19.

Als der junge Agent des Secret Service die Post nach oben brachte, erregte ein Päckchen seine Aufmerksamkeit. Es hatte keinen Absender, und die Adresse war in Blockbuchstaben geschrieben. Der junge Agent gab diese Information an seine Vorgesetzten weiter, und binnen dreißig Minuten rumpelte der Van des Bombenentschärfungskommandos über die Straße.

Die Bombenexperten wirkten ihre Magie, und glücklicherweise löste die Gegend sich nicht in einem Atompilz auf. Trotzdem war der Inhalt des Päckchens ungewöhnlich.

Es enthielt eine kleine Schüssel mit den Resten von Müsli und Milch.

An einem Löffel klebten die gleichen Überreste.

Dazu befand sich ein Umschlag mit einem maschinengeschriebenen Brief in dem Päckchen.

Nachdem die Spezialisten festgestellt hatten, dass weder Kästchen, Umschlag oder Brief verwertbare Spuren enthielten, richteten die Agenten ihre Aufmerksamkeit auf den Brief.

Überprüfen Sie die Fingerabdrücke auf Schüssel und Löffel. Sie werden feststellen, dass sie Willa Dutton gehören. Wir haben sie. Sie ist in Sicherheit. Wir werden bald Verbindung zu Ihnen aufnehmen.

Das Päckchen war im Haus von Pam Duttons Schwester in Bethesda eingegangen, wo John und Colleen Dutton unter dem Schutz des Secret Service untergebracht waren.

Als man die Fingerabdrücke mit denen verglich, die man in Willas Schlafzimmer genommen hatte, stellte man eine Übereinstimmung fest.

Sofort kontaktierte der Secret Service die Post, um den Herkunftsort des Päckchens festzustellen. Der Angelegenheit wurde höchste Priorität eingeräumt. Allerdings kamen sie nicht weiter als bis nach Dalton, eine Kleinstadt im Norden Georgias.

Später an diesem Nachmittag kontaktierte man Sean und Michelle und bat sie, ins Finanzministerium zu kommen, das sich östlich vom Weißen Haus befand. Sie wurden in den Untergrund des Gebäudes eskortiert, wo sie einen langen Tunnel betraten, der genau nach Westen verlief und das Ministerium mit dem Weißen Haus verband. Sean war schon einmal hier gewesen, als er noch im Weißen Haus gearbeitet hatte; für Michelle war es das erste Mal. Als sie durch den langen Gang mit den geschlossenen Türen gingen, flüsterte Sean Michelle zu: »Ich könnte dir Geschichten erzählen, was so alles hinter diesen Türen passiert ist ...«

»Hat man eine Tür gesehen, kennt man sie alle«, gab Michelle leise zurück.

Die First Lady empfing sie in ihrem Büro im East Wing. Sie trug eine schwarze Hose und einen blassblauen Sweater; unter dem Schreibtisch lagen ihre schwarzen Pumps. Sie sah müder aus als bei ihrem letzten Zusammentreffen.

Sean war überrascht, dass Aaron Betack im Hintergrund stand. Nein, kauern war wohl das treffendere Wort, überlegte Sean. Der Mann sah nicht so aus, als wollte er hier sein. Doch was die First Lady wollte, bekam sie zumeist auch.

»In Zeiten wie diesen bereue ich's, das Rauchen aufgegeben zu haben«, sagte Jane und winkte die beiden Privatdetektive zu Stühlen ihr gegenüber.

»Waren Sie nicht gerade erst bei einer Wahlkampfveranstaltung in Connecticut?«, fragte Sean.

Jane nickte gedankenverloren. »Nachdem man mir von dem Päckchen erzählt hatte, bin ich früher zurückgekommen. Ich habe Agent Betack hergebeten, damit er Ihnen im Namen des Secret Service sämtliche Fragen beantworten kann, falls Sie welche haben.«

Sean und Michelle schauten zu Betack, der nicht im Mindesten interessiert zu sein schien, ihnen auch nur die Uhrzeit zu sagen. Doch er nickte und versuchte sich an einem Lächeln. Dabei sah er jedoch eher so aus, als leide er an Verstopfung.

Jane sagte: »Ich habe gehört, das FBI war nicht sonderlich kooperativ. Ich gehe davon aus, dass das inzwischen geregelt ist, und dass es seitens anderer Behörden keinerlei Schwierigkeiten gibt.«

Neben dem FBI war noch eine weitere Behörde in den Fall involviert, und deren Repräsentant stand direkt hinter ihr. Bei jedem Wort wurde er roter.

Sean beeilte sich zu versichern: »Doch, doch, alle waren sehr kooperativ. Besonders der Secret Service. Die letzte Zeit war stressig für uns alle, aber sie waren immer für uns da.«

»Hervorragend«, sagte Jane.

Betack starrte Sean einen langen Augenblick an und nickte dann knapp - ein stummer Dank für die kleine Lüge.

Jane Cox setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm sich ein paar Minuten Zeit zu erklären, was passiert war. Betack wiederum berichtete technische Details zu Lieferung und Inhalt des Päckchens.

Schließlich sagte Michelle: »Also wird sie tatsächlich von irgendjemandem festgehalten. Sie sagen, sie sei in Sicherheit, und sie würden uns später kontaktieren.«

»Wir wissen nicht, ob sie wirklich sicher ist«, erwiderte Jane gereizt. »Sie könnte genauso gut tot sein.«

»Es ist sehr beunruhigend, dass sie genau wussten, wohin sie das Päckchen schicken mussten«, bemerkte Sean.

Betack nickte. »Wir nehmen an, dass die Täter eingehende Nachforschungen über die Familie angestellt haben. Deshalb wussten sie wohl auch, dass die Tante in der Nähe wohnt. Aber selbst wenn die Kinder dort nicht untergebracht wären, hätte das Päckchen uns erreicht.«

»Oder die Kidnapper verfügen über Insiderwissen«, sagte Sean und schaute Betack scharf an. »Damit will ich nicht sagen, dass diese Informationen vom Secret Service kommen. Lecks könnte es auch anderswo geben.«

»Da haben Sie recht«, bestätigte Betack. »Wir ermitteln bereits in diese Richtung.«

»Und was machen wir jetzt?«, wollte Jane wissen.

»Konnten Sie feststellen, wo das Päckchen aufgegeben worden ist?«, fragte Sean.

»In Dalton, Georgia«, antwortete Jane. »Jedenfalls hat der FBI-Direktor mir das gesagt.«

Betack bestätigte es mit einem Nicken.

»Okay«, sagte Sean, »das ist ja schon mal was. In jedem Postzentrum werden nur die Sendungen in einem bestimmten Umkreis bearbeitet. Das engt die Suche ein. Man braucht zwar jede Menge Leute dafür, aber so ein Gebiet kann man abdecken.«

»Das FBI ist bereits dabei«, sagte Betack.

»Aber wenn ich der Entführer wäre«, warf Michelle ein, »wüsste ich das und würde ein solches Päckchen entsprechend weit von Tennessee oder Alabama entfernt aufgeben.«

»Das macht die Suche zwar schwer, aber nicht unmöglich«, bemerkte Betack. »Außerdem ist es eine der wenigen Spuren, die wir überhaupt haben.«

Sean schaute zu Jane. Sie starrte auf das Foto in ihren Händen. Dann drehte sie es um, sodass alle es sehen konnten. Es zeigte Willa auf einem Pferd.

»Das war kurz nach ihrem sechsten Geburtstag. Sie hatte sich ein Pony gewünscht, wie vermutlich alle kleinen Mädchen. Dan war damals noch im Senat. Wir haben sie auf eine kleine Farm nicht weit von Purceville in Virginia mitgenommen. Sie ist sofort auf das Tier geklettert, und wir hätten sie fast nicht mehr herunterbekommen. Die meisten Kinder hätten eine Heidenangst gehabt.«

Langsam legte sie das Foto beiseite.

»Sie ist ein tapferes Mädchen«, sagte Sean leise.

»Ja, sie ist tapfer und klug«, erwiderte Jane, »aber sie ist immer noch ein kleines Mädchen.«

»Hat das FBI irgendeine Idee, was das Motiv betrifft?«, fragte Michelle.

»Soviel ich weiß, nein.«

Sie schaute zu Betack, der nur den Kopf schüttelte.

»Wir haben mit Tuck gesprochen und waren in seinem Büro.«

»Und? Haben Sie etwas gefunden?«

Sean ruckte verlegen auf seinem Stuhl und schaute dann nervös zu Betack. »Das ist jetzt vielleicht ein bisschen zu persönlich.«

Betack drehte sich zur First Lady um. »Ich kann ruhig gehen, Mrs. Cox.«

Jane dachte kurz nach. »Also schön«, sagte sie schließlich. »Danke, Agent Betack. Der Präsident und ich möchten sofort über jede neue Entwicklung informiert werden.«

Nachdem Betack gegangen war, fragte sie: »Was meinst du mit persönlich, Sean?« Nun, da sie alleine waren, wechselte Jane Cox zum »Du«. Leute wie Betack mussten nicht wissen, wie nahe Jane und Sean sich standen.

»Hat Pam dir je von Problemen in ihrer Ehe erzählt?«

»Warum willst du das wissen?«, fragte Jane.

»Ich will nur jede Möglichkeit in Betracht ziehen«, erklärte Sean. »Also, war da was?«

Jane lehnte sich zurück und legte die Finger zusammen, wobei sie bedächtig nickte. »Es war während der Party in Camp David. Wir haben darüber gesprochen, dass Tuck nicht da war. Dass er geschäftlich unterwegs war. Es war eigentlich nichts, aber ...«

»Aber was?«

»Ich hatte den Eindruck, sie wollte mir etwas sagen, aber das hat sie nicht. Ich habe eine beiläufige Bemerkung gemacht von wegen, Tuck sei nun mal Tuck, und dass er am nächsten Tag wieder da sein würde.« Sie schaute zwischen Sean und Michelle hindurch. »Was ist denn?«, fragte sie.

Die beiden hatten sich vorgebeugt. »Tuck hätte erst am Tag nach der Entführung zurückkommen sollen?«, fragte Sean.

Jane sah ihn verunsichert an. »Ja. Ich glaube zumindest, dass sie das gesagt hat. Aber dann war er da, als es passierte.« Jane beugte sich ebenfalls vor. »Was ist los?«

Sean schaute zu Michelle. »Tuck könnte eine Affäre haben.«

Jane stand auf. »Was?«

»Hast du nichts davon gewusst?«

»Natürlich nicht, denn es stimmt nicht. Mein Bruder würde so etwas niemals tun. Was hast du für Beweise?«

»Genug, um eine weitere Untersuchung zu rechtfertigen.«

Jane setzte sich wieder. »Das ... Das ist unglaublich.« Sie hob den Blick. »Wenn ihr glaubt, dass er eine Affäre gehabt hat, wollt ihr damit doch wohl nicht sagen, dass ...«

»Die Frage kann ich nicht beantworten, Jane. Jedenfalls jetzt noch nicht. Wir sind erst seit Kurzem an diesem Fall und tun, was wir können.«

»Das Wichtigste ist, Willa gesund nach Hause zu bringen«, fügte Michelle hinzu.

»Natürlich.« Jane legte zitternd die Hand auf die Stirn. »Deshalb habe ich euch ja um Hilfe gebeten.«

Sean fiel es nicht schwer, ihre Gedanken zu lesen. »Wenn man eine Ermittlung aufnimmt, weiß man nie, wohin sie führt. Manchmal schmerzt die Wahrheit, Jane. Bist du darauf vorbereitet?«

Die First Lady blickte ihn kalt an.

»An diesem Punkt meines Lebens kann mich nichts mehr überraschen«, sagte sie. »Seht zu, dass ihr Willa findet. Was dann passiert, werden wir sehen.«

Alle drei drehten sich um, als sich plötzlich die Tür öffnete. Sean und Michelle sprangen instinktiv auf, als Präsident Cox den Raum betrat, begleitet von zwei Agenten des Secret Service. Er lächelte und streckte die Hand aus.

Cox war ungefähr so groß wie Michelle und damit fast einen Kopf kleiner als Sean, aber er hatte breite Schultern, und auch mit fünfzig Jahren wirkte sein Gesicht noch jugendlich. Das war bemerkenswert, besonders wenn man bedachte, wie viele Jahre er schon unter den Augen der Welt verbracht hatte.

Sean und Michelle schüttelten dem Präsidenten die Hand.

»Ich bin überrascht, dich zu sehen«, sagte Jane.

»Ich habe meine restlichen Termine für heute abgesagt«, erklärte Cox. »Meinen Leuten hat das zwar nicht gefallen, aber es hat auch seine Vorteile, Präsident zu sein. Und wenn man in den Umfragen mit fünfundzwanzig Punkten vorne liegt und dein Gegner mehr mit dir übereinstimmt, als dass er dir widerspricht, ist dann und wann ein freier Tag drin. Selbst wenn ich im Rennen hinten liegen würde, käme Willa an erster Stelle.«

Jane lächelte ihn dankbar an. »Ich weiß, dass du es immer so gesehen hast.«

Cox ging zu seiner Frau, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und rieb ihr die Schulter, bevor er sich zu den beiden Agenten umdrehte. Kaum merklich zuckte sein Blick zur Tür, und Augenblicke später waren die beiden Männer verschwunden.

Cox sagte: »Jane hat mir gesagt, was Sie beide tun. Ich freue mich, dass Sie uns Ihre Erfahrung zur Verfügung stellen. Wir müssen alles tun, um Willa gesund zurückzubekommen.«

»Natürlich, Mr. President«, erwiderte Sean impulsiv.

Cox setzte sich auf die Schreibtischkante und bedeutete den beiden Privatdetektiven, wieder Platz zu nehmen. »Man hat mich auf dem Flug über dieses Päckchen informiert. Ich bete, dass etwas Gutes dabei herauskommt.« Er hielt kurz inne. »Die Politik darf sich nicht in diese Sache einmischen. Ich werde tun, was ich kann, um das zu verhindern. Allerdings hat die Opposition im Kongress das Sagen, deshalb habe ich keine absolute Macht in dieser Sache.« Er schaute zu seiner Frau und lächelte zärtlich. »Tatsächlich habe ich die nicht mal in meinem eigenen Haus, was aber nicht weiter schlimm ist, denn meine bessere Hälfte ist klüger, als ich es je sein werde.« Sein Lächeln schmolz dahin. »Offiziell leitet das FBI die Untersuchung. Einige meiner Berater sind der Meinung, ich dürfe in dieser Angelegenheit nicht anders vorgehen wie in ähnlichen Fällen, um nicht den Eindruck von Vetternwirtschaft zu erwecken; dennoch habe ich FBI-Direktor Munson gesagt, der Fall habe oberste Priorität. Um den politischen Fallout kann ich mich später noch kümmern. Meine Frau vertraut Ihnen in dieser Sache, also vertraue ich Ihnen ebenfalls. Trotzdem ... Auch wenn Sie weiterhin Zugang zu den Ermittlungsergebnissen haben werden, sollten Sie nicht vergessen, dass Sie lediglich private Berater sind. Das FBI führt Regie bei dieser Show.«

»Gewiss, Mr. President.«

»Sie waren sehr kooperativ«, fügte Michelle hinzu.

»Gut. Haben Sie schon Fortschritte gemacht?«

Sean warf einen kurzen Blick zu Jane Cox. Keine Regung zeigte sich auf ihrem Gesicht, doch Sean konnte ihre Gedanken lesen. »Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen, Sir, aber wir arbeiten so schnell wir können. Offenbar bedeutet dieses Päckchen so etwas wie einen Durchbruch. Wie Sie gesagt haben: Hoffentlich führt es uns weiter. Aber das ist oft der Fall. Die bösen Jungs kommunizieren und verplappern sich dabei häufig.«

»Also gut.« Cox stand auf, und Sean und Michelle taten es ihm nach.

»Wir reden später, Liebling«, sagte der Präsident.

Wenige Augenblicke darauf war er verschwunden, ohne Zweifel wieder inmitten seiner stummen Wachen.

Außerhalb des Weißen Hauses galten für das unmittelbare Umfeld des Präsidenten die allerstrengsten Sicherheitsmaßnahmen. Einige Agenten bezeichneten diesen Raum in Anlehnung an American Football als »Red Zone«, wo die Verteidigung um jeden Preis verhindern musste, dass der Gegner einen Punkt machte. Das bedeutete eine Verteidigungsschicht nach der anderen, wie bei einer Zwiebel. Ein potenzieller Angreifer musste sie förmlich schälen, um bis ins Innere vorzudringen. Die Red Zone war dabei die letzte Mauer, die es zu überwinden galt. Dahinter wartete dann der politische Führer der Freien Welt in Fleisch und Blut. Nur die besten Agenten dienten in der Red Zone. Sie waren wie Brillanten angeordnet - ein verdammt harter Brillant. Jeder einzelne dieser Agenten würde instinktiv bis zum Tod kämpfen, um den Präsidenten zu beschützen, oder sich gar einer Kugel in den Weg werfen. Das war die eine Schicht, die nie durchbrochen werden durfte, denn sie war die letzte.

Selbst im Weißen Haus war der Secret Service nie weiter als ein paar Schritte vom Präsidenten entfernt, mit einer Ausnahme: in der Privatwohnung der First Lady. Der Secret Service durfte nie davon ausgehen, seine Feinde zu kennen, oder dass Freunde wirklich Freunde waren.

Ein paar Minuten später befanden Sean und Michelle sich wieder im Tunnel zum Finanzministerium. Ein Marine in großer Dienstuniform ging ihnen voraus.

»Ich wollte den Präsidenten schon immer kennenlernen«, sagte Michelle zu Sean. »Er ist ein beeindruckender Mann, aber ...«

Michelle senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Aber du wirst ihn immer in diesem Wagen mit der Frau sehen.«

Sean verzog das Gesicht, erwiderte aber nichts.

»Warum hast du Jane nicht nach den zwei Kaiserschnitten und den drei Kindern gefragt?«

»Weil mein Bauch mir gesagt hat, ich soll das lieber lassen ... und im Augenblick macht mein Bauch mir eine Heidenangst.«