77.

Sind Sie Ruth Ann?«, fragte Michelle, den Blick auf die Frau und nicht auf die Waffe gerichtet.

Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Die Leute sind von der Regierung, Momma. Sie sind wegen Mr. Sam hier.«

»Halt du den Mund, Junge.«

»Ruth Ann«, sagte Sean, »wir wollen nicht, dass jemand verletzt wird, aber wir glauben, dass Mr. Sam ein kleines Mädchen mit Namen Willa Dutton entführt hat.«

»Nein, das hat er nicht!« Ihr Finger spannte sich um den Abzug.

»Momma, ich habe den Namen unten in dem Raum gesehen. Und ihr Foto war im Fernsehen ...«

»Halt den Mund, Gabriel. Ich sage es dir nicht noch einmal.«

»Das Leben eines kleinen Mädchens steht hier auf dem Spiel«, versuchte es Michelle. »Ein kleines Mädchen, das nicht viel älter ist als Gabriel.«

»Mr. Sam tut niemandem weh. So einer ist er nicht.«

»Miss Tippi ist weg, Momma«, sagte Gabriel.

Ruth Ann fiel die Kinnlade herunter. »Was?«

»Sie ist nicht in ihrem Zimmer. Mr. Sam hat sie mitgenommen.«

»Wohin?«

»Ich weiß nicht.«

»Ruth Ann«, sagte Sean, »wenn Sie uns mal einen Blick ins Haus werfen lassen, und wenn wir dann nichts finden, gehen wir wieder. Wir wollen nur Willa und sie zu ihrer Familie bringen.«

»Ist Willa das kleine Mädchen, deren Momma getötet worden ist?«, fragte Ruth Ann, und ihr Griff um die Schrotflinte löste sich ein wenig.

»Ja.«

»Was hat Mr. Sam damit zu tun? Sagen Sie mir das!«

»Vielleicht hat er gar nichts damit zu tun«, antwortete Michelle. »Dann wird ihm auch nichts geschehen. So einfach ist das. Und wenn Sie glauben, dass er nicht unser Mann ist, haben Sie bestimmt kein Problem damit, wenn wir uns hier ein wenig umschauen.«

»Bitte, Momma, lass sie.«

»Warum bist du eigentlich so dahinter her, Gabriel?«

»Weil es das Richtige ist. Mr. Sam würde das Gleiche sagen, wenn er hier wäre.«

Ruth Ann schaute ihren Sohn sekundenlang an; dann nahm sie die Schrotflinte herunter und trat beiseite.

Sean und Michelle betraten die Eingangshalle von Atlee und schauten sich um.

»Das ist ja wie eine Reise in die Vergangenheit«, murmelte Sean.

Michelle hatte ihre Aufmerksamkeit auf die Frau gerichtet, die ihnen folgte. »Ruth Ann, ich möchte, dass Sie die Waffe weglegen. Jetzt sofort.« Michelles Hand lag auf ihrer Pistole.

»Tu es, Momma!« Gabriel standen Tränen in den Augen.

Ruth Ann tat, wie ihr geheißen. Michelle schnappte sich die Waffe und nahm die Munition heraus.

»Gabriel«, sagte Sean, »was ist das für ein Raum, von dem du geredet hast?«

Sie gingen nach unten zu der massiven Tür.

»Ich habe die Schlüssel nicht«, sagte Ruth Ann. »Die hat Mr. Sam.«

»Treten Sie bitte zurück«, befahl Michelle. Sie zielte und jagte zwei Kugeln neben das Schloss. Dann steckte sie die Waffe wieder weg, nahm Anlauf und trat mit Wucht das Schloss aus der Tür. Sie flog auf.

Gabriel starrte die fremde Frau mit großen Augen an. Dann blickte er zu Sean, der bloß mit den Schultern zuckte und lächelte.

»Sie macht gerne so eine Show«, sagte er.

Sie betraten den Raum, und Gabriel schaltete das Licht ein. Als Sean und Michelle sahen, was sich an den Wänden befand, bekamen sie den Mund nicht mehr zu. Fotos, Aktenzettel, Notizen auf Schiefertafeln und Stecknadeln an Fäden, die die einzelnen Teile miteinander verbanden.

»Gabriel, Ruth Ann«, sagte Sean, »weiß einer von euch, was das zu bedeuten hat?«

»Nein, Sir«, antwortete Ruth Ann.

»Wer hat das alles gemacht?«, fragte Sean.

»Mr. Sam«, erklärte Gabriel und fügte hinzu: »Ich bin mal hier unten gewesen, als er nicht da war. Da habe ich dann auch das Bild von dem Mädchen gesehen. Da.«

Er deutete auf einen Teil der Wand. Einen Augenblick später starrten Sean und Michelle auf ein Foto von Willa.

Als Sean den Blick über die anderen Wände schweifen ließ, blieb er plötzlich an einem bestimmten Punkt haften. »Ruth Ann, Gabriel, würdet ihr bitte draußen warten?«

»Was?«, sagte Gabriel. »Warum?«

»Raus. Sofort!«

Sean scheuchte die beiden hinaus, schloss die Tür hinter ihnen und wandte sich wieder dem Bild der Frau zu.

»Sean, was ist?«, fragte Michelle.

»Ich habe dir doch mal erzählt, wie ich Jane Cox kennengelernt habe.«

»Ja. Du hast ihren betrunkenen Mann, den Senator, nach Hause gebracht, nachdem du ihn mit einer jungen Frau im Wagen erwischt hast.«

Sean deutete auf das Bild. »Das ist sie.«

Es war ein Bild der jungen Diane Wohl.

Michelle schaute sich das Foto an. »Die war mit Cox zusammen?«

Sean nickte. »Neben dem Bild steht zwar Diane Wohl, aber damals hieß sie anders. Das heißt, ihr Vorname war gleich, aber ihr Nachname war irgendwie anders.«

»Sie hat ihn vielleicht geändert. Oder sie hat geheiratet.« Michelle schaute zu einer Karte, die durch einen Faden mit Dianes Bild verbunden war.

»Da steht Diane Wright. Sagt dir das etwas?«, las sie von der Karte vor.

»Ja. So hieß sie!«

Sean deutete auf einen neueren Zeitungsartikel neben dem Bild. Darin wurde über die mutmaßliche Entführung einer Diane Wohl aus Georgia berichtet.

»Also hat er auch Diane Wright«, sagte Sean. Er deutete auf die Wände. »Das alles hier erzählt eine Geschichte, Michelle. Quarry hat das alles zusammengestellt.«

Michelle richtete den Finger auf die linke Seite des Raumes. »Und ich glaube, die Geschichte beginnt da drüben.«

Ganz am Anfang stand ein Datum von vor vierzehn Jahren.

Michelle las die fünf Worte daneben: »Er hat mich vergewaltigt, Daddy.«

Daneben stand der Name Tippi Quarry, und daneben wiederum war ein Bild von Tippi in ihrem Krankenhausbett zu sehen, wo sie an lebenserhaltenden Geräten angeschlossen war. Michelle drehte sich zu Sean um. Ihre eigene Panik spiegelte sich in seinem Gesicht.

»Sean, mir wird schlecht ...«

»Mach einfach weiter, Michelle. Wir müssen weitermachen.«

Sie verfolgten die Geschichte entlang der Kellerwände von Atlee.

Als sie fertig waren, sagte Michelle mit gedämpfter Stimme: »Er hat sie vergewaltigt. Und dann haben sie eine illegale Abtreibung vornehmen lassen. Die First Lady war darin verwickelt.«

»Sie wäre fast verblutet und ist ins Koma gefallen«, fügte Sean mit leerer Stimme hinzu.

»Aber wenn Cox sie vergewaltigt hat, warum hat sie es dann nicht der Polizei gemeldet?«

»Vielleicht hat sie jemand überzeugt, es nicht zu tun. Jane Cox zum Beispiel. Sie weiß, wie man andere Menschen manipulieren und beherrschen kann.«

»Aber wie passt Willa da rein?«

Sie gingen zu der Wand, an dem Willas Foto hing. Es war bedrückend, das kleine Mädchen in einem Raum lächeln zu sehen, der so voller Elend und Tragik war.

Sie folgten Quarrys Arbeit. Schließlich fragte Michelle: »Wie lange liegt dieser Vorfall mit Cox zurück?«

Er rechnete nach. »Das war vor ungefähr dreizehn Jahren.«

»Willa ist gerade zwölf geworden«, sagte Michelle. »Rechnen wir noch mal neun Monate Schwangerschaft drauf ... Sean, Willa ist die Tochter des Präsidenten! Du hast sie erwischt, nachdem sie Sex hatten, nicht vorher. Und die Frau ist schwanger geworden.«

»Ich nehme an, diesmal haben sie beschlossen, eine Adoption durch Janes Bruder sei besser als eine illegale Abtreibung mit anschließendem Koma.«

»Bist du sicher, dass er sich nicht auch Diane Wright aufgezwungen hat?«

»Ich weiß nicht. Es sah zumindest einvernehmlich aus.«

»Wenn Dan Cox Tippi Quarry vergewaltigt hat und sie nach einer missglückten Abtreibung ins Koma gefallen ist, dann will Sam Quarry Rache.«

Sean schaute verwirrt drein. »Indem er Willa entführt und ihre Mutter tötet? Das ergibt keinen Sinn.«

»Er braucht einen Hebel.«

»Einen Hebel wofür?«

»Ich weiß nicht«, gab Michelle zu. »Es könnte damit zu tun haben, dass der Präsident und seine Frau plötzlich zu einem unbekannten Ort aufgebrochen sind.« Michelle starrte an die Wände. »Wie hat er das alles bloß herausgefunden? Das muss Jahre gedauert haben.«

»Er muss seine Tochter wirklich geliebt haben. Er hat nie aufgegeben.«

»Aber er ist auch ein Killer. Und er hat Willa. Und wir müssen sie zurückholen.«

»Hast du noch die Kamera in deinem SUV?«

Michelle ging nach draußen und kehrte ein paar Minuten später mit ihrer Nikon zurück. Sie fotografierte die Wände und zoomte sämtliche Zettel und Fotos heran. In der Zwischenzeit durchsuchte Sean die Aktenschränke und holte eine Hand voll Unterlagen heraus, die er mitnehmen wollte. Dann sah er den Brief, den Sam Quarry neben seinem Testament auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Sean nahm beides und las es durch, bevor er es einsteckte.

Sean und Michelle verstießen gegen fast jede Regel, die für Ermittler an einem Tatort galt. Aber dies hier war kein gewöhnlicher Tatort; deshalb hatte Sean beschlossen, ein paar neue Regeln einzuführen. Er wusste zwar nicht, wie die Sache ausgehen würde, aber er wusste genau, was für ein Ende er wollte.

»Fertig«, sagte Michelle und machte die letzten Aufnahmen.

Sean drückte ihr ein paar Akten in die Hand. »Sag mal, warum sollte er Tippi aus dem Heim holen und dann an einen anderen Ort bringen?«

»Ich weiß auch nicht. Das ergibt keinen Sinn.«

Sean ging tiefer in den Keller hinein, spähte um eine Ecke und rief: »Was ist das denn?«

Michelle lief zu ihm. Im hinteren Teil des angrenzenden Raumes stapelten sich mehrere Metallzylinder. Sean legte die Akten zur Seite und drehte mehrere der Zylinder um. Ein paar enthielten Sauerstoff, andere nicht.

»Was ist das?«, fragte Michelle.

Anstatt zu antworten rannte Sean zur Tür zurück und riss sie auf. Er holte Gabriel und Ruth Ann herein und führte sie zu den Zylindern.

Die beiden schauten sich die Behälter verständnislos an und schüttelten die Köpfe, als Sean sie fragte, was Quarry damit wolle. Dann bemerkte Sean das Equipment auf einer Werkbank neben den Zylindern. Es waren die Überreste einer Videokamera, ein paar Fernsteuerungen, Kabel sowie Rollen mit Metallummantelungen.

»Wofür ist das alles?«, fragte er.

Gabriel schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, aber ich weiß, dass Mr. Sam alles bauen kann, was er will. Er kann jede Maschine reparieren. Alles Elektronische. Und er ist auch ein guter Zimmermann.«

»Das liegt ihm im Blut«, stimmte Ruth Ann ihrem Sohn zu. »Es gibt nichts, was er nicht bauen oder reparieren könnte.«

»Habt ihr eine Ahnung, wo er hingegangen sein könnte? Gabriel, du hast gesagt, sein Truck ist weg.«

»Ja, aber er hat auch ein Flugzeug«, sagte Gabriel.

»Was für eins?«, fragte Michelle.

»Eine kleine, einmotorige Cessna.«

»Wozu braucht er denn ein Flugzeug?«

»Er war Pilot in Vietnam«, antwortete Ruth Ann, »und manchmal fliegt er zu der alten Mine rauf.«

»Was für eine alte Mine?«

Gabriel berichtete ihnen von der Kohlenmine. Schließlich sagte er: »Mr. Sam hat mir mal erzählt, früher sei das ein Gefängnis der Konföderierten gewesen.«

»Ein Gefängnis«, murmelte Sean vor sich hin und schaute nervös zu Michelle. »Glaubst du, er ist da raufgeflogen?«, fragte er Gabriel.

»Wenn das Flugzeug weg ist, dann ja. Das ist der einzige Ort, wo er damit hinfliegt.«

»Und glaubst du auch, dass er Tippi dorthin gebracht hat?«

»Nein. Ich glaube, die ganzen Maschinen, die sie braucht, passen nicht ins Flugzeug. Es ist ziemlich klein.«

»Und wo ist sie? Was glaubst du?«

Gabriel dachte nach. »Mr. Sam hat ein kleines Haus mit nur einem Zimmer auf einem Stück Land nicht weit von hier gebaut. Eigentlich ist da nichts. Es gibt weder Strom noch sonst irgendwas; deshalb glaube ich nicht, dass Miss Tippi dort ist. Sie braucht nämlich Strom für ihre Maschinen.«

»Warum hat er dann so ein Haus gebaut?«, fragte Michelle.

Gabriel zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber er hat es selbst gebaut. Ganz allein. Es hat ihn viel Zeit gekostet.«

Sean blickte nervös zu Michelle, bevor er sich wieder Gabriel zuwandte. »Kannst du uns zeigen, wie man zu der Mine kommt?«

»Sicher, aber da muss ich Sie begleiten.«

»Gabriel!«, rief seine Mutter.

»Ich weiß nicht, wie ich es den beiden beschreiben soll, Momma«, sagte Gabriel, »aber ich kenne den Weg.«

Ruth Ann blickte besorgt zu Sean. »Mr. Sam war wirklich gut zu uns. Wenn er irgendetwas Schlimmes getan hat, hatte er bestimmt einen guten Grund dafür. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Er hat uns sein Haus und sein Land hinterlassen«, erklärte Gabriel.

»Und er hat Fred tausend Dollar in bar gegeben. Das hat Fred mir selbst gesagt«, fügte Ruth Ann hinzu.

»Glaubt er, nicht mehr lange zu leben?«, fragte Sean.

»Wer von uns weiß schon, wie lange er noch da ist?«, konterte Ruth Ann. »Jeder von uns kann schon morgen tot umfallen. Das liegt in Gottes Hand.«

»Ist sonst noch jemand oben in der Mine?«, fragte Sean.

»Daryl vielleicht, sein Sohn«, antwortete Gabriel. »Vielleicht auch Carlos.«

»Was ist mit einem Kerl namens Kurt Stevens?«

»Mr. Sam hat gesagt, Kurt habe die Stadt verlassen und sei weitergezogen«, sagte Gabriel.

»Sind Waffen in der Mine?«, wollte Michelle wissen.

»Mr. Sam mag seine Waffen. Daryl auch. Sie können beide einer Fliege die Flügel abschießen.«

»Na toll«, seufzte Sean. »Gabriel, kannst du mit uns zu dem Ort fahren, wo Mr. Sam sein Flugzeug hat? Und wenn er nicht da ist, bringst du uns dann zur Mine?«

Gabriel schaute seine Mutter an, die ihm beschützend die Hand auf die Schulter legte. »Momma, ich glaube, ich muss das tun.«

»Warum denn, Junge? Warum? Das geht dich nichts an.«

»Mr. Sam ist kein schlechter Mensch. Das hast du selbst gesagt. Ich kenne ihn fast mein ganzes Leben lang. Wenn ich ihm helfen kann, alles wieder in Ordnung zu bringen, dann muss ich es tun ... dann will ich es tun.«

Ruth Ann lief eine Träne über die Wange.

»Wir werden gut auf ihn aufpassen«, sagte Sean. »Wir bringen ihn heil zurück. Versprochen.«

Ruth Ann blickte Sean mit roten Augen an. »Bitte, passen Sie auf ihn auf, Mister. Der Junge ist alles, was ich habe.«