70.
Jane Cox atmete rasch durch und warf einen Blick in das Schließfach. Bis jetzt war das Fach jedes Mal leer gewesen, wenn sie es geöffnet hatte, doch heute lag ein weißer Umschlag darin. Jane schaute sich um, hob ihre Handtasche dicht an das Fach und ließ den Umschlag darin verschwinden.
Sie war gerade wieder in die Limousine eingestiegen, als jemand ans Fenster klopfte. Jane schaute zu ihrem Sicherheitschef. »Fahren wir.«
Doch anstatt loszufahren, wurde die Wagentür geöffnet. FBI Special Agent Waters stand draußen. »Ich brauche den Brief, Mrs. Cox.«
»Wie bitte? Wer sind Sie?«
Waters hob seine Dienstmarke. »FBI. Ich brauche den Brief«, wiederholte er.
»Was für einen Brief?«
»Den Brief, den Sie gerade dort drüben abgeholt haben.« Er deutete über die Straße zu der Postfiliale.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Wenn Sie mich jetzt bitte allein lassen würden.« Sie schaute zu ihrem Sicherheitschef. »Drew, sagen Sie dem Mann, er soll gehen.«
Drew Fuller, Veteran des Secret Service, blickte Jane nervös an. »Mrs. Cox, das FBI hat Sie vom ersten Tag an unter Beobachtung gehalten.«
»Was?«, rief Jane. Fullers resigniertem Blick nach zu urteilen war ihm bewusst, dass er sich demnächst auf einem nicht mehr ganz so vorteilhaften Posten wiederfinden würde.
Waters sagte: »Ich habe hier einen Gerichtsbeschluss«, er hielt ein Blatt Papier in die Höhe, »der es mir gestattet, Ihre Handtasche und auch Sie selbst zu durchsuchen.«
»Wie bitte? Ich bin doch keine Kriminelle!«
»Wenn Sie über Beweise in einem Entführungsfall verfügen und diese wissentlich zurückhalten, sind Sie sehr wohl kriminell, Ma'am.«
»Was erlauben Sie sich!«
»Ich versuche nur, Ihre Nichte zurückzuholen. Ich vermute, das ist in Ihrem Interesse.«
»Wie können Sie es wagen ...«
Waters schaute zu Fuller. »Wir können das auf die leichte oder die harte Tour durchziehen. Es liegt an ihr.«
Fuller sagte: »Mrs. Cox, der Secret Service ist über die Maßnahmen des FBI informiert, und offiziell haben wir kein Recht, sie aufzuhalten. Das ist eine Bundesermittlung. Die Anwälte des Weißen Hauses sehen das genauso.«
»Dann sind ja alle einer Meinung«, spottete Jane. »Alle arbeiten hinter meinem Rücken gegen mich. Schließt das auch meinen Mann mit ein?«
»Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete Fuller rasch.
»Ich schon«, sagte Jane, »und das werde ich auch, sobald wir wieder im Weißen Haus sind.«
»Das ist Ihr gutes Recht, Mrs. Cox.«
»Nein, das ist meine Mission!«
»Der Brief, Mrs. Cox«, meldete Waters sich wieder zu Wort. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Langsam öffnete Jane ihre Handtasche und steckte die Hand hinein.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Ma'am, nehme ich den Brief selbst heraus.«
Jane warf Waters einen Blick zu, den er vermutlich den Rest seines Lebens nicht vergessen würde. »Zeigen Sie mir erst den Gerichtsbeschluss.«
Waters reichte ihr das Dokument. Jane las es langsam durch und hielt dann ihre Tasche auf. »Ich habe auch Lippenstift da drin, wenn Sie auf so was stehen.«
Waters schaute sich den Inhalt der Tasche an. »Der Brief reicht mir, Ma'am.«
Er holte den Brief heraus. Jane schloss die Tasche so schnell, dass sie Waters fast den Finger eingeklemmt hätte. »Das wird Sie Ihre Dienstmarke kosten«, zischte sie und funkelte dann Fuller an. »Und? Können wir jetzt endlich fahren?«
Fuller drehte sich zum Fahrer um. »Los.«
Zurück in 1600 Pennsylvania Avenue ging Jane sofort in ihre Wohnung. Sie zog ihren Mantel aus, trat die Schuhe von den Füßen, ging in ihr Schlafzimmer und verschloss die Tür. Sie öffnete ihre Handtasche, schob die Finger in den kaum sichtbaren Riss im Futter und zog den Brief heraus. Er war direkt an sie adressiert. Alles mit Schreibmaschine geschrieben. Sie öffnete ihn. Nur ein Blatt war darin, ebenfalls mit Maschine geschrieben.
Jane hatte gewusst, dass sie vom FBI beschattet wurde. Als sie das Fach geöffnet und den Brief gesehen hatte, hatte sie die Tasche nahe ans Fach gehoben und den Brief im Futter verschwinden zu lassen, obwohl es nach außen hin so aussah, als hätte sie ihn in die Tasche gesteckt. Den Brief, den sie Waters gegeben hatte, hatte sie selbst auf einer Maschine geschrieben, die sie in einer Abstellkammer des Weißen Hauses gefunden hatte. Den falschen Brief hatte sie dann in ihre Tasche gesteckt, bevor sie zur Postfiliale gefahren war. Welcher Mann käme schon auf die Idee, im Futter nachzuschauen, wenn ein anderer Brief direkt neben ihren Kosmetika lag? Jane hatte sogar eine Packung Tampons dazugetan, um den Mann noch mehr aus der Fassung zu bringen. So hatte er es nicht gewagt, noch länger in ihrer Tasche herumzukramen.
Der Umschlag, den sie über die Küche des Weißen Hauses bekommen hatte, war weiß gewesen; also war sie davon ausgegangen, dass es auch bei diesem Brief der Fall sein würde. Sie hatte gewusst, dass die Agenten höchstens eine Ecke des Briefes sehen würden, wenn sie ihn in ihrer Tasche verschwinden ließ.
Und sie hatte auch gewusst, dass man sie zur Rede stellen würde, kaum dass der Brief angekommen war. Jane hatte ihre eigenen Quellen im Weißen Haus. Nicht nur der Secret Service bekam alles mit, was hier vor sich ging, sie auch. Deshalb hatte das FBI sie mit dem Gerichtsbeschluss nicht überrascht. Sie hatte die arrogante Bundespolizei übers Ohr gehauen.
Doch das Triumphgefühl war nur von kurzer Dauer. Mit zitternden Händen öffnete Jane den Brief und begann zu lesen. Sie entdeckte ein Datum und eine Uhrzeit, zu der sie eine Telefonnummer anrufen sollte, die ebenfalls in dem Brief genannt war. Die Nummer sei nicht zurückzuverfolgen, hieß es. Wichtiger aber war etwas anderes: Sollte jemand anders den Anruf tätigen, bei dem alles enthüllt werden sollte, hieß es, würde es nicht nur Willa das Leben kosten, dann würde ihrer aller Leben zerstört - unumkehrbar.
Jane fiel vor allem das letzte Wort auf. Unumkehrbar. Es war seltsam platziert, seltsam benutzt. Verbarg sich dahinter etwas? Sie wusste es nicht.
Jane schrieb die Nummer auf ein Stück Papier, ging ins Badezimmer, zerknüllte den Brief und spülte ihn die Toilette hinunter. Einen lähmenden Augenblick lang stellte sie sich Bundesbeamte vor, die irgendwo im Weißen Haus das Abwasser abfingen und den Brief wieder zusammensetzten. Aber das war unmöglich. So etwas gab es nur in Orwells »1984«. Doch seit sie im Weißen Haus lebte, hatte sie Orwells Meisterwerk über den »perfekten Faschismus« auf eine Art und Weise schätzen gelernt, die sich die meisten Amerikaner nicht einmal vorstellen konnten.
Jane spülte sicherheitshalber ein zweites Mal und verließ dann das Bad. Sie machte einen Anruf und sagte sämtliche Termine für diesen Tag ab. Dabei hatte sie in fast drei Jahren im Weißen Haus noch nie einen Termin versäumt, egal wie unbedeutend er sein mochte. Seit Willas Verschwinden aber hatte sie immer wieder Termine abgesagt. Und sie bedauerte es nicht. Die Leute hatten ihr Stück Fleisch bekommen. Jane hatte ihrem Land gut gedient. Dass ihr Mann sich nun nach besten Kräften bemühte, noch einmal vier Jahre dranzuhängen, drehte Jane den Magen um.
Plötzlich wurde ihr kalt. Sie ließ sich ein heißes Bad ein und zog sich aus. Bevor sie in die Wanne stieg, betrachtete sie sich nackt im Spiegel. Sie hatte an Gewicht verloren. Das hatte sie zwar schon länger gewollt, aber nicht so. Und mit den fehlenden Pfunden sah sie auch nicht besser aus, im Gegenteil: Sie wirkte älter, schwächer. Es war kein schöner Anblick. Ihre Haut war schlaff, und die Knochen stachen an Stellen heraus, die keiner Frau gefielen. Jane knipste das Licht aus und ließ sich ins heiße Wasser sinken.
Während sie so dalag, dachte sie darüber nach, wie sie etwas tun sollte, über das sich kein Amerikaner - vielleicht mit Ausnahme ihres Ehemannes - den Kopf zerbrechen musste. Jane Cox musste einen Weg finden, einen einfachen, privaten Anruf zu tätigen, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Von hier ging das nicht. Wenn das FBI schon einen Gerichtsbeschluss hatte, ihre Handtasche zu durchsuchen, hatten sie mit Sicherheit auch eine Verfügung, die es ihnen erlaubte, ihre Anrufe zu überwachen. Soweit Jane wusste, wurde ohnehin jeder Anruf überwacht, der ins Weiße Haus ging oder von dort geführt wurde - vielleicht von der NSA. Dieser geheimste aller Geheimdienste schien ohnehin jeden zu belauschen.
Und wenn sie nicht gerade hier war, in ihrer Privatwohnung, stand ständig jemand neben ihr. Egal ob sie in einer Limousine saß oder in einem Flieger, ob sie ein Krankenhaus einweihte oder einfach nur etwas essen ging.
Das war der Preis, den man zahlen musste, wenn man das Weiße Haus gewann. Aber Jane würde schon etwas einfallen. Immerhin hatte sie auch das FBI mit dem Brief hinters Licht geführt. Sie hatte Handschuhe getragen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und sie hatte in unverbindlicher Sprache die Summe von zehn Millionen Dollar gefordert und erklärt, die Kidnapper würden sich wieder melden. So hatte sie sich wenigstens ein bisschen Zeit erkauft, wenn auch nicht allzu viel. Der Termin für den Anruf war morgen Abend. Nein, viel Zeit blieb ihr nicht.
Jane schloss die Augen. Das Wort »unumkehrbar« kam ihr immer wieder in den Sinn. Sie öffnete die Augen wieder und erinnerte sich an die Worte, die dem »unumkehrbar« unmittelbar vorangegangen waren.
Jane murmelte sie vor sich hin, während sie in der Dunkelheit in der heißen Wanne lag. »Ihres aller Leben wird zerstört - unumkehrbar.«
Nicht nur mein Leben, sondern unser aller Leben.
Leider wusste Jane ganz genau, worauf diese Worte sich bezogen.