71.

Jane hatte es herausgefunden. Sie war auf dem Weg nach Georgetown, um in ihrem Lieblingsrestaurant an der Ecke M-Street und Wisconsin zu essen. Sie war mit ihrem Bruder Tuck und zwei Freunden unterwegs, und natürlich wurde sie von der üblichen Secret-Service-Abteilung verfolgt. Die Vorhut hatte bereits jeden Zoll des Restaurants überprüft. Dann hatte eine weitere Vorausabteilung sämtliche Plätze im Restaurant besetzt, um sicherzustellen, dass sich bis zur Ankunft der First Lady und ihrer Freunde kein Terrorist oder Irrer an einen Tisch hockte und in aller Ruhe auf seine Beute wartete.

Der Plan, hier zu essen, war spontan entstanden, denn die First Lady hatte sich erst in letzter Minute dazu entschieden. Deshalb hatte der Secret Service überstürzt ein Team zusammenstellen müssen, aber daran waren sie gewöhnt - besonders in letzter Zeit mit Jane Cox, die seit der Entführung ihrer Nichte fast jeden Termin über den Haufen geworfen hatte.

Das Essen wurde serviert, der Wein getrunken. Dann und wann schaute Jane auf ihre Uhr. Tuck bemerkte es gar nicht. Er war viel zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Die anderen beiden Gäste hatte Jane nur deshalb ausgewählt, weil sie die Eigenschaft besaßen, systematisch alles zu ignorieren, was nichts mit Politik zu tun hatte. Nach ein paar höflichen Fragen, wie es Tuck gehe und ob es schon etwas Neues in dem Fall gebe, plapperten sie munter über diesen oder jenen Senator, den Stand des Wahlkampfs und die letzten Umfragewerte. Jane nickte immer nur und gab ihnen gerade genug Feedback, um sie am Reden zu halten.

Und sie schaute weiter auf die Uhr.

Sie hatte dieses Restaurant nicht nur wegen des guten Essens ausgesucht. Es gab noch einen anderen Grund.

Fünf Minuten vor elf winkte sie dem Chef ihrer Sicherheitsabteilung, der an einem Ecktisch saß. Der Mann sprach in sein Funkgerät. Daraufhin ging eine Agentin zur Damentoilette. Sie überprüfte den Waschraum, gab das Okay-Zeichen und baute sich dann vor der Tür auf, um andere weibliche Gäste davon abzuhalten, die Räumlichkeiten zu betreten, egal wie sehr ihre Blase drücken mochte.

Zwei Minuten vor elf betrat die First Lady die Damentoilette, ging nach hinten und starrte es an.

Das war der Grund, warum sie hierhergekommen war. Dieses Restaurant war das einzige seiner Art, das sie kannte, und das noch ein funktionierendes Münztelefon in der Damentoilette hatte.

Jane hatte sich eine Telefonkarte besorgt. Ihre Kreditkarte wollte sie nicht benutzen; die hätte man zurückverfolgen können. Sie wählte die Nummer aus dem Gedächtnis.

Es klingelte einmal. Zweimal. Dann hob jemand ab. Jane atmete tief durch.

»Hallo?«, sagte eine Männerstimme.

»Jane Cox hier«, erwiderte Jane so deutlich, wie sie konnte.

***

Sam Quarry saß in seiner Bibliothek in Atlee. Im Kamin prasselte ein Feuer. Er würde den verdammten Schürhaken heute richtig zum Glühen bringen. Quarry trank einen Schluck seines liebsten Schwarzgebrannten. Vor ihm standen Fotos von Tippi und seiner Frau. Die Bühne war bereitet. Er hatte Jahre mit der Planung verbracht. Jetzt war der Moment endlich gekommen.

Quarry benutzte ein Klon-Handy. Er hatte es sich von Daryl besorgen lassen, der einen Burschen kannte, der auf solche Sachen spezialisiert war: illegal und nicht nachzuverfolgen.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er bedächtig. »Sie sind sehr pünktlich.«

»Was wollen Sie?«, fragte Jane schroff. »Wenn Sie Willa etwas antun, dann ...«

Quarry fiel ihr ins Wort. »Ich weiß, dass Sie vermutlich Tausende Leute um sich haben, die sich gerade fragen, was Sie tun. Also lassen Sie mich reden, und bringen wir es hinter uns.«

»Einverstanden.«

»Ihrer Nichte geht es gut. Ich habe auch ihre Mutter bei mir.«

»Ihre Mutter ist tot«, entgegnete Jane. »Sie haben sie ermordet.«

»Ich meine ihre echte Mutter. Sie kennen Sie als Diane Wright. Inzwischen heißt sie Diane Wohl. Sie hat geheiratet, ist umgezogen und hat noch mal von vorn begonnen. Ich wusste nicht, ob Sie das wissen ... oder ob es Sie überhaupt interessiert.«

Jane stand am Telefon in der Damentoilette und hatte das Gefühl, als hätte ihr gerade jemand in den Kopf geschossen. Sie musste sich an der Wand abstützen.

»Ich weiß nicht, was ...«

Erneut unterbrach Quarry sie. »Ich werde Ihnen jetzt sagen, was Sie tun müssen, um Willa wiederzusehen - und nicht als Leiche, meine ich.«

»Woher soll ich überhaupt wissen, dass Sie Willa haben?«

»Hören Sie einfach zu.«

Quarry schaltete ein altes Diktiergerät ein und hielt es an das Handy. Bei seinen Besuchen bei Willa und Diana hatte er das Gerät stets dabeigehabt und die Stimmen der beiden heimlich aufgenommen.

»Willa zuerst«, sagte er. Willas Stimme klang vollkommen klar, als sie sich mit Quarry über den Grund für die Entführung unterhielt.

»Und jetzt Diane. Ich dachte, Sie wollten sich mal anhören, warum sie ihre Tochter aufgegeben hat.«

Nun kam Diane, gefolgt von Quarry, der ihr die Ergebnisse des DNA-Tests erläuterte.

Quarry schaltete das Gerät aus und hob das Handy ans Ohr. »Zufrieden?«

»Warum tun Sie das?«, fragte Jane benommen.

»Gerechtigkeit.«

»Gerechtigkeit? Wer ist durch Willas Adoption denn zu Schaden gekommen? Wir haben ihr einen Gefallen getan. Die Frau hat sie nicht gewollt, und ich kannte jemanden, bei dem das anders war.«

»Diane Wohl interessiert mich einen Scheiß, ebenso wenig die Frage, ob Ihr Bruder und seine Frau mit einem kleinen Mädchen glücklich sind. Ich habe sie und Willa gebraucht, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Warum?« Jane hob die Stimme.

»Mrs. Cox?« Das war die Agentin draußen. »Alles in Ordnung?«

»Ich rede nur mit jemandem«, antwortete Jane rasch. »Am Telefon«, fügte sie hinzu.

Quarry sagte: »Klingelt es bei dem Namen Tippi, oder haben sie ihn direkt aus Ihrem Gedächtnis verbannt?«

»Tippi?«

»Tippi Quarry, Atlanta«, fügte Quarry nun lauter hinzu, und sein Blick ruhte auf dem Bild seiner Tochter.

Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden ...

»O Gott!«, stieß Jane hervor.

»›O Gott‹ trifft es ziemlich genau, Lady.«

»Hören Sie zu. Bitte, ich ...«

»Nein, Sie hören mir jetzt zu. Ich weiß alles. Ich habe die Daten, die Namen, die Orte, alles. Jetzt werde ich Ihnen einen Flughafen nennen, zu dem Sie fliegen sollen. Nach Ihrer Ankunft werden Sie eine sehr detaillierte Karte mit den Koordinaten des Ortes finden, an den Sie gehen sollen. Geben Sie die Karte Ihren Bundesfliegern; die werden wissen, wo sie hinmüssen. Es sind größtenteils Zahlen, also nehmen Sie sich jetzt ein Stück Papier und schreiben Sie es auf. Sie dürften sich keinen Fehler erlauben.«

Jane kramte in ihrer Handtasche nach Stift und Papier.

»Alles klar«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Quarry nannte ihr den Flughafen und die zusätzlichen Koordinaten.

»Und Sie wollen, dass ich zu diesem Ort komme?«

»Himmel, nein! Ich will, dass Sie beide kommen.«

»Beide? Wann?«

Quarry schaute auf die Uhr. »In neun Stunden von jetzt an gerechnet. Seien Sie pünktlich. Keine Minute zu früh oder zu spät, wenn Sie das kleine Mädchen noch atmend sehen wollen.«

Jane schaute auf die Uhr. »Das ist unmöglich. Er ist heute zwar in der Stadt, soll aber morgen früh eine Rede vor den Vereinten Nationen in New York halten.«

»Meinetwegen kann er einen Termin beim lieben Gott haben. Wenn Sie nicht in genau neun Stunden dort sind, dann werden Sie Willa nicht lebend wiedersehen. Und diese DNA-Tests und alles andere werden überall in den Medien zu finden sein. Ich kann alles beweisen. Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, das alles zusammenzutragen. Sie haben unser Leben zerstört, Lady, und Ihr eigenes dann einfach weitergelebt. Nun, jetzt ist Zahltag. Jetzt ist Tippis Zeit gekommen. Meine verdammte Zeit!«

»Bitte, können Sie uns nicht ...«

»Hier sind die Instruktionen, wie Sie dorthin kommen. Sie sollten die Anweisungen haargenau befolgen. Wenn nicht ... oder wenn Sie das FBI auf mich hetzen ... werde ich es wissen. Sofort. Und dann stirbt Willa, und die ganze Wahrheit kommt ans Licht. Dann gibt es keine zweite Amtszeit für den lieben Danny Boy. Garantiert.«

Jane liefen die Tränen über die Wangen.

Auch Quarry rannen Tränen über die Wangen, als er auf die Fotos der beiden wichtigsten Frauen in seinem Leben schaute, die ihm auf immer genommen worden waren. Und das alles wegen der Frau, mit der er gerade sprach. Wegen ihr. Und wegen ihm.

»Hören Sie mir jetzt zu?«, fragte er mit ruhiger Stimme.

»Ja«, flüsterte Jane.

Quarry erteilte ihr die Instruktionen.

Jane murmelte: »Und wenn wir das tun, kommt Willa frei? Und Sie werden ... Sie werden niemandem etwas sagen?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort.«

»Das ist alles? Wie soll ich Ihnen denn vertrauen? Ich kenne Sie ja nicht mal.«

»Doch, Sie kennen mich.«

»Ich ... Ich kenne Sie?«, stammelte Jane.

»Und ob. Ich bin Ihr schlimmster Albtraum. Und wollen Sie wissen warum?« Jane antwortete nicht darauf. Quarry sagte: »Weil Sie beide mein schlimmster Albtraum waren.«

»Sind Sie ihr Vater?«, fragte Jane mit tonloser Stimme.

»Die Uhr läuft«, sagte Quarry. »Sie sollten sich in Bewegung setzen. Es ist ja nicht so, als könnten Sie und der Mann einfach in ein Taxi springen. Das haben Sie nun von Ihrer beschissenen Macht. Sie können sich ungefähr so schnell bewegen wie eine tote Kuh.« Er legte auf, warf das Handy durchs Zimmer lehnte sich erschöpft zurück. Dann packte er den Schürhaken, krempelte den Ärmel hoch und brannte sich den letzten Strich in den Arm. Jetzt war das Zeichen vollständig. Der Schmerz war furchtbar. Mit jeder Brandwunde wurde es nicht leichter, sondern schwerer. Und doch gab Quarry keinen Laut von sich, verzog nicht das Gesicht, weinte nicht einmal. Er starrte dabei nur das Bild von Tippi an.

Und er fühlte nichts. Genau wie sein kleines Mädchen nichts empfand. Nichts. Wegen ihnen.

Dann verließ er rasch das Zimmer. Es gab noch viel zu tun, bevor sie kamen. Ihm schoss bereits das Adrenalin durch die Venen.

In Georgetown ließ Jane den Hörer fallen und rannte aus der Damentoilette.

Die Uhr lief.