13.
Sie fuhren zum Haus von Tucks Schwägerin in Bethesda, Maryland, wo die Kinder untergebracht waren. John und Colleen Dutton standen noch immer unter Schock und wussten nur sehr wenig. Michelle hatte sich mit der siebenjährigen Colleen zusammengesetzt und versucht, etwas aus dem Mädchen herauszubekommen. Colleen erzählte, sie sei in jener Nacht im Bett gewesen. Dann habe sich die Tür geöffnet, doch bevor sie sich habe umdrehen können, habe jemand sie gepackt, und sie habe etwas auf dem Gesicht gespürt.
»Wie eine Hand oder ein Tuch?«, fragte Michelle.
»Beides«, antwortete Colleen. Tränen traten ihr in die Augen. Michelle beschloss, nicht nachzuhaken. Man hatte den Kindern ein Beruhigungsmittel verabreicht; dennoch war offensichtlich, wie sehr sie trauerten.
Der zehnjährige John Dutton hatte ebenfalls in seinem Zimmer geschlafen. Er war aufgewacht, als er neben sich etwas gefühlt hatte. An mehr konnte er sich nicht erinnern.
»War es ein Geruch?«, fragte Sean. »Ein Geräusch?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
Keines der beiden Kinder konnte sagen, wo genau Willa sich befunden hatte. John glaubte, sie sei unten bei ihrer Mutter gewesen. Seine kleine Schwester wiederum erinnerte sich, Willa ein paar Minuten vor dem Überfall auf der Treppe gehört zu haben.
Sean zeigte den Kindern eine Kopie der Zeichen auf dem Körper ihrer Mutter, aber die Kinder wussten nicht, was es zu bedeuten hatte.
Dann folgten die üblichen Fragen nach Fremden, die sich in der Gegend herumgetrieben hatten, nach seltsamen Briefen oder merkwürdigen Telefonanrufen.
»Habt ihr eine Ahnung, warum eure Mutter mich sehen wollte? Hat sie mit euch darüber gesprochen?«
Die beiden Kinder schüttelten die Köpfe.
»Was ist mit eurem Dad? Hat einer von euch ihn letzte Nacht gesehen?«
»Daddy war nicht in der Stadt«, sagte Colleen.
»Aber er ist letzte Nacht zurückgekommen«, bemerkte Michelle.
»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagten John und Colleen wie aus einem Munde.
Das kleine Mädchen wollte unbedingt wissen, ob sie Willa zurückbekommen würden.
»Wir tun, was wir können«, versprach Michelle. »Und wir sind ziemlich gut in unserem Job.«
»Und was jetzt?«, fragte Michelle, als sie von der trauernden Familie wegfuhren.
»Ich habe eine Nachricht von Jane bekommen. Tuck will uns sehen.«
»Wir können mit jedem reden. Aber solange wir keinen Zugang zum Tatort und den Beweisen haben, werden wir gar nichts herausbekommen.«
»Was ist aus deinem Optimismus geworden, Little Miss Sunshine?«
Michelle blickte in den Innenspiegel. »Das eben gerade hat mich ganz schön mitgenommen. Die Kinder sind völlig fertig.«
»Ja. Aber es wird ihnen noch schlechter gehen, wenn wir Willa nicht finden.«
***
Zwei Agenten des Secret Service bewachten Tucks Krankenhauszimmer, doch man hatte sie im Vorfeld über Seans und Michelles Besuch informiert, und so ließen sie die beiden hinein. Tuck saß im Bett. Er sah benommen aus. An einem Tropf hingen Beutel mit Medikamenten, und ein Schlauch führte zu Tucks Arm.
Sean stellte Michelle vor und legte Tuck die Hand auf die Schulter. »Das mit Pam tut mir sehr leid.«
Tuck rannen Tränen übers Gesicht. »Ich kann's nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist.«
»Wir waren gerade bei John und Colleen.«
»Wie geht es ihnen?« Tuck setzte sich besorgt auf.
»Den Umständen entsprechend«, antwortete Sean diplomatisch.
»Und Willa? Gibt es schon was Neues?«
Sean schaute zu Michelle, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. »Nein. Was kannst du uns über die Nacht erzählen?«
Michelle trat näher. »Lassen Sie sich Zeit.«
Wie sich herausstellte, konnte auch Tuck ihnen nicht viel berichten. Er war im Schlafzimmer gewesen, als er plötzlich einen Schrei gehört hatte. Sofort war er zur Tür gerannt; dann hatte ihn etwas Hartes auf den Kopf getroffen.
»Die Ärzte sagen, ich hätte die Mutter aller Gehirnerschütterungen, werde aber keine bleibenden Schäden davontragen.«
»Um wie viel Uhr ist es passiert?«
»Ich bin nach oben gegangen, um mich umzuziehen. Ich kam von einem Meeting in der Stadt. Es war spät.«
»Wie spät?«
»Kurz nach elf.«
»Wir sind um halb zwölf gekommen«, sagte Sean.
Tuck schaute ihn verwirrt an. »Du warst da?«
Sean nahm sich die Zeit, es Tuck zu erklären. »Von wo bist du gekommen?«
»Aus Jacksonville.«
»Bist du in deinem Mercedes nach Hause gefahren?«
»Ja.«
»Und du bist direkt nach Hause gefahren? Keine Zwischenstopps?«
»Keine. Warum fragst du?«
»Falls jemand dir gefolgt ist, hättest du es möglicherweise bemerkt, wenn du angehalten hättest.«
Tuck schlug die Hand vors Gesicht. »O Gott! Ich kann das nicht glauben.«
»Darf ich fragen, worum es bei dem Meeting ging?«
Tuck nahm die Hand langsam herunter. »Nichts Aufregendes. Du weißt ja, dass ich für die Rüstungsindustrie arbeite. Wir haben ein kleines Büro in Jacksonville. Meine Firma arbeitet als Subunternehmer für das Heimatschutzministerium an einem Projekt zur Abwehr biologischer Angriffe. Wir müssen nur noch ein paar Kleinigkeiten erledigen.«
»Und Sie sind genau zur richtigen Zeit zurückgekommen, um sich den Schädel einschlagen zu lassen«, sagte Michelle.
Tuck sprach langsam. »Man hat mir von Pam erzählt ... wie sie gestorben ist.«
»Wer? Die Polizei?«
»Männer in Anzügen. FBI, haben sie gesagt ... glaube ich. Mein Kopf arbeitet immer noch nicht richtig. Tut mir leid.«
Sean und Michelle stellten Tuck die gleichen Fragen, die sie auch seinen Kindern gestellt hatten, und erhielten die gleichen nutzlosen Antworten.
Tuck lächelte schwach. »Es war ein großartiger Tag für Willa. Sie hat ihren Geburtstag in Camp David feiern dürfen. Wie viele Kinder dürfen das schon?«
»Nicht viele«, pflichtete Michelle ihm bei. »Schade, dass Sie es verpasst haben.«
»Es war das erste Mal, dass ich einen ihrer Geburtstage versäumt habe. Und dann auch noch in Camp David. Da war ich noch nie.«
»Es ist ziemlich ländlich«, sagte Sean. »Die First Lady spielt also eine große Rolle in Willas Leben?«
»Ja ... sofern sie Zeit hat. Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass sie mit dem Präsidenten verheiratet ist. Meine Güte, und ich bin sein Schwager!«
»Habt ihr beide euch immer schon nahegestanden?«
»Ja. Ich mag Dan. Ich habe ihn sogar gewählt.« Tuck rang sich ein Lächeln ab, musste dann aber schluchzen. »Ich verstehe nicht, warum jemand so etwas tut, Sean.«
»Da gibt es einen Wink mit dem Zaunpfahl, Tuck«, antwortete Sean.
»Willst du damit sagen, es hat mit Dan und Jane zu tun?«
»Es ist allgemein bekannt, dass ihr zur Familie gehört. Nur seid ihr ein leichteres Ziel.«
»Wenn es so ist, was wollen die Kerle dann? Wenn es um Geld geht - der Präsident kann nicht einfach in die Staatskasse greifen und Lösegeld bezahlen.«
Sean und Michelle sahen einander an, während Tuck vom einen zum anderen blickte. »Ich meine, das geht doch nicht, oder?«
»Konzentrieren wir uns auf die Tatsachen, Tuck. Für Spekulationen bleibt noch genügend Zeit.«
»Wir haben aber keine Zeit, Sean. Was ist mit Willa? Sie haben Willa. Sie könnte ...« Erregt setzte Tuck sich wieder auf.
Sean drückte ihn sanft aufs Bett zurück. »Das FBI tut, was es kann, und das werden wir auch. Aber jetzt müssen erst mal alle ruhig bleiben und uns sagen, was sie wissen.«
Sean holte die Kopie mit den Zeichen auf Pams Armen hervor.
»Erkennst du das?«
»Nein. Warum?«
»Das FBI hat dich nicht danach gefragt?«
»Nein. Was ist das?«
»Das hat man Pam mit einem schwarzen Marker auf die Arme geschrieben.«
»O Gott. Ist das irgendwas Kultisches?« Tucks Gesichtsausdruck wechselte von Wut zu Entsetzen. »Hat irgendein neuer Charles Manson, der die Regierung hasst, Willa entführt?«
Die Krankenschwester kam herein und sagte streng: »Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen. Sie regen ihn offensichtlich auf.«
Michelle wollte protestieren, doch Sean sagte rasch: »Ja, natürlich. Tut uns leid.« Er packte Tuck am Arm. »Sieh erst mal zu, dass es dir bald wieder besser geht. John und Colleen brauchen dich. Okay?«
Tuck nickte knapp und ließ sich zurück aufs Bett sinken.
Ein paar Minuten später stiegen Sean und Michelle wieder in den SUV.
»Ich hätte da mal eine Frage«, sagte Michelle.
»Nur eine? Ich bin beeindruckt.«
»Warum war Tuck außerhalb der Stadt auf einem Meeting? Ausgerechnet an dem Tag, an dem seine Tochter ihren Geburtstag in Camp David feiert. Konnte dieses Meeting in Jacksonville nicht warten? Warum haben sie es nicht per Videokonferenz gemacht? Und liegt das jetzt nur an mir, oder warum wollte er so genau wissen, ob der Präsident das Lösegeld aus der Staatskasse bezahlen kann?«
»Ich finde auch, er ist ein bisschen zu schnell auf diese Kultsache angesprungen. Deshalb habe ich ihn nicht gefragt, ob er weiß, warum Pam sich mit uns treffen wollte. Vielleicht hätte es bei dem Treffen ja um Tuck gehen sollen.«
»Dann verdächtigst du ihn?«
»Ich verdächtige jeden. Deshalb habe ich es ja auch Jane Cox gegenüber nicht erwähnt.«
»Mir hat gefallen, wie du ihn festgenagelt hast von wegen, dass er direkt nach Hause gefahren ist. Aber glaubst du wirklich, das alles war nur Zufall?«
»Nein.«
»Du glaubst, es hat mit der First Family zu tun.«
»Ich hab's zumindest geglaubt, bis Tuck das gesagt hat.«
»Was gesagt?«
»Dass er an einem BioDefense-Projekt für die Regierung arbeitet.«