73.

Es gibt wohl keinen formaleren, durchgeplanteren Raum auf der Welt als das Oval Office. Wer immer Zutritt zu diesem Raum haben wollte - vom Premierminister irgendeines relativ unbedeutenden Staates bis zu einem Großspender für den Wahlkampf -, eine Genehmigung wurde manchmal erst nach Tagen oder gar Wochen interner Auseinandersetzungen erteilt. Eine einfache Einladung für Leute, die nicht regelmäßig mit dem Mieter des Oval Office zu tun hatten, musste regelrecht erkämpft werden. Bekam man dann endlich Zutritt, war die Behandlung, die man erhielt, bis ins Kleinste durchorganisiert: ein Händeschütteln, ein Schulterklopfen, ein signiertes Foto. Auch bei ernsthaften politischen Verhandlungen wurde nichts dem Zufall überlassen. Das Oval Office war keine Umgebung, die Spontaneität förderte. Besonders der Secret Service runzelte die Stirn ob allem Ungeplanten.

Es war schon spät, aber Dan Cox arbeitete noch ein paar dieser Besucher ab, bevor er am Morgen zur UN fahren würde, um dort eine Rede zu halten. Man hatte ihn darüber aufgeklärt, wer die Leute waren. Größtenteils handelte es sich um wichtige Unterstützer seines Wahlkampfs, die ihre Scheckbücher gezückt und andere reiche Leute dazu überredet hatten, das Gleiche zu tun.

Sie kamen einer nach dem anderen, und der Präsident schaltete auf Automatik. Hand schütteln, nicken, lächeln, Schulter klopfen, ein paar Worte sagen und das demütige »Danke« akzeptieren. Bei einigen Hochkarätern, auf die ihn sein Beraterstab eigens hingewiesen hatte, nahm er sogar den ein oder anderen Nationalschatz vom Schreibtisch und erklärte etwas dazu. Ein paar Glückliche erhielten gar ein kleines Erinnerungsstück. Und diese Glücklichen verließen das Oval Office in dem Glauben, sie hätten eine persönliche Verbindung zu dem Mann aufgebaut, indem sie irgendetwas Brillantes gesagt hatten, womit sie sich einen signierten Golfball oder einen Stift mit dem Präsidentensiegel verdient hatten, Dinge, die im Weißen Haus tonnenweise eingelagert waren.

Dieser sorgfältig geplante Prozess wurde brutal unterbrochen, als plötzlich die Tür zum Oval Office aufgestoßen wurde - keine leichte Aufgabe angesichts der Schwere dieser Tür.

Dan Cox hob den Blick und sah seine Frau dort stehen ... Nein, nicht »stehen«, sie schwankte auf ihren High Heels; ihr Blick war wirr und verschwommen, und ihr sonst so perfekt frisiertes Haar zerzaust. Direkt neben ihr standen zwei nervös dreinblickende Agenten des Secret Service. Ihr Problem war klar: Auch wenn die First Lady inoffiziell das Recht hatte, das Oval Office zu betreten, wann immer sie wollte, waren sie in diesem speziellen Fall unschlüssig gewesen, ob sie die Frau durchlassen oder zu Boden reißen sollten.

»Jane?«, sagte der erstaunte Präsident und ließ den Golfball fallen, den er gerade einem Baulöwen aus Ohio hatte geben wollen, der eine ganze Wagenladung Geld für den Wahlkampf gespendet hatte.

»Dan!«, keuchte Jane. Sie war völlig außer Atem, denn sie war direkt von der Limousine durch die langen Gänge des Weißen Hauses und ins Büro ihres Mannes gerannt.

»Mein Gott, was ist denn? Fehlt dir irgendetwas?«

Jane trat einen Schritt vor. Die beiden Agenten taten es ihr nach und versperrten ihr vorsichtig den Weg. Vielleicht dachten sie ja, die First Lady sei wirklich krank, und nun müssten sie den Führer der freien Welt vor den Bakterien schützen.

»Wir müssen reden. Sofort.«

»Ich bin gleich fertig.« Dan schaute zu dem Mann, der den Golfball inzwischen aufgehoben hatte. Lächelnd sagte Cox: »Wir hatten alle einen langen Tag.« Er nahm den Ball wieder zurück. »Lassen Sie mich den Ball nur schnell für Sie signieren ...« Der normalerweise mit Namen so sichere Präsident hatte einen Aussetzer.

Jay, sein Sekretär, eilte ihm sofort zu Hilfe. »Wie wir besprochen haben, Mr. President, hat Wally Garrett in Cincinnati mehr Geld für Ihre Wiederwahl aufgetrieben als sonst jemand.«

»Nun, Wally, ich weiß wirklich zu schätzen ...«

Was der Präsident wirklich zu schätzen wusste, sollte nie jemand erfahren, denn Jane sprang vor, riss ihrem Mann den Golfball aus der Hand und schleuderte ihn durch den Raum. Er traf ein Porträt von Thomas Jefferson, einen von Dans größten Helden, und der alte Tom musste fortan mit einer Delle leben, wo bis dahin sein linkes Auge gewesen war.

Die Secret-Service-Agenten sprangen vor, doch Dan hob die Hand und hielt sie auf. Er nickte seinem Sekretär zu, und Garrett wurde ohne den begehrten Golfball rasch aus dem Raum geführt. Aber ein Politiker, der eine Position wie Dan Cox erreicht hatte, überließ nichts dem Zufall, und er ließ auch keinen Spender unglücklich von dannen ziehen. Der Mann aus Ohio würde ein signiertes Foto des Präsidenten bekommen sowie VIP-Karten für einen Event in nächster Zeit. Dabei war natürlich klar, dass er das, was er gerade gesehen hatte, nie publik machen würde.

Dan Cox streckte die Hand nach seiner Frau aus. »Jane, was zum Teufel ...«

»Nicht hier. Oben. Ich traue diesem Raum nicht.«

Jane funkelte die Agenten und Mitarbeiter an, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte so schnell aus dem Oval Office, wie sie gekommen war. Kaum hatte sie die dicke Tür hinter sich zugeschlagen, blickten die Beamten und Agenten erst einander und dann den Präsidenten an. Niemand wagte es zu sprechen.

Cox stand ein paar Augenblicke lang einfach nur da. Jeder Politiker, der es so weit gebracht hatte wie er, hatte eigentlich schon alles gesehen, aber das hier war selbst für Dan Cox neu.

»Ich sollte lieber mal nachsehen, was sie will«, sagte er schließlich und ging hinaus.

Larry Foster, sein Sicherheitschef, den man sofort angerufen hatte, eilte herbei und sagte: »Mr. President, möchten Sie, dass wir Sie begleiten?« Die Anspannung war dem alten Veteranen deutlich anzusehen. Selbst er wusste nicht recht, wie er es formulieren sollte. »Äh ... überall hin?«

Normalerweise war die Privatwohnung des Präsidentenpaares für den Secret Service tabu, es sei denn, sie wurden ausdrücklich dazu aufgefordert, einzutreten.

Cox dachte kurz darüber nach, sagte dann aber: »Das ... äh ... wird nicht nötig sein, Larry.« Doch als er weiterging, fügte er über die Schulter hinzu: »Aber bleiben Sie in der Nähe für den Fall, dass Jane etwas braucht.«

»Selbstverständlich, Mr. President. Wir können binnen Sekunden da sein.«

Cox ging nach oben, um seine Frau zur Rede zu stellen. Das Team des Secret Service folgte ihm, blieb ein paar Meter vor der Tür jedoch stehen und lauschte auf Hinweise, dass der Präsident in Gefahr sein könnte. Ohne Zweifel dachten alle das Gleiche. Es war ihre Pflicht, den Präsidenten der USA vor jeder Gefahr zu beschützen, und sie waren bereit, notfalls sogar ihr Leben zu opfern. Diese Männer waren auf alles gefasst.

Nur nicht auf das, was womöglich gerade nur ein paar Meter von ihnen entfernt vorging. Was, wenn die Gefahr für den Präsidenten von seiner Ehefrau ausging?

Dürften sie in so einem Fall auch tödliche Gewalt anwenden? Durften sie die First Lady töten, um den Präsidenten zu retten? Darüber stand zwar nichts im Handbuch, aber alle dachten das Gleiche:

Vermutlich ja.

Der Legende zufolge war so etwas Ähnliches schon einmal geschehen. Als Warren G. Harding Präsident gewesen war, hatte Mrs. Harding von der Affäre ihres Mannes erfahren. Der Präsident und seine Geliebte hatten Zuflucht in einem Schrank gesucht, und die wütende First Lady hatte angeblich versucht, die Tür mit einer Feuerwehraxt einzuschlagen. Der Secret Service hatte ihr daraufhin die Waffe abnehmen müssen, und der Präsident hatte überlebt. Doch später, noch während seiner Amtszeit, starb er unter mysteriösen Umständen in einem Hotel in San Francisco. Manche Leute glaubten, die First Lady habe doch noch ihre Rache gehabt und ihren Mann vergiftet. Das war allerdings nie bewiesen worden, denn Mrs. Harding hatte eine Autopsie untersagt und stattdessen befohlen, den Leichnam ihres Mannes so schnell wie möglich einzubalsamieren. Das war ein schönes Beispiel dafür, wie der starke Wille einer betrogenen Ehefrau über die Bedürfnisse einer ganzen Nation triumphierte.

Feuerwehräxte gab es nicht mehr im Weißen Haus, und obwohl in der Präsidentenwohnung eine kleine Küche vorhanden war, kochte die First Lady eigentlich nie ... oder falls doch, war es mehr als unwahrscheinlich, dass ein Präsident, der Hardings Geschichte kannte, das Gekochte essen würde.

Larry Foster zerbrach sich den Kopf darüber, ob es vielleicht irgendwelche Brieföffner in der Präsidentenwohnung gab, die man als Waffe benutzen könnte. Und was war mit einer schweren Lampe, um den präsidialen Schädel einzuschlagen? Oder mit einem Schürhaken? Foster glaubte, förmlich zu spüren, wie er ein Magengeschwür bekam. Obwohl es nicht gerade warm im Weißen Haus war, trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Er und sein Team rückten langsam an die verbotene Tür heran.

Dabei sah jeder der Agenten vor seinem geistigen Auge schon die Schlagzeile von morgen:

SECRET SERVICE TÖTET FIRST LADY, UM PRÄSIDENTEN ZU RETTEN.

Ein halbes Dutzend schwerbewaffneter Agenten wartete im Flur, um notfalls loszuschlagen, und alle sechs hatten sie Magenbeschwerden.

Zwanzig sorgenvolle Minuten später klingelte Fosters Handy. Es war der Präsident.

»Ja, Sir?«, meldete sich Foster.

Er hörte aufmerksam zu, und immer größere Verwirrung zeigte sich auf seinem Gesicht. Aber er sprach mit dem Präsidenten; also konnte Foster nur eines sagen:

»Sofort, Sir.«

Er legte auf und schaute zu seinem Stellvertreter. »Bruce, ruf in Andrews an, und lass einen Flieger startklar machen.«

»Die Air Force One?«

»Jedes Flugzeug, in das der Präsident steigt, ist die Air Force One.«

»Ich meine ...«

»Ich weiß, was du gemeint hast«, sagte Foster mit Nachdruck. »Nein, wir nehmen nicht die 747. Frag nach, ob eine der kleineren Maschinen verfügbar ist. Die 757 vielleicht, ohne Wappen.«

»Wolfman will in einer 757 ohne Kennzeichen nach New York?«, fragte Bruce erstaunt.

»Wir fliegen zwar irgendwo hin«, knurrte Foster, »aber ich glaube nicht, dass New York unser Ziel ist.«

»Aber wir haben doch kein Vorausteam irgendwo hingeschickt.«

»Das ist ein geheimer Einsatz, vergleichbar mit einer Operation im Irak oder in Afghanistan.«

»Aber auch da haben wir Vorausteams. Wir brauchen einen logistischen Vorlauf von mindestens einer Woche, bevor der Mann irgendwo hin kann.«

»Erzähl mir lieber was, was ich nicht weiß, Bruce. Das Problem ist, wir haben keine Woche. Wir haben nur ein paar Stunden, und ich weiß nicht mal, wo zum Teufel es hingeht. Also setz dich mit Andrews in Verbindung und besorg mir eine Maschine. Ich rufe in der Zwischenzeit den Direktor an und frage nach, wie ich mit dieser Scheiße hier umgehen soll. Ich bin schon verdammt lange in diesem Job, aber das ist neu für mich.«