84.

Dan Cox war in einigen der besten Schulen des Landes unterrichtet worden. Er konnte hart zupacken und war erfolgsverwöhnt. Als Präsident kannte er sich ebenso gut mit Außen- wie mit Innenpolitik aus. Es gab nicht viele Schwachstellen in seiner intellektuellen Rüstung. Doch trotz alledem waren die Menschen, die das Präsidentenpaar besser kannten, sich darin einig, dass Jane Cox vermutlich die klügere von beiden war - zumindest die listigere.

Als sie nun in einem Helikopter über das ländliche Alabama flog, demonstrierte Jane wieder einmal, wie zutreffend diese Einschätzung war. Sie war zu der Erkenntnis gelangt, dass Dan Cox' Plan nicht aufgehen würde. Diese Sache konnte man nicht einfach irgendwelchen Terroristen in die Schuhe schieben; so leicht kam man nicht aus dieser Nummer raus. Außerdem wussten sie noch zu wenig über das, was geschehen war, als dass sie eine fundierte Entscheidung hätten treffen können.

Jane starrte aus dem Fenster und sah das große Haus tief unten. Tatsächlich hatte sie schon die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut. Jetzt aber flogen sie zum ersten Mal an dem Haus vorbei. Die Wahrscheinlichkeit war groß, überlegte Jane, dass dem Besitzer dieses Hauses auch die kleine Hütte gehörte, in der sie um ein Haar gestorben waren. Sie zeigte darauf.

»Das Haus da ... wem gehört dieser Besitz?«

Ein junger Agent blickte an ihr vorbei aus dem Fenster. »Ich weiß es nicht, Ma'am, tut mir leid.«

Das war noch so etwas, das Jane Cox clever eingefädelt hatte. Larry Foster und Chuck Waters flogen mit ihrem Mann. Auch den Veteranen Aaron Betack hatte sie in die andere Maschine verbannt. Ein einziger strenger Blick hatte genügt, und Betack war in die Sicherheit der Marine One geflüchtet. Mit Agent Waters hatte Jane es genauso gemacht. Die Agenten, die sie nun bei sich hatte, waren alle noch ziemlich jung, und auch mit den beiden MG-Schützen des SWAT-Teams wusste Jane Cox umzugehen.

»Ich möchte zu diesem Haus«, sagte sie.

»Ma'am?« Der Agent war verwirrt.

»Sagen Sie dem Piloten, er soll vor dem Haus landen.«

»Aber meine Befehle ...«

»Ich habe gerade erst eine schreckliche Situation überstanden. Ich wäre beinahe getötet worden. Ich fühle mich nicht gut, und ich will aus dieser Maschine, bevor ich mich übergebe. War das deutlich genug für Sie? Falls nicht, werde ich es später dem Präsidenten berichten, und der wird dann in Washington ein Wörtchen mit Ihrem Vorgesetzten reden.«

Die beiden SWAT-Schützen schauten einander an, sagten aber nichts. Sie hockten nur stumm hinter ihren MGs. Die anderen Agenten in der Maschine starrten zu Boden; keiner von ihnen wollte der Frau in die Augen schauen.

Der Agent neben Jane sagte in sein Headset: »Walt, bring uns runter.«

Eine Minute später landeten sie, und Jane stieg aus dem Hubschrauber und ging nach Atlee.

Der junge Agent lief ihr voraus. »Ma'am, darf ich fragen, wohin Sie wollen?«

»Ich gehe in das Haus da, um mir Wasser zu besorgen und mich ein wenig hinzulegen. Haben Sie ein Problem damit?«

»Nein, Ma'am, natürlich nicht, aber lassen Sie mich das Haus zuerst überprüfen.«

Jane musterte ihn verächtlich. »Glauben Sie etwa, dass sich Terroristen oder Kriminelle in diesem alten Haus verbergen?«

»Wir müssen ein Protokoll befolgen, Ma'am. Lassen Sie mich nur kurz nachsehen.«

Jane ging einfach an ihm vorbei und zwang die Agenten auf diese Weise, an ihr vorbeizurennen und einen improvisierten Schutzschild zu errichten.

Die Tür ging auf, und Ruth Ann stand in ihrer Küchenschürze da. Als sie sah, wer geklingelt hatte, klappte ihre Kinnlade nach unten.

»Dürfte ich Sie um ein Glas Wasser und einen Platz bitten, an dem ich mich ein wenig auszuruhen kann, Miss ...«, sagte Jane.

Als Ruth Ann die Stimme wiederfand, antwortete sie: »Ich bin Ruth Ann. Sie ... äh ... kommen Sie herein, Ma'am. Ich hole Ihnen Wasser.«

Nachdem sie das Glas Wasser gebracht hatte, wollte Ruth Ann wieder gehen, doch Jane winkte ihr, zu bleiben.

Ruth Ann setzte sich ihr gegenüber. Sie sah schrecklich nervös aus, und ihr Gesicht war bleich.

Jane wandte sich an den Chef ihrer Sicherheitsabteilung. »Würden Sie bitte draußen warten? Ich glaube, Sie machen unsere Freundin hier ein bisschen unruhig.«

»Ma'am, ich ...«, begann der Agent.

»Danke«, sagte Jane und drehte sich von ihm weg.

»Wohnen Sie hier allein?«, fragte Jane, nachdem der Agent sich zurückgezogen hatte.

»Nein, Ma'am«, antwortete Ruth Ann. »Ich wohne hier mit meinem Sohn. Und mit Mr. Sam. Das ist sein Haus.«

»Sam?«

»Sam Quarry.«

»Ich kenne diesen Namen. Er hat eine Tochter, nicht wahr? Tippi?«

»Ja, Ma'am. Sie ist im Augenblick nicht hier. Ich weiß nicht, wo sie sich befindet.« Ruth Ann wäre am liebsten davongerannt; stattdessen fummelte sie mit ihren schmutzigen, schwieligen Fingern an ihrer Schürze herum.

»Hat Sie in letzter Zeit jemand besucht?«

Ruth Ann senkte den Blick. »Ich ... äh ...«

Jane legte der Frau sanft die Hand auf die knochige Schulter. »Ich bin nicht zufällig hier, Ruth Ann. Ich weiß gewisse Dinge. Von Sam, zum Beispiel. Ich bin hierhergekommen, um ihm zu helfen. Und Ihnen und Ihrem Sohn. Ist er hier?«

Ruth Ann schüttelte den Kopf. »Er ist mit diesen Leuten weg.«

»Was denn für Leute?«

»Ein Mann und eine Frau.«

»Kannten Sie sie?«

»Nein, sie sind heute Morgen einfach aufgetaucht.«

»Was denn? Sie lassen Ihren Sohn einfach so mit vollkommen Fremden gehen?«

»Ich ... Er wollte es. Die Frau und der Mann arbeiten für die Regierung, wie die Polizei. Und Gabriel hat gesagt, er wolle mitgehen, um Mr. Sam zu helfen. Wenn Mr. Sam etwas Falsches getan hat, weiß ich nichts davon. Ich weiß gar nichts. Und Gabriel auch nicht.« Eine Träne tropfte auf ihre Schürze.

»Da bin sicher, Ruth Ann. Davon bin ich überzeugt. Diese Leute sind also hergekommen? Haben sie Ihnen ihre Namen gesagt?«

»Der Mann hat seinen Namen gesagt ... King ... ja, King.«

»Ein großer, gutaussehender Mann? Und die Frau war ebenfalls groß und brünett?«

»Sie kennen sie?«

»Die beiden sind Freunde von mir. Was wollten sie hier?«

»Sie haben nach Ihrer Nichte gesucht. Ich habe ihnen gesagt, wir wüssten nichts darüber. Und ich schwöre bei Gott, dass wir wirklich nichts darüber wissen, Ma'am!«

»Schon gut, ich glaube Ihnen«, sagte Jane in beruhigendem Tonfall. »Natürlich wissen Sie nichts darüber.«

»Und dann wollte Gabriel ihnen unbedingt diesen Raum zeigen.«

»Was denn für einen Raum?«

»Den unten im Keller. Mr. Sam hat jede Menge Zeug in diesem Raum gelagert. Und dann sind da diese Sachen an den Wänden. Bilder, Zettel. Auch ein Bild von Ihrer Nichte. Gabriel hat es mir gezeigt. Sie ist ein hübsches Mädchen.«

»Und King und seine Freundin haben diesen Raum gesehen?«

»Oh ja, sie waren lange da drin, und sie waren ziemlich aufgeregt.«

»Können Sie mir den Raum zeigen?«

»Ma'am?«

Jane stand auf. »Ich würde ihn wirklich gerne sehen.«

Sie gingen nach unten. Jane ignorierte die Proteste ihres Sicherheitsteams. Sie erreichten den Raum. Die Tür war nicht verschlossen. Der Chefagent bestand darauf, sich zumindest davon zu überzeugen, dass niemand in dem Raum lauerte.

»Das wird aber alles sein, was Sie tun«, sagte Jane streng. »Schalten Sie nicht mal das Licht ein, verstanden? Und kommen Sie sofort wieder heraus.«

Es dauerte nur wenige Sekunden, um festzustellen, dass der Raum leer war.

Jane drehte sich zu Ruth Ann um. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich allein hineingehe?«

»Gehen Sie nur, Ma'am«, antwortete Ruth Ann. »Mich bekommen Sie sowieso nicht mehr da rein.«

Jane schloss die Tür hinter sich, knipste das Licht ein und schaute sich um.

Sie begann an einem Ende des Raums und drehte sich immer weiter, bis sie das andere Ende erreicht hatte. Mit jedem Foto, jeder Karteikarte, jedem Namen, jedem Datum und jeder Beschreibung eines Ereignisses kehrten furchtbare Erinnerungen zurück.

»Er hat mich vergewaltigt, Daddy«, las sie an der Wand, als sie wieder zum Anfang zurückgekehrt war. Jane nahm sich einen Stuhl, stellte ihn mitten in den Raum, setzte sich und las die Geschichte ... ihre Geschichte.

Sie schaute in den Aktenschränken nach, aber die waren fast leer.

Nur einmal wäre sie beinahe in Tränen ausgebrochen, als sie ein Bild von Willa sah. Sie war nicht ganz ehrlich zu ihrem Mann gewesen. Sie hatte Willa in der Familie haben wollen, weil sie auf diese Weise immer ein Druckmittel gegen ihn in der Hand haben würde. Dan war die meiste Zeit ein guter Mann, aber er war unberechenbar. Jane war sicher, dass irgendwann die Zeit kommen würde - später, wenn sie aus dem Weißen Haus ausgezogen waren -, dass sie solch ein Druckmittel gebrauchen konnte. Außerdem hatte sie stets die Vorstellung fasziniert, dass der Präsident der Vereinigten Staaten nicht so mächtig war wie seine Frau.

Doch im Lauf der Jahre hatte sie Willa lieben gelernt. Sie wollte sie wieder zurück.

Jane konnte nicht anders, als Sam Quarry für sein Können und seine Hartnäckigkeit zu bewundern. Das war wirklich eine bemerkenswerte Leistung. Nach allem, was heute geschehen war, würde es selbstverständlich eine Untersuchung geben. Das war das eigentliche Problem, aber es war nicht unüberwindbar.

Dan würde weiter der charmante politische Führer der freien Welt bleiben. Jane wusste genau, was sie tun musste. Und effizient, wie sie war, machte sie sich ans Werk. Sie musste einfach nur hinter ihrem Mann aufräumen. Wieder einmal.

So würde man sich nicht an ihrem Mann erinnern. Jane starrte auf die Wand. Er hatte sich verändert. Das hatte er nicht verdient.

Und ich auch nicht.

Wenn man sich so nach oben gekämpft hatte wie Jane und Dan, dann verlor man jegliche Individualität. Es gab kein »Er« und »Sie« mehr. Man verschmolz zu einer Einheit.

Fünf Minuten später kam Jane wieder heraus und schloss die Tür hinter sich.

Sie schaute den jungen Agenten an. »Ich will sofort nach D. C. zurück.« Sie wandte sich Ruth Ann zu. »Danke für Ihre Gastfreundschaft.«

»Ja, Ma'am. Danke, Ma'am.«

»Es kommt alles wieder in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen.«

Sie stiegen die Treppe hinauf und verließen das Haus.

Wenige Sekunden später hob der Hubschrauber ab. Er drehte nach Nordwesten, und der Pilot gab Schub. Kurz darauf waren sie nicht mehr zu sehen.

Ruth Ann schloss die Vordertür und ging in die Küche zurück. Ein paar Minuten später roch sie etwas Seltsames. Sie ging von Zimmer zu Zimmer und versuchte herauszufinden, was es war. Schließlich stieg sie die Treppe hinunter, eilte durch den Flur und erreichte schließlich die Tür zu dem Kellerraum. Verwirrt zog sie sie auf.

Genau in diesem Augenblick erreichte das Feuer, das Jane Cox mit Verdünner, Lumpen und einem Streichholz gelegt hatte, die unter Druck stehenden Sauerstoffflaschen. Die Explosion erschütterte das alte Herrenhaus bis in die Grundfesten. Der Feuerball, der aus der Tür schoss, hüllte Ruth Ann in Flammen und verbrannte sie binnen Sekunden. Sie hatte nicht einmal Zeit zu schreien.

Als das Feuer schließlich bemerkt und Hilfe herbeigerufen wurde, war es zu spät. Als die Feuerwehr eintraf, war praktisch nichts mehr von Atlee übrig.

Einige Zeit später fuhren Sean, Michelle, Willa und Gabriel in Michelles SUV die Zufahrt hinauf. Als sie sahen, was los war, sprang Gabriel aus dem Wagen und rannte los.

»Momma! Momma!«

Michelle trat aufs Gas, und sie rasten dem Jungen hinterher. Gabriel rannte so schnell, dass sie die Ruinen des Hauses gleichzeitig erreichten. Als sie aus dem Wagen stiegen, hatte Gabriel sich bereits an den Feuerwehrleuten vorbeigeduckt und kämpfte sich in die Überreste des Hauses voran. Sean lief ihm hinterher. »Gabriel!«

Michelle rannte zu einem der Feuerwehrleute und hielt ihm ihre Detektivlizenz unter die Nase. »Haben Sie hier jemanden gefunden? Eine schwarze Lady?«

Der Mann schaute sie traurig an. »Wir haben ... ein paar Überreste gefunden.« Er blickte zu Gabriel, der sich auf der Suche nach seiner Mutter durch die Trümmer wühlte.

Michelle drehte sich um und lief zu den anderen. Gabriel ließ sich schluchzend auf den Boden sinken. Er hielt irgendetwas in der Hand. Michelle beugte sich vor. Es war ein verbranntes Stück Stoff - der Rest einer Schürze.

Während Sean und Michelle versuchten, den kleinen Jungen zu trösten, ging Willa vorsichtig durch die nassen, rauchenden Trümmer, setzte sich neben Gabriel in den Schmutz und zog ihn in ihre Umarmung.

Er drehte sich zu ihr um. »Das hier ... es hat meiner Ma gehört ...«

»Es tut mir leid«, sagte Willa leise. »Es tut mir schrecklich leid, Gabriel.«

Das Gesicht des Jungen war von Schmerz gezeichnet, aber er nickte dankbar; dann brach er wieder in Schluchzen aus. Willa drückte ihn an sich.

Sean schaute zu Michelle. »Ich hätte nie gedacht, dass seine Mutter in Gefahr schwebt«, flüsterte er ihr zu.

»Das konnten wir unmöglich wissen. Glaubst du, Quarry war das? Um die Beweise zu vernichten?«

»Ich weiß es nicht.«

Sean und Michelle hielten sich im Hintergrund und beobachteten, wie die beiden Kinder einander trösteten. Ihren Gesichtern war anzusehen, dass sie das Gleiche dachten.

Willa wusste es noch nicht, aber sie würde bald dasselbe Gefühl von Trauer erleben. Und weder Sean noch Michelle hatten den Mut, es ihr zu sagen.

***

Noch bevor der letzte Dachbalken in das glühende Inferno von Atlee stürzte, landeten Jane und Dan Cox auf der Andrews Air Force Base.

Jane erzählte ihrem Mann, was sie getan hatte. Er lobte seine Frau für ihre rasche Auffassungsgabe und gab ihr einen Kuss. Trotz des wahrscheinlichen Verlusts ihrer Nichte fuhr das Präsidentenpaar so gut gelaunt ins Weiße Haus zurück wie lange nicht mehr.

Sie hatten überlebt - wieder einmal.