79.
Sam Quarry starrte so intensiv auf das improvisierte Satellitentelefon in seiner Hand, als wäre es eine Giftschlange. Der Zeitpunkt für Carlos' Anruf war nicht einmal annähernd gekommen, doch ein Teil von ihm wünschte sich, es wäre schon so weit. Er wollte, dass es endlich vorbei war.
Quarry sah nach Daryl, um sicherzustellen, dass alles bereit war; dann ging er zu Willas Zelle. Als er eintrat, kauerten das Mädchen und Diane am Tisch. Quarry hatte beschlossen, dass die beiden Frauen an diesem Tag - dem letzten - zusammen sein sollten. Sie hoben den Blick, als er hereinkam und die Tür hinter sich schloss.
Quarry lehnte sich an die Wand und steckte sich eine Zigarette an.
»Was ist los?«, fragte Willa mit zitternder Stimme. Sie war nicht mehr dieselbe, seit sie herausgefunden hatte, dass mit ihrer Familie irgendetwas passiert war.
»Es ist so gut wie vorbei«, verkündete Quarry. »Hoffe ich jedenfalls.«
»Sie hoffen?«, fragte Diane müde.
»Ja, ich hoffe«, antwortete Quarry. »Und ich bete.«
»Und wenn Ihre Hoffnungen sich nicht erfüllen?«, fragte Willa.
»Ja, sagen Sie es uns, Mr. Sam«, sagte Diane kalt. »Was dann?«
Quarry ignorierte sie und schaute zu Willa. »Ich habe meine Tochter nach Hause geholt. Die Kranke.«
»Warum?«
Quarry zuckte mit den Schultern. »Es war an der Zeit. Ich habe allen Lebewohl gesagt. Alles ist gut.«
»Lebewohl?«, hakte Willa ängstlich nach.
»Egal wie das hier ausgeht, für mich ist es vorbei«, erklärte Quarry. »Es ist alles erledigt. Ich werde niemanden mehr sehen.«
»Wollen Sie sich umbringen?«, fragte Diane mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme.
Quarry verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Man kann einen Mann nicht töten, der längst tot ist.«
Diane wandte sich ab, aber Willa fragte: »Wenn Sie weg sind, wer wird sich dann um Ihre Tochter kümmern?«
Neugierig drehte Diane sich wieder um. Daran hatte sie offensichtlich gar nicht gedacht.
Wieder zuckte Quarry mit den Schultern. »Das ist schon okay mit ihr.«
»Aber ...«
Er ging zur Tür. »Bleibt einfach da sitzen.«
Und weg war er.
Diane rückte näher an Willa heran. »Gar nichts ist okay, Willa.«
Das Mädchen starrte auf die Tür.
»Willa, hörst du mich?«
Willa hörte sie offenbar nicht. Sie starrte immer nur weiter auf die Tür.
***
Das Flugzeug war nicht da gewesen; also gab Michelle Gas. Gabriel saß neben ihr und erteilte Anweisungen, und Sean hockte hinten, schaute in den Himmel und hielt nach dem Hubschrauber mit dem Präsidenten und der First Lady Ausschau, die sich für vieles zu verantworten hatten.
»Biegen Sie da links ab«, sagte Gabriel.
Michelle ging so schnell in die Kurve, dass Sean in den Sitz gepresst wurde.
»Wenn wir sterben, bevor wir ankommen, ist das eher kontraproduktiv«, schimpfte er und legte den Sicherheitsgurt an.
»Wie weit noch, Gabriel?«, fragte Michelle.
»Noch eine Stunde«, antwortete der Junge. »Mr. Sam ist im Flugzeug viel schneller. Ich bin noch nie geflogen. Sie?«
Michelle konzentrierte sich auf die Straße. Jedes Mal, wenn es geradeaus ging, und sei es nur ein kleines Stück, trat sie das Gaspedal durch, doch je höher sie kamen, desto seltener wurden die geraden Abschnitte. »Ja, ich bin schon mal geflogen.« Sie riss den Kopf zu Sean herum. »Er da hinten ist sogar schon mit dem Präsidenten in der Air Force One geflogen.«
Gabriel starrte Sean voller Ehrfurcht an. »Sie haben den Präsidenten kennengelernt?«
Sean nickte. »Aber vergiss nicht: Er zieht sich die Hose genauso an wie du und ich. Erst dann kann er auf den roten Knopf drücken und die Welt vernichten.«
Michelle drehte sich um, warf Sean einen finsteren Blick zu und sagte: »Wenn du mal fliegen willst, Gabriel, können wir das sicher arrangieren.«
»Das wäre cool. An der nächsten Straße müssen Sie rechts.«
»An was für einer Straße?«, fragte Sean, und ein weiteres Schlagloch hob ihn erneut aus dem Sitz. »Meinst du diesen Hindernisparcours, auf dem wir seit zehn Meilen fahren?«
Nach der Abzweigung ging es steiler bergauf, und Michelle schaltete den Allradantrieb dazu.
»Erzähl uns von der Mine, Gabriel«, sagte Michelle.
»Was wollen Sie denn hören?«
»Gibt es nur einen Eingang oder mehrere?«
»Ich kenne jedenfalls nur einen. Dann ist da noch eine Graslandebahn, die Mr. Sam selbst gemacht hat. Ich bin manchmal mit ihm hier raufgefahren, mit dem Truck. Da haben wir dann das Gras gemäht.«
»Sprich weiter«, forderte Michelle ihn auf. »Je mehr wir wissen, desto besser sind wir vorbereitet.«
Gabriel erzählte von den Schächten und Räumen, die Quarry in der Mine angelegt hatte.
»Warum hat er all das gemacht?«, fragte Sean.
»Er hat gesagt, wenn das Ende der Welt gekommen ist, würden wir alle da hingehen. Er hat jede Menge Essen, Wasser, Laternen und so weiter da.«
»Und Waffen«, sagte Michelle.
»Und Waffen«, bestätigte Gabriel. »Wahrscheinlich ziemlich viele.«
Sean holte seine eigene 9mm und die beiden Ersatzmagazine heraus, die er stets bei sich trug.
Zwei Pistolen, ein paar Ersatzmagazine, ein kleiner Junge, zwei potenzielle Geiseln, eine finstere Mine und eine bis an die Zähne bewaffnete Gegenseite, die jeden Winkel kannte. Sean blickte Michelle im Innenspiegel in die Augen.
Michelle dachte offenbar das Gleiche, denn sie formte mit den Lippen stumm die Worte: »Ich weiß.«
Sean schaute zum Seitenfenster hinaus. Das Gelände wurde immer steiler. Auch wenn die Sonne langsam höher stieg, war es noch dunkel und kalt. Sean dachte an den Kellerraum in Atlee zurück. Er dachte an die Geschichte an der Wand, die Sam Quarry vermutlich Jahre seines Lebens gekostet hatte. Und dann dachte er an jene Nacht in Georgia zurück, als er in diese Gasse gegangen war und die junge Frau gesehen hatte, die es mit dem zukünftigen Präsidenten trieb. Dabei hatte der Mann eine wunderschöne und intelligente Ehefrau gehabt und war gerade in den US-Senat gewählt worden. Und da ließ er sich von irgendeiner Zwanzigjährigen im Auto einen blasen?
Seans Gedanken schweiften zu einer anderen jungen Frau: Tippi Quarry.
Er hat mich vergewaltigt, Daddy.
Eine blutige Abtreibung.
Ein jahrelanges Koma.
Lebenslanges, vegetatives Stadium, hatte Quarry an die Wand geschrieben und jedes Wort drei Mal unterstrichen.
Sean hatte keine Kinder. Aber hätte er welche gehabt, und wäre seiner Tochter etwas Ähnliches widerfahren, was hätte er dann getan? Wie weit würde er gehen? Was für eine Geschichte würde er an die Wand schreiben? Wie viele Menschen würde er töten?
Sean steckte die Pistole wieder in den Gürtelholster.
Sie würden Sam Quarry oben an der Mine finden, davon war Sean überzeugt. Und sie würden auch Willa und diese Diane dort finden - ob lebend oder nicht, stand allerdings in den Sternen.
Aber was die Frage betraf, was er und Michelle deswegen unternehmen sollten ...
Sean wusste es wirklich nicht.