich an diesen Teil ihrer Geschichte kaum noch erinnern, so viel war in der Zwischenzeit geschehen.

»Das hängt davon ab, was genau sie verlangen, Jane«, sagte Dan. »Die Abschusscodes unserer Nuklearwaffen? Das geht nicht. Das Original der Unabhängigkeitserklärung? Das geht genauso wenig. Tatsächlich darf der Präsident der Vereinigten Staaten sich überhaupt nicht erpressen lassen. Würde ich auch nur einmal nachgeben, wäre das ein verhängnisvoller Präzedenzfall für zukünftige Regierungen. Es würde das Amt nachhaltig beschädigen.«

»Willst du damit sagen, wir werden Willa nie wiedersehen?«

Dan setzte sich wieder neben sie und legte ihr die Hand aufs Knie. »Ich will damit sagen, dass wir alles Menschenmögliche tun werden, um das Mädchen heil und gesund zurückzuholen. Wir müssen positiv denken. Schließlich haben wir die gesamte Macht der Vereinigten Staaten zur Verfügung. Das sollte man nicht unterschätzen.«

»Gehst du morgen zur Beerdigung?«

Dan nickte. »Natürlich. Morgens habe ich zwar eine Veranstaltung in Michigan, aber ich werde früh genug zurück sein. Und in Augenblicken wie diesen muss die Familie zusammenhalten. Das ganze Land soll wissen, dass für die Coxes in Zeiten der Krise die Familie an erster Stelle kommt, und das ist die Wahrheit.«

Jane legte ihre Zeitschrift beiseite. »Wie ich sehe, bist du noch voll im Wahlkampfmodus. Es ist zwar schon spät, aber müde bin ich noch nicht. Würdest du dir gerne noch einen Film ansehen? Warner Brothers haben uns gerade ihren neuesten Streifen geschickt. Ich glaube, er ist noch nicht mal offiziell angelaufen.«

Dan leerte sein Glas, stand wieder auf und streckte die Hand aus.

»Nein, kein Film. Ich habe dich vermisst, Liebe meines Lebens.«

Er schenkte ihr das gleiche atemberaubende Lächeln, das er auch der kleinen Studentin vor fünfundzwanzig Jahren geschenkt hatte.

Jane stand gehorsam auf und folgte ihrem Mann ins Schlafzimmer. Dan schloss die Tür hinter ihnen. Dann zog er Krawatte und Schuhe aus und öffnete die Hose. Jane wiederum entledigte sich ihres Kleides und BHs. Dann legte sie sich aufs Bett, und Dan legte sich auf sie. Was nun folgte, war ein ganz privater und intimer Moment, eine absolute Seltenheit für das Präsidentenpaar. Manchmal, dachte Jane, während Dan in sie hineinstieß und sie ihm ins Ohr stöhnte, war Sex das einzig Private, was sie und ihr Mann noch hatten.

Als Dan fertig war, gab er seiner Frau einen letzten Kuss und schlief ein. Die Air Force One würde schon im Morgengrauen wieder startbereit sein, und selbst der unermüdliche Dan Cox brauchte dann und wann ein paar Stunden Schlaf.

Als sie sich zum ersten Mal in diesem Bett geliebt hatten, hatte Jane kichern müssen. Das hatte den frisch vereidigten Präsidenten jedoch keineswegs amüsiert, führte er ihre Belustigung doch auf einen Mangel in seinen sexuellen Fähigkeiten zurück. Als sie ihm dann aber gesagt hatte, warum sie lachte, hatte er in ihr Lachen eingestimmt.

Sie hatte ihm gesagt: »Ich kann nicht glauben, dass ich vom Präsidenten der Vereinigten Staaten gevögelt werde.«

Nun lag Jane eine halbe Stunde lang wach im Bett. Dann stand sie auf, duschte, zog sich an und überraschte die Secret-Service-Agenten damit, dass sie wieder nach unten ging. Sie öffnete die Tür zu ihrem Büro, schloss sie hinter sich, zog ihre Schreibtischschublade auf und nahm den Brief und den Schlüssel heraus.

Wann würde sie es bekommen? Was würde darin stehen? Und was würde sie dann tun?

Jane schaute auf die Uhr. Es war schon spät, aber sie war die First Lady.

Sie rief an und weckte ihn.

»Jane?«, fragte Sean King benommen.

»Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe«, sagte Jane. »Du kommst natürlich zur Beerdigung.« Es war keine Frage.

»Ironischerweise war ich gerade auf einer.«

»Was?«

»Das ist eine lange Geschichte. Ja, ich habe zumindest vor zu kommen.«

»Tuck hat mir erzählt, dass du angerufen hast.«

»Hat er dir auch erzählt, worüber wir gesprochen haben?«

»Das war ein Fehler, Sean. Tut mir leid. Wir hätten von Anfang an ehrlich zu dir sein sollen.«

»Ja, stimmt.«

»Ich habe mir nur Sorgen gemacht, weil ...«

»Weil dein Bruder seine Frau nach Strich und Faden betrogen hat?«, half Sean ihr aus.

»Weil das dem Präsidentschaftswahlkampf hätte schaden können.«

»Und das können wir natürlich nicht zulassen.«

»Sei bitte nicht so zynisch. Das kann ich im Augenblick nicht gebrauchen.«

»Deine Sorge war übrigens berechtigt. Aber im Nachhinein betrachtet war es für mich eher ein Umweg, eine Zeitverschwendung, die ich mir genauso gut hätte sparen können.«

»Dann glaubst du also nicht, dass es etwas mit Willas Verschwinden zu tun hat?«

»Ob ich das mit Sicherheit weiß? Nein. Aber mein professioneller Instinkt sagt mir, dass dem nicht so ist.«

»Und was jetzt?«

»Erzähl mir von Willa.«

»Warum?«

»Pam hatte nur zwei Kinder, beide per Kaiserschnitt zur Welt gebracht.«

Jane gefror das Blut in den Adern. »Pam hatte drei Kinder, wie du ganz genau weißt.«

»Okay, aber sie hat nicht alle drei geboren. Das hat die Obduktion bestätigt. Ich habe schon mit Tuck darüber gesprochen. Ich dachte, er hätte es dir erzählt.«

Natürlich hatte Tuck es ihr erzählt, aber sie hatte nicht die Absicht, das Sean zu verraten. »Was genau willst du damit sagen?«, fragte sie.

»Dass eines der Kinder nicht von Pam ist. Hat Tuck ein Kind mit einer anderen Frau gehabt? Und war dieses Kind Willa?«

»Das kann ich nicht beantworten.«

»Kannst du nicht oder willst du nicht?«

»Warum ist das so wichtig?«

Sean setzte sich in seinem Hotelbett auf. »Ist das dein Ernst? Wenn Willa nicht Pams Tochter ist, könnten ihre echte Mom oder ihr echter Dad die Entführer sein.«

»Willa ist zwölf. Warum sollte jemand so lange warten?«

»Das habe ich auch zuerst gedacht. Tatsache aber ist, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Und ich bin überzeugt, dass ich die Antwort darauf brauche, wenn wir diesen Fall lösen und Willa finden wollen. Also, kannst du mir nun helfen oder nicht?«

»Ich weiß nichts darüber.«

»Nun, wenn Willa wirklich Pams Tochter ist, muss sie vor zwölf Jahren mit ihr schwanger gewesen sein. War sie?«

»Ich ... Sie ... Jetzt erinnere ich mich. Sie haben damals nicht in den Staaten gelebt. Sie waren in Italien. Tuck hat da gearbeitet. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke ... Sie sind kurz nach Willas Geburt wieder zurückgekehrt.«

Sean lehnte sich auf dem Bett zurück. »Wie passend. Du weißt also nicht mit Sicherheit, dass sie schwanger war? Hast du je Fotos gesehen? Von der Mutter und dem Neugeborenen im Krankenhaus vielleicht? Oder hast sie mal drüben besucht? Eltern halten doch jedem ungefragt Bilder ihrer Sprösslinge unter die Nase.«

»Du lässt schon wieder den Zyniker raushängen«, sagte Jane kalt.

»Nein, ich hake nur höflich nach.«

»Okay, ich gebe zu, dass ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann, dass Willa Pams Tochter ist. Aber ich habe es immer geglaubt. Lass es mich so formulieren: Ich hatte nie einen Grund, es nicht zu glauben.«

»Wenn du irgendwas vor mir verbirgst, finde ich früher oder später die Wahrheit heraus, und die könnte dir gar nicht gefallen.«

»Soll das eine Drohung sein?«

»Ein Mitglied der First Family zu bedrohen, ist eine Straftat, wie du genau weißt, und ich bin einer von den guten Jungs. Wir sehen uns dann auf der Beerdigung, Mrs. Cox.«

Sean legte auf.

Jane schaute auf den Brief und den Schlüssel in ihrem Schreibtisch, stand auf und wäre fast in ihre Wohnung zurückgerannt. Dort angekommen zog sie sich aus, legte sich wieder ins Bett und lauschte dem leisen Schnarchen ihres Mannes. Dan hatte nie Probleme mit dem Einschlafen. Selbst wenn er bis früh am Morgen am Telefon gehangen und irgendeine nationale Krise bewältigt hatte, legte er irgendwann einfach auf, putzte sich die Zähne und schlief binnen fünf Minuten ein. Jane brauchte unter ähnlichen Umständen Stunden dafür, wenn es ihr überhaupt gelang.

Auch jetzt lag sie auf der Seite, starrte an die Wand und sah Willas Gesicht vor sich. Das Mädchen rief sie zu sich und flehte sie an:

Hilf mir, Tante Jane. Rette mich. Ich brauche dich.