48.
Willa beendete das letzte Buch, legte es auf den Stapel zurück, setzte sich wieder auf ihr Bett und starrte auf die Tür. Wenn sie las, vergaß sie, wo sie war, doch als sie die letzte Seite gelesen hatte, wurde ihr wieder bewusst, was sie war.
Eine Gefangene.
Sie würde ihre Familie niemals wiedersehen. Das wusste sie.
Willa versteifte sich, als sie Schritte näher kommen hörte. Es war der große Mann. Der alte Mann. Sie erkannte ihn an seinen Schritten. Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür, und da war er. Er schloss die Tür hinter sich und kam auf sie zu.
»Alles klar, Willa?« Er setzte sich an den Tisch und legte die Hände in den Schoß.
»Ich habe alle Bücher gelesen.«
Der Mann öffnete den Rucksack, holte einen neuen Stapel Bücher heraus und legte sie auf den Tisch. »Da hast du neue.«
Willa schaute sich die Bücher an. »Dann werde ich wohl noch lange hier sein, nicht wahr?«
»Nein. Nicht mehr lange.«
»Ich komme wieder zu meiner Familie?«
Der Mann wandte den Blick ab. »Magst du die Frau, die du hier getroffen hast?«
Willa schaute den Mann weiter unverwandt an. »Sie hat Angst. Ich auch.«
»Das geht wohl uns allen so.«
»Warum sollten Sie denn Angst haben? Ich kann Ihnen doch nichts tun.«
»Ich hoffe, dir gefallen die Bücher.«
»Ist eins dabei, wo das Kind am Ende stirbt? So könnte ich mich wenigstens vorbereiten.«
Der Mann stand auf. »Du klingst nicht mehr wie du selbst, Willa.«
Sie erhob sich ebenfalls. Auch wenn sie deutlich kleiner war als der Mann, schien sie es mit ihm aufnehmen zu können. »Sie kennen mich doch gar nicht. Sie haben vielleicht das ein oder andere über mich herausgefunden, aber Sie kennen mich nicht. Oder meine Familie. Haben Sie ihnen wehgetan? Haben Sie?«, wollte sie wissen.
Quarrys Blick huschte durchs Zimmer. Er schaute überall hin, nur nicht zu Willa.
»Ich lasse dich jetzt ein bisschen schlafen. Offenbar kannst du das gut gebrauchen.«
»Lassen Sie mich allein«, sagte Willa mit lauter, fester Stimme. »Ich will Sie nicht mehr sehen.«
Quarry ging zur Tür. »Willst du die Frau wiedersehen?«
»Warum sollte ich?«
»Dann hättest du wenigstens jemanden, mit dem du reden kannst, Willa. Außer mir, meine ich. Ich verstehe, warum du mich nicht magst. An deiner Stelle würde ich mich auch nicht mögen. Mir gefällt ja selbst nicht, was ich tun muss. Würdest du die ganze Wahrheit kennen, würdest du mich vielleicht besser verstehen. Vielleicht aber auch nicht.«
»Ich will sie sehen«, sagte Willa trotzig und wandte Quarry den Rücken zu.
»Gut«, sagte Quarry leise.
Doch Willas nächste Worte ließen ihn erstarren.
»Hat es mit Ihrer Tochter zu tun? Mit der, die nicht mehr lesen kann?«
Quarry drehte sich langsam wieder um, und jetzt brannte sich sein Blick förmlich in das Kind hinein. »Wie kommst du darauf?«, fragte er mit harter Stimme.
Willa erwiderte seinen Blick. »Weil auch ich jemandes Tochter bin.«
Ja, stimmt, dachte Quarry. Du weißt nur nicht, wessen Tochter.
Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich ab.
Nach ein paar Minuten öffnete sie sich erneut. Die Frau stand da, Quarry hinter ihr.
»Ich bin in einer Stunde wieder da«, sagte er.
Er schloss die Tür, und Diane Wohl trat vorsichtig vor und setzte sich an den Tisch. Willa gesellte sich zu ihr und drehte das Laternenlicht auf.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie.
»Ich habe eine solche Angst, dass mir manchmal sogar das Atmen schwerfällt.«
»Geht mir genauso.«
»Du machst aber keinen ängstlichen Eindruck. Ich bin zwar die Erwachsene hier, aber du bist offensichtlich viel tapferer als ich.«
»Hat er mit Ihnen gesprochen? Der Mann, meine ich.«
»Nein, eigentlich nicht. Er hat mir nur gesagt, ich solle mit ihm kommen. Um dich zu sehen.«
»Und wollten Sie das?«
»Natürlich. Ich meine ... in meiner Zelle ist es so einsam.«
Sie schaute zu den Büchern. Willa folgte ihrem Blick. »Wollen Sie ein paar Bücher haben?«, fragte das Mädchen.
»Ich fürchte, ich habe nie viel gelesen.«
Willa nahm ein paar und schob sie zu Diane. »Dann ist jetzt wohl die richtige Zeit, damit anzufangen.«
Diane fingerte am Cover eines der Bücher herum. »Er ist ein seltsamer Entführer.«
»Ja«, pflichtete Willa ihr bei. »Aber wir müssen trotzdem Angst vor ihm haben.«
»Das wird kein Problem sein, glaub mir.«
»Wir sind fast entkommen«, sagte Willa trotzig. »Wir waren so nah dran.«
»Dank dir. Aber ich war schuld, dass wir es nicht geschafft haben. Ich bin nicht gerade eine Heldin.«
»Ich wollte nur zu meiner Familie zurück.«
Diane streckte die Hand aus und ergriff Willas Arm. »Du bist sehr mutig, und das musst du auch bleiben.«
Willa blieb ein Schluchzen im Hals stecken. »Ich bin doch erst zwölf, nur ein Kind.«
»Ich weiß, Süße, ich weiß.«
Diane schob ihren Stuhl um den Tisch herum und legte schützend den Arm um Willa.
Das Mädchen begann zu zittern, und Diane drückte es an ihre Brust und flüsterte ihm ins Ohr, dass alles wieder gut werden würde. Ihrer Familie gehe es ganz bestimmt gut, und sie würde sie ganz sicher wiedersehen. Dabei wusste Diane, dass Willa ihre Mutter nie wiedersehen würde, denn der Mann hatte ihr gesagt, dass sie tot war. Trotzdem musste sie das dem verängstigen, kleinen Mädchen sagen.
Meinem kleinen Mädchen.
***
Vor der Tür lehnte Quarry an der Tunnelwand und rieb über die alte Münze in seiner Hand. Es war eine Lady Liberty, die er Gabriel geben wollte. Aber nicht für EBay, sondern fürs College. Doch Quarry dachte nicht an die Münze. Er hörte zu, wie Willa sich die Seele aus dem Leib weinte. Das Jammern des Mädchens hallte durch die Tunnel wie Generationen zuvor das Stöhnen geschundener Bergarbeiter und davor die Schreie gequälter Unionssoldaten.
Doch Quarry konnte sich kein herzzerreißenderes Geräusch vorstellen als das, was er gerade hörte. Er ließ die Münze wieder in seiner Tasche verschwinden.
Er hatte seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht. Für die Menschen, die ihm am Herzen lagen, war gesorgt. Was danach kam, lag nicht in seiner Hand.
Die Leute würden ihn natürlich verdammen, aber so war das nun mal. Er hatte schon Schlimmeres ertragen als die schlechte Meinung anderer.
Trotzdem würde er froh sein, wenn das hier vorüber war.
Und es musste bald vorüber sein.
Keiner von ihnen konnte das noch lange ertragen.
Er selbst konnte es jedenfalls nicht, das wusste Sam Quarry.
Später an jenem Abend fuhr er mit dem Truck zu Tippi. Diesmal fuhr er allein. Er las ihr vor und spielte das Band ab, auf dem ihre Mutter zu ihr sprach.
Quarry schaute sich in dem kleinen Raum um, der nun schon seit Jahren Tippis Welt darstellte. Er kannte jedes Gerät hier, das sie am Leben erhielt, und er hatte das Pflegepersonal mit Fragen nach ihrer Funktionsweise förmlich bombardiert. Sie hatten keine Ahnung, warum er so neugierig war, was die Geräte betraf, aber das war egal. Er wusste warum.
Als Quarry seiner Tochter schließlich in das verwelkte Gesicht schaute, auf ihre verkümmerten Gliedmaßen und den ausgemergelten Leib, da spürte er, wie sein eigener Körper in sich zusammenzufallen schien, als hätte die Schwerkraft plötzlich zugenommen. Vielleicht war das ja eine Art Strafe.
Quarry hatte kein Problem mit Strafe, solange sie gerecht verteilt wurde. Nur das war nie der Fall.
Quarry verließ den Raum und ging zum Schwesternzimmer. Er musste ein paar Dinge regeln.
Es war an der Zeit, dass Tippi diesen Ort verließ.
Es war an der Zeit, dass er sein kleines Mädchen nach Hause holte.