6.
Eine Stunde später jagte die alte Cessna über die kurze Startbahn und erhob sich in die Luft. Quarry blickte aus dem Seitenfenster auf sein Land hinunter. Zweihundert Morgen - das hörte sich nach viel an, war es aber nicht.
Quarry flog tief und achtete auf Vögel und andere Maschinen, denn er meldete einen Flug nie an; deshalb musste er doppelt vorsichtig sein.
Nach gut einer Stunde ging er in den Sinkflug, landete auf dem Asphalt einer privaten Landebahn und betankte seine Maschine. Auf diesem Flugfeld gab es keine modernen Anlagen und keine Firmenjets, nur schäbige Wellblechhangars, eine holperige Asphaltstartbahn, einen Luftsack und Flugzeuge wie Quarrys: alte, zusammengeflickte Kisten, die jedoch liebevoll gehegt und gepflegt wurden. Und sie waren billig. Quarry hatte seine Cessna vor Jahren aus dritter Hand gekauft; heute hätte er sich das nicht mehr leisten können.
Quarry flog, seit er in die Air Force eingetreten und mit seiner F-4 Phantom über die Reisfelder und Dschungel Vietnams hinweggedonnert war. Später hatte er Bomben auf Laos und Kambodscha geworfen und Menschen getötet - und das nur, weil man es ihm befohlen hatte, obwohl diese Angriffe, wie er später herausgefunden hatte, nie offiziell genehmigt worden waren. Aber das wäre ihm damals ohnehin egal gewesen. Soldaten taten, was man ihnen befahl. Allerdings hatte Quarry damals auch nicht die Zeit gehabt, sich groß den Kopf darüber zu zerbrechen, was die hohen Tiere eigentlich wollten - nicht wenn der Feind unter ihm versuchte, ihn abzuschießen.
Quarry stieg wieder in sein kleines Flugzeug, gab Gas und stieg erneut in den Himmel. Er flog weiter und drehte in einen Treibstoff sparenden Gegenwind von fünf Knoten die Stunde.
Kurz darauf zog er den Gashebel wieder zurück, drückte den Steuerknüppel nach vorn und ließ sich von der Thermik tragen. Das war der schwierige Teil: die Landung auf seinem anderen Besitz. Er lag in den Bergen. Dort gab es keine Landebahn, nur einen langen Grasstreifen, den Quarry im Schweiße seines Angesichts gemäht hatte. Der Boden war fest und flach, doch die Seitenwinde stellten eine Herausforderung dar.
Quarrys Gesichtsmuskeln spannten sich, und er packte den Steuerknüppel mit festem Griff. Dann fuhr er die Landeklappen voll aus. Die Maschine setzte auf, machte einen Satz, setzte wieder auf und machte einen erneuten Satz. Als die Cessna das dritte Mal aufsetzte, blieb das Fahrwerk auf der Erde, und Quarry trat mit beiden Beinen auf die Radbremse. Bremse und Landeklappen ermöglichten es der Cessna, knapp vor dem Ende der Bahn zum Stehen zu kommen.
Quarry wendete das Flugzeug und stellte den Motor ab. Dann schnappte er sich seinen Rucksack, stieg aus und legte Bremskeile unter das Fahrwerk, damit die leichte Maschine nicht wegrollen konnte. Schließlich stapfte er mit seinen langen Beinen den Felshang hinauf. Er holte einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und suchte den richtigen heraus. Dann bückte er sich und öffnete die dicke Holztür im Berg. Die Tür lag hinter Felsen versteckt, die Quarry mühsam aus einem Vorsprung gebrochen und hier aufgeschichtet hatte.
Sein Großvater hatte jahrzehntelang in dieser Kohlenmine gearbeitet. Genauer gesagt, seine unterbezahlten Arbeiter. Als Kind war Quarry öfter hier gewesen. Damals hatten sie die Straße benutzt, doch die hatte Quarry gestern versperrt. Früher hatten Laster die Kohle über diese Straße ins Tal gefahren; Quarry hatte sie benutzt, um alles hier heraufzuschaffen, was er brauchte. In seinem kleinen Flugzeug hätte er das Material nie transportieren können.
Natürlich war der Berg nicht immer eine Mine gewesen. Wind, Regen und geologische Aktivitäten hatten große Höhlen und Kammern erschaffen. Lange vor der ersten Fahrt einer Kohlenlore, während des amerikanischen Bürgerkriegs, waren in diesen Höhlen gefangene Soldaten der Nordstaaten gestorben. Ohne Sonne und frische Luft waren sie bis auf die Knochen abgemagert und schließlich jämmerlich zugrunde gegangen.
Heutzutage waren die Schächte mit Lampen ausgestattet, doch Quarry benutzte sie nur, wenn es unbedingt nötig war, denn der Strom wurde von einem alten Dieselgenerator erzeugt, und Treibstoff war teuer. Quarry verwendete eine alte Taschenlampe, wenn er etwas sehen wollte. Tatsächlich war es sogar dieselbe Lampe, mit der sein Vater »aufsässige« Schwarze gejagt hatte, nachts, in den Sümpfen von Alabama. Als Kind hatte Quarry oft aus einem Versteck beobachtet, wie sein Alter im Dunkeln nach Hause gekommen war, erfüllt von wilder, perverser Freude darüber, was er und seine Kumpane in ihrem Hass getan hatten. Manchmal hatte Quarry das Blut der Opfer an den Händen und Ärmeln seines Vaters gesehen, und der Alte hatte gekichert, wenn er sich anschließend einen Whisky genehmigt hatte. Es war verrückt und abartig, Menschen nur deshalb zu töten, weil sie anders aussahen als man selbst.
»Dieser miese alte Bastard«, schimpfte Quarry vor sich hin. Er verabscheute seinen Vater für all den Kummer, den er über andere Menschen gebracht hatte. Quarry öffnete eine weitere Tür in der Wand des Hauptschachts. Dahinter verbarg sich ein Raum. Quarry nahm eine batteriebetriebene Laterne von einem Regal, schaltete sie ein und stellte sie auf einen Tisch in der Mitte des Raumes. Dann schaute er sich um und bewunderte sein Werk. Er hatte den Raum mit dicken Bohlen verkleidet und mit Spachtelmasse verfugt. Anschließend hatte er das Ganze in therapeutischem Hellblau gestrichen. Quarry hatte das gesamte Material kostenlos von einem Freund bekommen, der eine kleine Baufirma besaß und nicht wusste, wo er Überschüsse lagern sollte. Hinter den Wänden befanden sich die gewaltigen Innereien des Berges. Doch jeder, der sich in dem Raum umsah, hatte das Gefühl, sich in einem Haus zu befinden. Und das war ja auch der Sinn des Ganzen.
Quarry ging in eine Ecke und musterte die Frau, die dort zusammengesunken auf einem Stuhl saß und schlief, den Kopf zur Seite geneigt. Quarry stupste sie am Arm, doch sie reagierte nicht. Na, das würde sich schnell ändern.
Quarry krempelte den Ärmel der Frau hoch, holte eine sterile Spritze aus seinem Rucksack und stieß sie der Frau in den Arm. Sekunden später schlug sie die Augen auf, und ihr Blick klärte sich. Als sie Quarry sah, öffnete sie den Mund, um zu schreien, aber das Klebeband auf ihren Lippen hinderte sie daran.
Quarry lächelte sie schief an, während er ihr zwei Ampullen Blut abnahm. Die Frau beobachtete ihn entsetzt. Sie konnte sich nicht bewegen; Fesseln hielten sie am Stuhl fest.
»Ich weiß, dass es Ihnen seltsam erscheint, Ma'am«, sagte Quarry, »aber glauben Sie mir, es dient einem guten Zweck. Ich will weder Sie noch sonst jemanden verletzen. Haben Sie verstanden?«
Er zog die Nadel heraus, desinfizierte die Einstichstelle mit einem in Alkohol getunkten Wattebausch und klebte ein Pflaster darauf.
»Haben Sie verstanden?«, fragte er erneut.
Die Frau nickte.
»Gut. Es tut mir leid, dass ich Ihnen Blut abnehmen musste, aber es ging nicht anders. Okay, jetzt bekommen Sie etwas zu essen und können sich waschen. Wir werden Sie nicht die ganze Zeit gefesselt lassen. Sie bekommen ein wenig Bewegungsfreiheit. Ich weiß, dass Sie noch nicht erkennen können, warum das alles nötig ist - die Fesseln und so weiter. Nicht wahr?«
Die Frau schaute ihm in die Augen. Trotz ihrer schrecklichen Situation nickte sie.
»Ausgezeichnet«, sagte Quarry. »Machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird wieder gut. Und es wird keine Übergriffe geben, weil Sie eine Frau sind ... Sie wissen, was ich meine. So etwas dulde ich nicht. Sie haben mein Wort.« Zärtlich drückte er ihr den Arm.
Die Frau verzog den Mund zu einem verzerrten Lächeln.
Quarry steckte die Ampullen in seinen Rucksack und wandte sich von der Frau ab.
Einen Augenblick stellte sie sich vor, wie er plötzlich mit einem wahnsinnigen Lachen zu ihr herumwirbelte und ihr eine Kugel in den Kopf jagte oder ihr die Kehle durchschnitt.
Doch Quarry verließ den Raum.
Diane Wohl schaute sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, weshalb sie hier war oder warum der Kidnapper ihr gerade so viel Blut abgenommen hatte. Sie war bei Talbot's einkaufen gewesen, als der Mann plötzlich mit einer Waffe in ihrem Wagen gesessen hatte, und nun war sie hier ... wo immer »hier« sein mochte.
Diane brach in Tränen aus.