4.
Die Gesetzeshüter waren in beeindruckender Stärke angerückt. Sean und Michelle, die am Rand des von Fichtennadeln übersäten Hofes standen, beobachteten, wie Polizisten und Kriminaltechniker über das Haus der Duttons herfielen wie Ameisen über einen Kadaver - in gewisser Hinsicht eine perfekte Analogie.
Rettungswagen hatten die überlebenden Angehörigen der Familie Dutton bereits ins Krankenhaus gebracht, während Mrs. Dutton noch immer drinnen lag. Der einzige Arzt, den sie noch sehen würde, war der Leichenbeschauer, und der würde ihren Körper noch mehr zerlegen, als ihr Mörder es getan hatte.
Sean und Michelle waren bereits drei Mal vernommen worden, zuerst von uniformierten Beamten, dann von Detectives der Mordkommission. Immer wieder hatten sie detaillierte Antworten gegeben. Nun waren ganze Notizbücher voll mit ihren Schilderungen der schrecklichen Ereignisse dieser Nacht.
Michelle richtete ihre Aufmerksamkeit auf zwei schwarze Limousinen in der Auffahrt. Als Männer und Frauen in Zivil aus den Wagen stiegen, fragte sie Sean: »Was macht das FBI hier?«
»Habe ich das nicht schon gesagt? Tuck Dutton ist der Bruder der First Lady.«
»First Lady? Du meinst Jane Cox, die Frau des Präsidenten?«
Sean nickte.
»Also wurde die Schwägerin der First Lady ermordet und ihre Nichte entführt?«
»Volltreffer«, sagte Sean. »Die Übertragungswagen der Fernsehleute müssten gleich hier sein. Unsere Standardantwort lautet ›kein Kommentar‹, klar?«
»Klar. Dann wollte Pam Dutton uns anheuern? Warum? Hast du eine Ahnung?«
»Nein.«
Sean und Michelle beobachteten, wie die FBI-Leute mit den Polizisten sprachen und anschließend im Haus verschwanden. Zehn Minuten später kamen sie wieder zum Vorschein und hielten auf Sean und Michelle zu.
»Die sehen nicht gerade glücklich aus, dass wir hier sind«, bemerkte Michelle.
Und so war es auch. Die FBI-Agenten wollten nicht glauben, dass Pam Dutton die beiden Privatdetektive herbestellt hatte, ohne dass diese den Grund dafür kannten.
Sean wiederholte zum vierten Mal: »Ich sagte doch schon, ich bin ein Freund der Familie. Pam hat mich angerufen und mich um ein Treffen gebeten. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Um das herauszufinden, sind wir hier.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Pam hat die Zeit festgelegt, nicht ich.«
»Wenn Sie den Duttons wirklich so nahestehen, haben Sie vielleicht eine Idee, wer für die Schweinerei hier verantwortlich sein könnte«, sagte einer der Agenten. Der mittelgroße Mann hatte ein schmales Gesicht und breite Schultern und schaute so säuerlich drein wie ein Magenkranker.
»Hätte ich eine Idee, hätte ich es längst gesagt. Haben Sie schon eine Spur vom Pick-up? Übrigens, meine Partnerin hat eine Kugel durch die Windschutzscheibe gejagt.«
»Warum trägt Ihre Partnerin eine Waffe?«, fragte der Magenkranke.
Sean griff langsam in seine Tasche und holte seinen Ausweis heraus. Michelle tat es ihm gleich, legte aber noch ihren Waffenschein dazu.
»Sie sind Privatdetektive?« Der Magenkranke sprach das Wort aus, als wäre es ein Synonym für »Kinderschänder«. Dann gab er Sean und Michelle die Ausweise zurück.
»Und ehemalige Mitarbeiter des Secret Service«, sagte Michelle. »Mein Partner und ich.«
»Schön für Sie.« Der Magenkranke nickte in Richtung Haus. »Der Secret Service wird sich wegen dieser Sache einiges anhören müssen.«
»Wieso?«, fragte Sean. »Geschwister der Präsidentenfamilie haben keinen Anspruch auf Schutz, es sei denn, es besteht eine unmittelbare Bedrohung. Der Secret Service kann schließlich nicht jeden bewachen.«
»Kapieren Sie denn nicht? Hier geht es um die öffentliche Wahrnehmung dieser Geschichte. Die Mutter ermordet, das Kind entführt ... Das kommt gar nicht gut in den Zeitungen, besonders nicht nach der Party in Camp David heute. Die First Family wird wohlbehalten nach Hause gebracht, während die bucklige Verwandtschaft von irgendwelchen Irren heimgesucht wird. Das sind nicht gerade die besten Schlagzeilen, die man sich wünschen kann.«
»Was war das für eine Party in Camp David?«, hakte Michelle nach.
»Ich stelle hier die Fragen«, entgegnete der Magenkranke.
Und so berichteten Sean und Michelle während der nächsten Stunde noch einmal in allen Einzelheiten, was sie gesehen hatten. So unangenehm der Magenkranke auch sein mochte, sie mussten zugeben, dass er gründlich war.
Sie endeten wieder im Haus und blickten auf Pam Duttons Leiche. Ein Kriminaltechniker machte Fotos von den Blutspuren, der tödlichen Wunde und den Spuren unter Pam Duttons Fingernägeln. Ein anderer notierte die Buchstaben auf den Armen der Toten und tippte sie in einen Laptop.
»Weiß hier jemand, was die Buchstaben zu bedeuten haben?«, fragte Michelle und deutete auf die Leiche. »Ist es eine Fremdsprache?«
Einer der Techniker schüttelte den Kopf. »Falls ja, habe ich noch nie davon gehört.«
»Das sieht mir eher willkürlich aus«, bemerkte Sean.
»Die Spuren unter den Fingernägeln deuten darauf hin, dass das Opfer sich gewehrt hat«, sagte Michelle. »Sieht so aus, als hätte sie dem Angreifer ziemliche Kratzer beigebracht.«
»Das wissen wir bereits«, sagte der Magenkranke.
»Wie geht es Tuck und den Kindern?«, erkundigte sich Sean.
»Unsere Leute sind auf dem Weg ins Krankenhaus, um ihre Aussagen aufzunehmen.«
»Wenn die Einbrecher Tucker niedergeschlagen haben, weil er sich gewehrt hat, hat er vielleicht etwas gesehen«, bemerkte ein Agent.
»Ja. Aber wenn er wirklich was gesehen hat, warum haben die Mörder ihn dann nicht erledigt, so wie seine Frau?«, entgegnete Michelle. »Die Kinder wurden betäubt und haben wahrscheinlich nichts mitbekommen. Aber warum haben die Täter einen Augenzeugen am Leben gelassen?«
Der Magenkranke zuckte mit den Schultern. »Wenn ich noch einmal mit Ihnen sprechen will - und davon können Sie ausgehen -, erreiche ich Sie unter der Adresse, die Sie mir gegeben haben, oder?«
»Ja«, erwiderte Sean.
»Gut«, sagte der Magenkranke und ging mit seinem Team davon.
»Verschwinden wir«, sagte Sean.
»Und wie?«, fragte Michelle. »Die Kerle haben unseren Wagen plattgemacht.«
Sean ging hinaus, starrte auf das Wrack seines Lexus und funkelte Michelle wütend an. »Das hättest du mir ruhig früher sagen können.«
»Ich hatte nicht viel Zeit.«
»Okay. Ich rufe uns ein Taxi.«
Als sie warteten, fragte Michelle: »Und? Sollen wir es jetzt einfach dabei bewenden lassen?«
»Was meinst du?«
Michelle deutete auf das Haus der Duttons. »Das da. Einer der Mistkerle hat versucht, mich umzubringen. Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich nehme so was persönlich. Außerdem wollte Pam uns einen Auftrag erteilen. Ich finde, wir sind es ihr schuldig, den Job zu Ende zu bringen.«
»Michelle, wir haben nicht die leiseste Ahnung, weshalb Pam mich angerufen hat und ob es mit ihrer Ermordung zu tun hatte.«
»Wenn nicht, wäre es die Mutter aller Zufälle.«
»Okay, aber was können wir tun? Polizei und FBI arbeiten bereits an dem Fall. Da bleibt nicht mehr viel Raum für uns.«
»Das hat dich früher nicht gestört«, sagte Michelle.
»Diesmal ist es etwas anderes.«
»Und warum?«
Sean antwortete nicht.
»Sean?«
»Ich hab dich gehört.«
»Und? Was ist diesmal anders?«
»Die Leute, um die es geht.«
»Wer? Die Duttons?«
»Nein. Die First Lady.«
»Die hat doch gar nichts damit zu tun.«
»Doch, hat sie.«
»Du redest, als würdest du sie kennen.«
»Tue ich auch.«
»Woher?«
Sean setzte sich in Bewegung.
»Was ist mit dem Taxi?«, rief Michelle ihm hinterher.
Sie bekam keine Antwort.