17.

Der Flug der United Airlines, den Tuck Dutton genommen hatte, war nicht verspätet gewesen. Er war sogar zwanzig Minuten zu früh angekommen.

»Also hatte er mindestens fünfzig Minuten frei, nicht nur dreißig«, sagte Michelle. »Vielleicht sogar eine Stunde.«

Sie saßen am nächsten Morgen bei einer Tasse Kaffee in einem Café in Reston, nicht weit von ihrem Büro. Um die Presse loszuwerden, hatte Sean eine unverbindliche Erklärung abgegeben, doch die hatte gereicht, um ihnen ein wenig Raum zum Atmen zu verschaffen. Trotzdem waren sie nicht wieder ins Büro zurückgefahren, sondern in einem Hotel geblieben - für den Fall, dass die Reporter doch wieder die Lust überkommen sollte, ihnen nachzustellen.

»Stimmt.«

»Glaubst du, er hat mit der Sache zu tun?«

»Falls ja, warum hat er sich dann nicht rausgehalten? Warum ist er zurückgekommen, um sich den Schädel einschlagen zu lassen?«

»Um keinen Verdacht zu erregen.«

»Und sein Motiv?«

»Männer töten ihre Frauen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit«, sagte Michelle. »Das reicht mir als Beweggrund, nie vor den Traualtar zu treten.«

»Und Willa?«

Michelle zuckte mit den Schultern. »Vielleicht gehört das zum Plan. Er hat Willa gekidnappt, aber wir werden sie irgendwo putzmunter auffinden.«

»So was würde vermutlich eine Menge Geld kosten. Es muss Aufzeichnungen darüber geben.«

»Ja. Wäre schön, wenn wir einen Blick in Tucks Konten werfen könnten.«

»Ich weiß, wo sein Büro ist.«

»Gut. Gehen wir direkt hin?«, fragte Michelle.

»Sobald wir mit der Pathologin geredet haben«, antwortete Sean. »Ich habe mit ihr gesprochen. Sie hat gerade die Autopsie beendet.«

»Du kennst sie also doch.«

»Ich bin nun mal allseits beliebt.«

»Genau das macht mir Angst.«

Lori Magoulas war fünfundvierzig, klein und stämmig. Ihr hellblondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.

Nachdem Sean Michelle vorgestellt hatte, sagte Magoulas: »Es hat mich überrascht, von dir zu hören, Sean. Ich dachte, du wärst an deinem See verschollen.«

»Washington zieht einen immer wieder unwiderstehlich an, Lori.«

Lori schaute skeptisch drein. »Ach ja? Ich zumindest kann es nicht erwarten, hier rauszukommen und meinen See zu finden.«

Sie führte die beiden einen gefliesten Gang hinunter, wo andere Leute in weiten Krankenhauskitteln sich über Tote beugten. Vor einem Tisch aus rostfreiem Stahl blieben sie stehen. Auf dem Tisch lag Pam Dutton. Ihr Körper war inzwischen nicht nur vom Schnitt durch die Kehle entstellt, sondern auch durch den typischen Y-Schnitt auf der Brust, wie Pathologen ihn machten.

»Was hast du gefunden?«, fragte Sean.

»Sie war bei guter Gesundheit. Vermutlich hätte sie ein langes Leben vor sich gehabt, wäre das da nicht gewesen«, antwortete die Ärztin und deutete auf den aufgeschlitzten Hals.

»Was ist mit der Blutmenge?«

Magoulas tippte auf einem Laptop und studierte die Daten auf dem Bildschirm. »Soweit ich es herausfinden konnte - und die Menge eingerechnet, die auf dem Teppich und auf ihren Kleidern verblieben ist -, fehlt ihr gut ein halber Liter.«

»Dann haben sie das Blut tatsächlich mitgenommen.«

»Der Schnitt hat die linke Halsschlagader glatt durchtrennt. Sie muss binnen Minuten ausgeblutet sein.«

»Wie ging das vonstatten?«, fragte Michelle. »Was glauben Sie?«

»Dem Winkel des Schnitts und den Spuren unter den Fingernägeln nach zu urteilen, würde ich sagen, man hat sie von hinten gepackt und ihr den Hals durchgeschnitten. Vermutlich hat sie nach hinten gegriffen und den Angreifer im Gesicht verletzt. Wir haben Gewebe und Blut unter ihren Fingernägeln gefunden. Sie muss ihn ziemlich böse erwischt haben. Das hat seine Laune bestimmt nicht gebessert.«

»Bist du sicher, dass es ein Mann war?«, fragte Sean, was ihm ein Stirnrunzeln Michelles einbrachte.

»Wir haben nicht nur Blut und Gewebe gefunden, auch Bartstoppeln.«

»Ich wollte nur sichergehen«, sagte Sean zu seiner Partnerin.

»Wenn also die linke Halsschlagader durchtrennt worden ist und der Angreifer von hinten kam, ist er wahrscheinlich Rechtshänder«, sagte Michelle.

»Stimmt.« Magoulas griff nach einer kleinen Plastikflasche. Darin befanden sich mehrere Fasern eines schwarzen Materials.

»Das haben wir unter dem rechten Daumennagel und dem linken Zeigefinger gefunden, und noch eine weitere im Haar.«

Michelle kniff die Augen zusammen, um die Substanz besser sehen zu können. »Sieht wie Nylon aus.«

»Von einer Maske?«, fragte Sean.

»Der Mann, den ich gesehen habe, hat eine schwarze Maske getragen«, sagte Michelle. »Pam greift also nach hinten und kratzt den Mann im Gesicht. Dabei bekommt sie das Nylon unter die Fingernägel.«

»Haben Sie sonst noch etwas gesehen?«, fragte Magoulas.

»Nein. Der Kerl hat mit einer Maschinenpistole auf mich geschossen. Fast hätte er mich zersägt. Ich hielt es für klüger, am Leben zu bleiben, als mir den Schützen näher anzuschauen, um ihn später identifizieren zu können.«

Magoulas grinste. »Kann ich verstehen.«

»Gibt es neue Hinweise, was die Buchstaben auf Pams Armen angeht?«, fragte Sean und deutete auf die Leiche. Inzwischen waren die Schriftzeichen aufgrund der zunehmenden Verfärbung der Haut kaum noch zu lesen. Das tote Fleisch schien die Tinte förmlich zu verschlucken. Die Buchstaben sahen jetzt nicht mehr wie Zeichen aus, eher wie eine Hautkrankheit.

»Ich bin Pathologin, keine Sprachwissenschaftlerin. Es ist schwarze Tinte, vermutlich von einem breiten Textmarker. Blockbuchstaben. Meiner Meinung nach ist die Handschrift nicht besonders gut. Ich spreche fließend Spanisch, und Spanisch ist das nicht, und auch keine andere romanische Sprache. Chinesisch oder Russisch ist es offensichtlich auch nicht.«

»Eine afrikanische Stammessprache vielleicht?«, schlug Sean vor.

»Wie denn? Es sind lateinischen Buchstaben«, sagte Michelle. »Vielleicht ist es bloß irgendwelcher Unsinn, um uns auf eine falsche Fährte zu führen.«

»Okay. Sonst noch was Interessantes?«, fragte Sean.

»Ja, die Frau hat wirklich rote Haare. Ich habe schon eine Menge Rotschopfe auf dem Tisch gehabt, aber die hier schießt den Vogel ab. Fast hätte ich bei der Autopsie eine Sonnenbrille gebraucht.«

»Warum ist das für die Ermittlungen relevant?«, fragte Michelle.

»Er hat nicht nach relevant gefragt, sondern nach interessant.« Magoulas grinste. »He, selbst Gerichtsmediziner brauchen von Zeit zu Zeit ein bisschen Aufheiterung. Meist ist es hier ziemlich deprimierend.«

»Okay«, sagte Sean. »Dann will ich mal mitspielen. Sonst noch was Relevantes?«

»Die Frau hatte Kinder.«

»Das wissen wir.«

»Zwei Kaiserschnitte.« Magoulas deutete auf die Operationsnarben. Sie sahen wie ausgeblichene Reißverschlüsse aus.

»Und die dritte Geburt vaginal«, fügte Sean hinzu.

»Unmöglich«, sagte Magoulas.

»Wieso?«, erwiderte Sean.

»Wie sich bei der ersten Untersuchung herausgestellt hat, ist ihr Becken ungewöhnlich geformt und der Geburtskanal anormal eng. Röntgenaufnahmen haben diesen Eindruck bestätigt. Bei der Autopsie war dann zu sehen, dass ihr Becken verformt ist. Vermutlich ist sie schon damit geboren worden. Zusammengefasst heißt das, kein Gynäkologe hätte dieser Frau eine vaginale Geburt erlaubt, es sei denn, er wollte wegen eines ärztlichen Kunstfehlers verklagt werden. Viel zu riskant. Sie konnte Kinder nur per Kaiserschnitt bekommen.«

Magoulas schaute zu Sean und Michelle, die beide auf Pam Duttons Bauch starrten, als stünden dort die Antworten.

»Und? Ist das relevant?« Magoulas blickte sie neugierig an.

Sean nahm den Blick von der Toten. »Man könnte sagen, es ist interessant.«