62.
Nachdem sie mit dem Essen fertig waren, mussten sie June Battle aufs Revier bringen, damit sie dort offiziell eine Aussage machen konnte.
»Bringt ihr zwei sie hin«, sagte Michelle.
»Was?« Sean schaute sie überrascht an.
»Ich brauche ein bisschen Zeit für mich allein, Sean«, sagte Michelle. »Ich treffe dich dann wieder im Haus meines Vaters.«
»Es gefällt mir nicht, dass wir uns trennen, Michelle.«
»Ich kann mich auch allein um Mrs. Battle kümmern«, sagte Bobby. »Kein Problem.«
»Geh einfach, Sean«, sagte Michelle. »Ich sehe dich dann im Haus.«
»Bist du sicher?«
Sie nickte. »Ganz sicher.«
Als sie gingen, schaute Sean noch einmal zu ihr, doch Michelle blickte nicht in seine Richtung.
Sie blieb noch zehn Minuten am Tisch sitzen, bevor sie langsam aufstand, ihr Jackett öffnete und auf die Waffe in ihrem Gürtelholster schaute.
Er musste gewusst haben, dass seine Frau tot in der Garage lag. Und er war draußen und hatte Nummernschilder fotografiert? Was für ein gefühlloser Bastard. Was hatte er gemacht? Hatte er nach jemandem gesucht, dem er den Mord in die Schuhe schieben konnte? Das mit dem Schlag von links war auch kein Problem. Das könnte er mit Absicht gemacht haben, um die Cops auf eine falsche Fährte zu führen. Ihr Vater war ein starker Mann. Egal ob mit links oder rechts - wenn er zuschlug, war ihre Mutter tot.
Und er war irgendwo da draußen.
Ihr Vater war da draußen, und er hatte eine Waffe.
Michelle ging entschlossen zum Ausgang. Dabei kam sie an der Pokalsammlung des Golfclubs vorbei. Die Vitrine war voller Plaketten und Fotos, Pokale und Urkunden. Michelle blieb stehen, denn zwei Gegenstände in der Vitrine waren ihr ins Auge gefallen.
Der erste war ein Foto von drei Frauen. Die mittlere hielt einen großen Pokal in die Höhe. Donna Rothwell grinste übers ganze Gesicht. Michelle schaute auf die Plakette darunter.
»Donna Rothwell, Amateurmeisterin bei der Club-Meisterschaft«, las sie. Das war dieses Jahr gewesen. Die Frau schien eine erstklassige Spielerin zu sein.
Das zweite Foto zeigte sie beim Abschlag. Sie wirkte beinahe wie ein Profi.
Während Michelle vor der Vitrine stand, kam ein bärtiger Mann in Khakihose und mit Golfhemd an ihr vorbei.
»Schauen Sie sich unsere hiesigen Golflegenden an?«, fragte er und lächelte.
Michelle deutete auf die beiden Fotos. »Diese da besonders.«
»Oh, Donna Rothwell. Sie ist eines der größten Naturtalente, das ich je gesehen habe.«
»Ist sie eine gute Spielerin?«
»Gut? Sie ist die beste Golferin über fünfzig im ganzen County, wenn nicht im ganzen Staat. Sie kann sogar dreißig- und vierzigjährige Spitzenspieler schlagen. Sie hat im College viel Sport getrieben. Tennis, Golf, Leichtathletik. Und sie ist immer noch gut in Form.«
»Dann hat sie ein niedriges Handicap?«
»Oh ja. Warum fragen Sie?«
»Sie hätte also kein Problem, sich hier für ein Turnier zu qualifizieren, oder?«
Der Mann lachte. »Himmel, Donna hat hier so ziemlich jedes Turnier gewonnen, an dem sie teilgenommen hat.«
»Kannten Sie Sally Maxwell?«
Der Mann nickte. »Eine wunderschöne Frau. Es ist eine Schande, was mit ihr passiert ist. Wissen Sie ... Sie sehen ihr ein wenig ähnlich.«
»War sie eine gute Golferin?«
»Oh, sicher. Allerdings eine deutlich bessere Putterin als beim Abschlag.«
»Aber sie hat nicht in Donnas Liga gespielt, oder?«
»Nicht mal annähernd.« Der Mann lächelte. »Warum all die Fragen? Möchten Sie Donna herausfordern? Sie sind zwar deutlich jünger als sie, aber einfach wird sie es Ihnen nicht machen.«
»Ja, ich werde sie vielleicht herausfordern, aber nicht auf dem Golfplatz.« Michelle ging davon, und der Mann starrte ihr verwirrt hinterher.
Michelle ging auf den Parkplatz und zu ihrem SUV.
Plötzlich riss sie den Kopf herum, denn sie glaubte, hinter sich ein Geräusch gehört zu haben. Mit dem Daumen löste sie den Sicherungsriemen an ihrem Gürtelholster, packte die Waffe und spannte sich an. Doch sie erreichte ihren Wagen unbehelligt und stieg ein.
Eine halbe Stunde später erreichte sie das Haus. Sie fuhr daran vorbei, parkte in einer Nebenstraße und stieg aus. Donna Rothwells Villa lag ein Stück von der Straße zurück. Hinter dem Tor wand sich eine Auffahrt zum Haus hinauf. Auf dem Weg die Straße entlang fand Michelle eine Lücke in der Hecke. Das Haus war dunkel, jedenfalls zur Straße hin, doch es war groß genug, dass man ein Licht in den hinteren Zimmern vorne nicht hätte sehen können.
Michelle schaute auf die Uhr. Es war fast zehn.
Warum hatte Donna Rothwell sie bei so etwas Trivialem angelogen? Sie hatte gesagt, Sally Maxwell habe mit Doug Reagan bei einem Turnier gespielt, weil ihr eigenes Handicap zu hoch gewesen sei. Aber sie war offensichtlich eine viel bessere Golferin, als es Michelles Mutter je gewesen war. Das war eine dumme Lüge gewesen. Michelle konnte nur vermuten, dass Donna Rothwell sich darauf verließ, dass Michelle, die ja keine Einheimische war, das nie herausfinden würde.
Aber warum hatte Donna Rothwell überhaupt gelogen? Und wo war das Problem, wenn ihre Mutter mit Doug gespielt hatte?
Michelle blieb stehen. Nein, sie würde nicht bei Donna Rothwell einbrechen. Dann hätte die Frau nur einen Grund, sie verhaften zu lassen. Und sie würde auch nicht hierbleiben, bis jemand sie fand.
Michelle rief Sean an und erzählte ihm, was sie über Rothwell herausgefunden hatte.
»Bobby und ich treffen dich dann im Haus deines Vaters«, sagte Sean. »Fahr sofort hin und bleib, wo du bist.«
Michelle erreichte das Haus und parkte davor. Sie warf einen Blick in die Garage. Ihr Dad war nicht daheim. Michelle ließ sich mit dem Ersatzschlüssel selbst hinein.
Doch kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, spürte sie es. Sie zog ihre Waffe, doch eine Sekunde zu spät. Der Schlag traf sie am Arm. Die Sig fiel ihr aus der Hand, und beim Aufprall löste sich ein Schuss. Michelle packte ihren verletzten Arm und rollte sich herum, als etwas Schweres neben ihr zu Boden fiel.
Dann spürte sie, wie irgendetwas knapp ihren Kopf verfehlte. Sie sprang auf, trat blind zu, traf aber nur Luft. Jemand schrie. Ein weiterer Schlag traf Michelle am Bein. Als der Angreifer sich erneut auf sie stürzte, duckte sie sich unter dem Schlag weg, sprang auf und trat dem Unbekannten mit voller Wucht in den Magen, gefolgt von einem Schlag gegen den Kopf. Sie hörte ein lautes Stöhnen, als hätte der Tritt dem Angreifer die Luft aus der Lunge getrieben. Irgendjemand schlug auf dem Boden auf.
Michelle sprang vor, um ihren Vorteil zu nutzen, als die Waffe des Angreifers - was immer es sein mochte - hochgerissen wurde und Michelle am Kinn traf. Sie schmeckte Blut, wich nach links aus, stolperte über den Kaffeetisch und stürzte zu Boden.
Dann spürte sie den Angreifer direkt über sich und roch irgendetwas Heißes.
Verdammt, das ist meine Waffe.
Sie duckte sich hinter den Kaffeetisch, als auch schon der Schuss dröhnte, aber Michelle spürte nichts, hörte nur einen Schrei, schrill und voller Angst. Dann fiel irgendetwas schwer zu Boden.
Das Licht flammte auf.
Michelle blinzelte.
Als sie ihn sah, schnappte sie nach Luft. Doug Reagan lag an der Tür, in der Brust ein Einschussloch.
Und neben ihr kniete Donna Rothwell, hielt sich die blutige Hand und schluchzte vor Schmerz. Michelles Pistole lag neben der Frau. Rasch schnappte sie sich die Waffe.
Dann erstarrte sie erneut.
Er stand an der Tür, nicht weit von Reagan, die Waffe in der Hand, deren Lauf qualmte.
Frank Maxwell trat vor und streckte die Hand aus, um seiner Tochter zu helfen. »Alles okay, Baby?«, fragte er besorgt.