34.

Sean gelang es, noch am selben Abend einen Flug nach Nashville zu bekommen. Michelle holte ihn am Flughafen ab. Auf der Fahrt zum Haus ihres Vaters berichtete er seiner Partnerin, was er über Tuck und Cassandra Mallory herausgefunden hatte.

»Scheint mir eine Frau zu sein, die ich wirklich mal gerne in den Arsch treten würde«, sagte sie grob.

»Du würdest ihn leicht finden. Die Dame zeigt ihn nämlich gern.«

»Wer war der Mann, mit dem Pam sich getroffen hat? Der Typ, von dem Tuck glaubte, seine Frau hätte eine Affäre mit ihm?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, das weiterzuverfolgen.«

Nach kurzem Schweigen fragte Sean: »Glaubst du wirklich, dein Vater hat deine Mutter umgebracht?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich weiß nur, dass jemand sie getötet hat, und Dad benimmt sich mehr als verdächtig.«

»Teilen die Cops deinen Verdacht?«

»Dad ist ein ehemaliger Polizeichef, und mein Bruder Bobby arbeitet hier als Cop. Wie du weißt, hackt eine Krähe der anderen kein Auge aus.«

»Aber wenn die Beweise in diese Richtung deuten, müssen sie trotzdem handeln.«

»Ich weiß«, erwiderte Michelle angespannt.

»Hast du mit dieser Donna gesprochen, mit der deine Mutter sich angeblich treffen wollte?«

»Noch nicht. Ich hatte gehofft, das könnten wir gemeinsam tun.«

Sean legte Michelle die Hand auf die Schulter. »Das alles ist hart, Michelle. Aber wir stehen das durch.«

»Ich weiß, dass du mit dem Dutton-Fall alle Hände voll zu tun hast. Die First Lady und so weiter. Ich komme mir schuldig vor, dass ich dich da mit reinziehe.«

Sean lächelte beruhigend. »Ich bin multitaskingfähig. Das solltest du inzwischen wissen.«

»Trotzdem.«

»Hat man die Gegend schon abgeklappert? Hat jemand was gesehen?«

»Nebenan war eine Poolparty zum sechzehnten Geburtstag der Enkelin des Hausbesitzers. Die ganze Straße stand voller Autos. Es war ziemlich laut. Musik. Aber es gab keine Augenzeugen.«

»Vielleicht kommt aus dieser Richtung ja noch was«, versuchte Sean seine Partnerin zu ermutigen.

Das Haus der Maxwells war voll; deshalb hatte Michelle Sean ein Hotelzimmer besorgt. Er warf sein Gepäck ins Zimmer, und sie fuhren zum Haus, wo Sean jedem sein Beileid kundtat. Anschließend führte Michelle ihn in den Hinterhof, wo sie ungestört reden konnten.

»Morgen ist die Beerdigung«, sagte sie.

»Deine Brüder scheinen sich zu fragen, was ich hier mache.«

»Sollen sie.«

»Verdächtigen sie ebenfalls deinen Vater?«

»Falls ja, würden sie es sich niemals eingestehen.«

»Aber du hast keine Probleme damit.«

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

»Auf deiner, wie immer. Wo möchtest du mit dem Graben anfangen?«

»Ich habe mir das Adressbuch meiner Mutter geschnappt. Eine Donna Rothwell steht da drin. Sie ist die einzige Donna; also muss sie die Richtige sein. Ich weiß, es ist schon sehr spät, aber ich dachte, wir könnten sie anrufen und uns mit ihr treffen.«

»Unter welchem Vorwand?«

»Dass ich wissen will, wer die Freunde meiner Mutter waren. Die Geschichten, die sie mir erzählen könnte. Merkwürdige Erinnerungen, die mich vielleicht zum Mörder führen.«

»Und wenn dein Vater sich als der Täter herausstellt?«

»Ich mache keine Ausnahmen. Wenn er der Täter ist, dann ist es eben so.«

Donna Rothwell erklärte sich bereit, sich trotz der späten Stunde noch mit ihnen zu treffen. Sie war Anfang sechzig, knapp eins achtzig groß, kräftige, sportliche Figur. Ihr Haar war perfekt frisiert, ihr Make-up sorgfältig aufgetragen. Sie strahlte Wärme und Munterkeit aus. Ihre Haus lag ungefähr vier Meilen von dem der Maxwells entfernt. Es war groß, üppig möbliert und gepflegt.

Eine Frau in voller Zofenmontur hatte den beiden Privatdetektiven die Tür geöffnet. Die Lady hatte definitiv Geld, und den vielen Fotos und Erinnerungsstücken nach zu urteilen, die auf den Tischen und Regalen standen, hatte sie die ganze Welt bereist.

Sie erklärte: »Mein verstorbener Mann, Marty, war Chef einer großen Computerfirma. Er hat sich früh ausbezahlen lassen. So konnten wir ein finanziell sorgenfreies Leben führen.«

»Wann ist Ihr Mann gestorben?«, fragte Sean.

»Schon vor Jahren. Das Herz, wissen Sie.«

»Und Sie haben nie wieder geheiratet?«

»Marty und ich waren seit dem College zusammen. Ich bezweifle, dass ich so etwas Gutes je wieder finde. Warum also unnötige Risiken eingehen? Ab und zu verabrede ich mich allerdings. Ich weiß, das klingt nach Highschool, aber wenn man lange genug lebt, dreht das Leben sich im Kreis.«

»Sie und meine Mutter waren eng befreundet, nicht wahr?«, fragte Michelle.

»Wir haben viel miteinander unternommen. Ihre Mom war ein sehr fröhlicher Mensch. Ich weiß, das ist alles schrecklich traurig und deprimierend, aber Ihre Mom wusste, wie man Spaß hatte, falls es Sie tröstet.«

»Und mein Dad?«

Donna nahm ihren Cocktail und nippte daran, bevor sie antwortete: »Er ist nicht so oft herausgekommen. Er hat gerne gelesen ... zumindest hat Sally es mir erzählt. Er war zurückhaltend. Ein ehemaliger Polizist, stimmt's? Viele Jahre lang hat er nur die schlechten Seiten des Lebens gesehen. Vermutlich bleibt das nicht ohne Folgen. Vielleicht kann so jemand einfach keinen Spaß mehr haben. Ich weiß es nicht. Aber das alles ist natürlich nur Spekulation«, fügte sie hinzu, als sie Michelles säuerlichen Blick bemerkte. »Ihr Dad ist ein netter Mann. Gutaussehend. Viele Frauen hier haben Ihre Mom beneidet.«

»Da bin ich sicher. Mom wollte an jenem Abend also zu Ihnen?«

Donna stellte ihren Cocktail ab. »Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Ist das wichtig?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Und? Wollte sie?«

»Wir haben darüber geredet, ja.« Donna hielt inne und ordnete ihre Gedanken. »Ja, ich glaube, wir wollten irgendwas unternehmen. Abendessen, vielleicht ein Film. Das haben wir einmal die Woche gemacht.«

»So lange ist das alles doch gar nicht her. Da können Sie sich nicht mehr erinnern?«, hakte Sean in freundlichem Tonfall nach. »Ich meine, die Polizei wird es mit Sicherheit wissen wollen.«

Donna griff wieder nach ihrem Drink. »Die Polizei?«

»Meine Mutter wurde ermordet, Donna«, sagte Michelle. »Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen.«

»Was?! Ich dachte, sie hätte einen Herzinfarkt gehabt und sich den Kopf an irgendetwas aufgeschlagen.«

»Nein, so war es nicht.«

»Ermordet, sagen Sie?«

Sean ließ sich Zeit mit der Antwort. »Sie hatte keinen Herzinfarkt; sie hat sich nicht den Kopf aufgeschlagen, und die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen. Das spricht wohl eine deutliche Sprache, oder nicht?«

»Was können Sie mir über das Leben meiner Mutter hier erzählen?«, fragte Michelle. »Was für Freunde hatte sie, und was hat sie so gemacht?«

Donna blickte in unbestimmte Fernen. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Wort kam heraus. Schließlich sagte sie: »Wenn da draußen ein Killer ist ...«

»Das steht bis jetzt noch nicht fest. Um auf meine Mutter zurückzukommen ...«

Donna trank den Rest ihres Drinks und sagte rasch: »Sie hatte viele Freunde. Alle weiblich, soviel ich weiß. Wir haben viel zusammen unternommen und hatten eine Menge Spaß. Das war's.«

»Kann ich ihre Namen haben?«, fragte Michelle.

»Warum?«

»Weil ich mich auch mit ihnen unterhalten will.«

»Untersuchen Sie den Fall?« Donna beäugte Michelle misstrauisch. »Sally sagte mir, Sie wären früher mal beim Secret Service gewesen, und dass Sie jetzt als Privatdetektivin arbeiten.«

»Stimmt. Im Augenblick bin ich aber nur eine Tochter, die ihre Mutter verloren hat. Kann ich die Namen haben?«

Donna gab sie ihr zusammen mit den Kontaktinformationen.

Auf der Fahrt zurück klingelte Michelles Handy. Sie nahm ab, hörte zu und unterbrach dann die Verbindung. »Scheiße.«

»Was ist?«

»Das war mein Bruder Bill. Die Cops haben gerade meinen Dad zum Verhör mitgenommen.«