51.

Wir sind so ziemlich alles durchgegangen, was uns eingefallen ist«, sagte Phil Jenkins, Seans Professorenfreund an der Georgetown University. »Natürlich war das nicht Yi, wie du zunächst vermutet hast. Das Alphabet war schlicht falsch. Aber Collegeprofessoren lieben Herausforderungen wie diese. Also habe ich an einer anderen Fakultät angerufen und mich ein wenig interdisziplinär betätigt. Das war auf jeden Fall besser, als fünfzig Klausuren zu korrigieren.«

»Da möchte ich drauf wetten«, sagte Michelle, die auf der Kante von Jenkins' Schreibtisch saß. Sie hätte einen Stuhl vorgezogen, doch die beiden Sitzmöbel, die im Zimmer standen, waren von dicken Büchern belegt.

»Und was hast du herausgefunden?«, fragte Sean ungeduldig.

»Hast du schon mal von Muskogee gehört?«

»Ist das nicht eine Stadt in Wisconsin ... oder Oklahoma?«

»Nein, das ist eine Indianersprache, genauer gesagt eine Sprachfamilie.«

»Dann stammten die Zeichen aus dieser Muskogee-Sprache?«, fragte Michelle.

»Coushatta, um genau zu sein. Wie gesagt, ist Muskogee nur die Sprachfamilie.«

»Und was steht da?«, fragte Sean.

Jenkins schaute auf ein vollgekritzeltes Blatt Papier. »Das herauszufinden, war nicht ganz einfach, denn der Schreiber hat die diakritischen Zeichen ausgelassen. So gehört zum Beispiel ein Akzent zwischen Chaffa und kan. Und natürlich waren die Buchstaben nicht in Worte aufgeteilt. Das machte das Ganze ziemlich schwierig.«

»Offenbar wollten sie es uns nicht leicht machen«, bemerkte Sean.

»Nun, das ist ihnen gelungen«, erklärte Jenkins. »Soweit wir sagen können, steht da Folgendes: Chaffakan heißt ›eins‹. Hatka heißt ›weiß‹, und Tayyi heißt ›Frau‹.«

»Eine weiße Frau?«, hakte Sean nach.

»Eine tote weiße Frau«, korrigierte Michelle.

Jenkins hob den Blick und riss die Augen auf. »Tot?«

»Das ist eine lange Geschichte, Phil«, sagte Sean. »Was kannst du uns sonst noch sagen?«

»Ich habe mit einem unserer Professoren gesprochen, der auf indianische Sprachen spezialisiert ist. Er war auch derjenige, der unser Rätsel hier schlussendlich entschlüsselt hat. Der Stamm der Coushatta gehörte zur Creek-Konföderation und siedelte im heutigen Alabama. Als dort Europäer eindrangen und die Coushatta überdies unter den Druck anderer Stämme gerieten, sind sie und der Stamm der Alibamu zuerst nach Louisiana und dann nach Texas gezogen. Heutzutage leben offenbar keine Angehörigen dieses Stammes mehr in Alabama. Der Großteil der Menschen, die diese Sprache noch immer benutzen - und das sind nur ein paar hundert -, leben in Allen Parish, ein Stück nördlich von Elton, Louisiana. Ein paar vereinzelte Personen, die diese Sprache beherrschen, finden sich auch noch in Livingston, Texas.«

Michelle und Sean starrten einander an.

»Texas und Louisiana?«, bemerkte Michelle. »Ein ziemlich großes Gebiet, um es abzusuchen.«

»Aber eingeschränkt auf ein paar Städte und ein paar hundert Leute«, entgegnete Sean.

»Warum haben sie Pam die Worte überhaupt auf die Arme geschrieben? Sicher, sie haben uns die Lösung schwergemacht, aber nicht unmöglich«, sagte Michelle.

»Diese Worte haben auf den Armen einer Frau gestanden?«, fragte Jenkins. »Und gerade habt ihr von einer toten Frau gesprochen?«

»Nicht einfach nur tot«, erwiderte Michelle. »Ermordet.«

»Meine Güte!« Jenkins ließ das Papier auf den Tisch fallen.

»Ist schon okay, Phil«, sagte Sean. »Ich bezweifle, dass diese Leute uns noch einmal ihre Sprachkenntnisse demonstrieren werden. Vielen Dank für deine Hilfe.«

Als sie das Büro verließen, schüttelte Sean den Kopf. »Warum habe ich das Gefühl, dass das ein Ablenkungsmanöver ist?«

»Und ein bescheuertes noch dazu. Das war völlig unnötig.«

»Stimmt.«

»Und was jetzt?«

»Wir müssen mit Waters sprechen und ihm sagen, was wir wissen.«

»Mit diesem Idioten? Warum?«

»Weil wir es ihm versprochen haben. Und wir müssen Willa so schnell wie möglich finden. Dafür brauchen wir das FBI.«

»Ja. Aber sei nicht überrascht, wenn die sich plötzlich auf uns stürzen.«