83.
Quarry warf das Satellitentelefon beiseite, stieß einen Wutschrei aus und rannte in die Mine zurück.
In ihrer Deckung bemerkte Sean: »Er sieht nicht gerade glücklich aus.«
»Ich nehme an, er hat gerade herausgefunden, dass der Mann noch lebt.«
»Wovon reden Sie?«, fragte ein aufmerksamer Gabriel. »Was für ein Mann?«
»Gabriel, wie gut kennst du dich in der Mine aus? Ich würde ...« Michelle fiel ihm ins Wort. »Sean, nein!«
»Michelle, wir können nicht blind da rein.«
»Er ist ein Kind!«
»Und da drin ist vielleicht noch ein Kind.«
»Ich gehe«, erklärte Gabriel. »Ich kenne mich da gut aus. Ich will da rein. Ich kann mit Mr. Sam sprechen.«
»Siehst du?«, sagte Sean zu Michelle. »Er will gehen.«
Michelle schaute erst zu Sean und dann in Gabriels flehendes Gesicht.
»Wir haben nicht viel Zeit, Michelle. Du hast gesehen, wie Quarry da reingestürmt ist.«
Sie sprangen aus ihrer Deckung und rannten zum Mineneingang. Die Tür war kein Problem: Quarry hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie zu schließen. Mit gezückten Waffen und Taschenlampen liefen sie hinein. Wenige Sekunden später waren sie in der Dunkelheit verschwunden.
***
»Daryl!«, rief Quarry. »Daryl!«
Sein Sohn trat aus der Dunkelheit. »Was ist?« Quarry konnte kaum sprechen, kaum denken.
Er legte seinem Sohn die große Hand auf die Schulter und drückte zu. »Carlos hat angerufen. Es hat nicht funktioniert. Sie sind rausgekommen.«
»Scheiße! Wir sind im Eimer!«
»Sauerstoffmasken«, murmelte Quarry.
Daryl schaute seinen Vater wütend an. »Und was jetzt, alter Mann?«
Quarry machte kehrt und rannte den Tunnel hinunter. Daryl humpelte ihm hinterher. Quarry öffnete die Tür zu Willas Zelle und riss sie auf.
Ein Blick in sein wütendes Gesicht genügte, und Diane Wohl taumelte zurück. »Nein, bitte nicht!«, kreischte sie.
Willa war verwirrt. »Was ist los?«
»Bringen Sie uns nicht um!«, schrie Diane.
Willa sprang auf und wich ebenfalls zurück. Quarry und Daryl traten auf sie zu. Quarry atmete schwer. »Sie leben. Sie leben! Verdammt!«
»Wer lebt?«, rief Willa.
Quarry stieß den Tisch beiseite und trat die Stühle durch den Raum. Willa lief zu Diane, die sich in eine Ecke drückte.
Beide schrien, als Quarry sie packte und zur Tür zerrte. »Kommt!«, brüllte er. »Daryl!« Daryl packte Willa und hob sie hoch.
»Bitte, Mr. Sam, bitte ...« Willa weinte so kläglich, dass sie kaum sprechen konnte. Diane war völlig erschlafft, und Quarry musste sie über den Boden schleifen. Im Gang blieb er stehen und lauschte. Diane schrie wieder los. »Halt dein Maul, Weib!«, fuhr Quarry sie an, doch sie schrie weiter.
Quarry zog eine Pistole aus dem Gürtel und drückte sie ihr an die Schläfe. »Sei endlich still!«, zischte er. Diane verstummte.
Willa hing in Daryls Armen. Als Quarry sich zu ihnen umdrehte, sah er, dass sie ihn mit großen Augen anstarrte - ihn und seine Waffe.
»Hast du das gehört, Daryl?«, fragte Quarry.
»Was?«
»Das.«
Schritte hallten von den Tunnelwänden wider.
»Das ist die Polizei«, sagte Quarry. »Sie sind hier. Wahrscheinlich haben sie die ganze verdammte Army geschickt.«
Daryl schaute seinen Vater mit steinerner Miene an. »Und? Was willst du jetzt tun?«
»Kämpfen. Ich will, dass wir so viele von denen mitnehmen, wie ich kann.«
»Dann lass uns etwas holen gehen, womit wir kämpfen können.«
Daryl gab Willa an Quarry weiter. Kurz bevor sein Sohn in einem Seitentunnel verschwand, packte Quarry ihn noch einmal am Arm und sagte: »Bring den Schalter mit.« Daryl grinste böse. »Wir werden sie erledigen, Daddy.«
»Bring ihn mit. Aber gib ihn dann mir.«
»Du willst immer noch die Befehle erteilen, was? Wir kommen hier nie mehr lebend raus. Wir werden enden wie der alte Kurt, als Haufen Knochen.«
»Wovon redet er?«, rief Willa. »Geh endlich!«, fuhr Quarry seinen Sohn an.
»Ich werde gehen, okay, und dann werde ich zurückkommen, und wir machen es auf meine Art. Dieses eine Mal. Dieses eine letzte Mal, Daddy. Auf meine Art.«
»Daryl ...«
Doch sein Sohn war schon in der Dunkelheit verschwunden.
Die Schritte kamen näher.
»Wer ist da?«, rief Quarry. »Ich habe Geiseln!«
»Mr. Sam«, meldete sich eine Stimme.
»Gabriel!« Quarry konnte es nicht fassen.
Michelle war nicht schnell genug gewesen, um Gabriel davon abzuhalten, Quarry zuzurufen. Jetzt aber legte sie ihm die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf.
»Gabriel!«, rief Quarry. »Was machst du denn hier?« Stille. »Wer ist da bei dir?«
Quarry wusste, dass der Junge unmöglich allein hier hatte heraufkommen können. Sie hatten ihn. Sie waren aus dem kleinen Haus entkommen. Tippi war tot. Und sie hatten Gabriel. Und jetzt glaubten sie, sie hätten auch Sam Quarry. Aber da irrten sie sich. Seine Wut nahm zu. All die Jahre ... die viele Arbeit ... für nichts.
»Wer ist das?«, fragte Willa mit zitternder Stimme, die Arme um Quarrys dicken Hals geschlungen.
»Sei jetzt still.«
»Ist das der Junge, von dem Sie erzählt haben? Gabriel?«
»Ja. Aber da ist jemand bei ihm.«
Quarry stieß Diane mit dem Fuß an. »Steh auf. Na los.«
Diane rappelte sich auf. Quarry packte sie am Arm, zerrte sie den Gang hinunter und um eine Ecke.
»Bitte, lassen Sie uns gehen«, jammerte Diane. »Bitte.«
»Halt's Maul, Weib, oder ich schwöre ...«
»Tun Sie ihr nicht weh«, sagte Willa. »Sie hat doch nur Angst.«
»Wir alle haben Angst. Sie hätten Gabriel nicht hier raufbringen sollen.«
»Mr. Quarry!«
Alle erstarrten, als die neue Stimme erklang.
»Mr. Quarry, mein Name ist Sean King. Ich bin mit meiner Partnerin hier, Michelle Maxwell. Können Sie mich hören?«
Quarry blieb stumm und drückte Diane die Waffe in die Seite, um ihr klarzumachen, dass sie auch besser still sein sollte.
»Können Sie mich hören? Man hat uns angeheuert, um Willa Dutton zu finden. Wir sind keine Polizisten. Wir sind Privatdetektive. Wenn Sie Willa haben, lassen Sie sie bitte gehen, und wir verschwinden.«
Quarry schwieg.
»Mr. Quarry?«
»Ich höre Sie«, rief er. »Sie werden gehen, wenn ich sie Ihnen gebe? Warum habe ich das Gefühl, dass da draußen eine ganze Armee von Polizisten auf mich wartet?«
»Draußen ist niemand.«
»Ja, und Sie haben keinen Grund, mich anzulügen, nicht wahr?« Quarry zog Diane weiter den Gang hinunter.
»Wir wollen nur Willa. Das ist alles.«
»Wir alle wollen irgendwas, aber wir bekommen es nicht immer.«
Seans nächste Worte ließen den älteren Mann erstarren.
»Wir waren in Ihrem Haus. Wir haben den Raum gesehen. Gabriel hat ihn uns gezeigt. Wir wissen, was mit Ihrer Tochter passiert ist. Wir wissen alles darüber. Und wenn Sie Willa gehen lassen, werde ich mich dafür einsetzen, dass die Wahrheit ans Licht kommt.«
»Warum wollen Sie das tun?«, rief Quarry.
»Was geschehen ist, war falsch, Mr. Quarry. Wir wissen das, und wir wollen Ihnen helfen. Aber zuerst muss Willa in Sicherheit sein.«
»Für mich gibt es keine Hilfe mehr. Mir ist nichts mehr geblieben. Sie wissen, was ich versucht habe. Es hat nicht funktioniert. Jetzt werden sie mich holen kommen.«
»Wir können Ihnen trotzdem helfen.«
Sean sprach nun etwas leiser, damit Quarry nicht bemerkte, dass sie in Bewegung waren und näher kamen.
»Sie wollen einem kleinen Mädchen nicht wehtun«, sagte Sean. »Das weiß ich. Sonst hätten Sie es längst getan.«
Quarry dachte rasch nach. »Wo ist Gabriel? Ich will mit ihm sprechen.«
Michelle nickte dem kleinen Jungen zu.
»Mr. Sam, ich bin's.«
»Was machst du hier?«
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen. Ich möchte nicht, dass man Ihnen wehtut, Mr. Sam.«
»Das ist nett von dir, Gabriel, aber die Leute da bei dir ... Hören Sie zu: Gabriel und seine Ma haben nichts damit zu tun. Das war allein ich.«
»Wir haben den Brief gefunden, den Sie zurückgelassen haben«, sagte Sean. »Das wissen wir. Sie sind nicht in Schwierigkeiten.«
Gabriel sagte: »Mr. Sam, ich möchte nicht, dass jemand verletzt wird. Nicht Sie, und auch nicht das Mädchen. Würden Sie sie gehen lassen, damit Sie und ich nach Hause können? Vielleicht können wir ja fliegen, wie Sie mir versprochen haben.«
Quarry schüttelte langsam den Kopf. »Ja, das wäre wirklich schön, mein Sohn. Aber ich glaube nicht, dass es dazu kommt.«
»Warum nicht?«
»Regeln, Gabriel, Regeln. Das Problem ist nur, diese Regeln gelten nicht für jeden. Manche Leute verstoßen gegen die Regeln und ...« Seine Stimme verklang.
»Mr. Quarry, würden Sie Willa bitte gehen lassen?«, meldete Sean sich wieder zu Wort. »Und auch Diane Wohl? Sie haben sie doch auch, oder? Sie wollen den beiden doch nichts antun. Ich weiß, dass Sie das nicht wollen. So einer sind Sie nicht.«
Inzwischen waren sie Quarry ziemlich nahe gekommen. Sean und Michelle konnten es spüren. Sie winkten Gabriel, zurückzubleiben.
»Mr. Quarry!«
Quarry spürte, wie Willa sich immer verzweifelter an seinen Hals klammerte. Als er sie anschaute, glaubte er ein anderes kleines Mädchen zu sehen, das er von Herzen geliebt und in einem selbstgebauten Haus zum Sterben zurückgelassen hatte. Der Kerl hatte recht. Quarry war nicht diese Art von Mann ... zumindest wollte er es nicht sein.
»Okay. Ich lass sie gehen.«
Er setzte Willa ab und kniete sich vor sie, sodass er ihr in die Augen schauen konnte. »Willa, es tut mir leid, was ich getan habe. Könnte ich es wieder rückgängig machen, würde ich das tun; aber das geht nun mal nicht. Weißt du, wegen dem, was einige Leute getan haben, habe ich mein kleines Mädchen verloren. Das hat mich innerlich zerfressen und zu etwas gemacht, was ich nie sein wollte. Kannst du das verstehen?«
Willa nickte. »Ich glaube schon«, antwortete sie mit schwacher Stimme. »Ja.«
»Wenn man jemanden liebt, muss man auch bereit sein, jemanden zu hassen, und manchmal gewinnt der Hass die Oberhand. Aber hör mir zu, Willa: Auch wenn man einen guten Grund dafür hat, jemanden zu hassen, muss man den Hass trotzdem loslassen. Denn wenn du das nicht tust, wird er dein Leben zerstören. Und schlimmer noch: Er wird keinen Raum mehr für die Liebe lassen.«
Bevor Willa etwas erwidern konnte, drehte Quarry sich von ihr weg und rief: »Sie kommt jetzt zu Ihnen. Nur sie. Geh, Willa. Geh einfach in Richtung der Stimmen.«
»Hier lang, Willa«, rief Michelle.
Willa schaute noch einmal zu Quarry zurück.
»Geh einfach, Willa. Geh. Schau nicht zurück.« Er wusste, wenn sie von ihrer Mutter erfuhr, würde die Trauer ihr ganzes Leben verändern. Sie würde Quarry hassen, und das war auch richtig so. Er hoffte nur, dass das kleine Mädchen sich seine Worte gemerkt hatte und dem Hass nicht ihr Leben opfern würde, wie es bei ihm gewesen war.
Willa lief durch den dunklen Tunnel.
Quarry rief: »Wie haben Sie mich gefunden? Waren es die Zeichen auf den Armen der Frau? Die Coushatta-Zeichen?«
Sean zögerte, bevor er antwortete: »Ja.«
Quarry schüttelte den Kopf. »Scheiße«, fluchte er leise.
»Und jetzt Diane Wohl«, rief Sean, als Willa sie sicher erreicht hatte.
Quarry schaute zu der Frau und nickte. »Gehen Sie.«
»Sie werden mir nicht ... in den Rücken schießen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Ich schieße niemandem in den Rücken. Aber ich erschieße die Leute von vorne, wenn sie mir Grund dazu geben.« Er stieß sie vorwärts. »Gehen Sie.«
Diane rannte durch den Schacht, drehte sich dann aber noch einmal um und schrie: »Sie Schwein!«
Doch ihr Fluch ging in einem anderen Schrei unter. Es war der Kriegsschrei der Rebellen aus dem Bürgerkrieg.
»Passt auf!«, brüllte Michelle eine Sekunde später.
»Daryl!«, schrie Quarry, der die Quelle des Schreis sofort erkannte. »Nicht, Junge! Nicht! Gabriel ist hier!«
Daryl kam mit einer MP5 durch den Tunnel gestürmt und eröffnete das Feuer.
»Runter!«, rief Michelle. Sie schob Willa hinter sich und erwiderte das Feuer.
Sean duckte sich, als eine Salve über seinen Kopf hinwegraste.
Ins Kreuzfeuer geraten wurde Diane Wohl von mehreren MP5-Kugeln in den Torso getroffen und beinahe in der Mitte zweigeteilt. Ehe sie zu Boden kippte, schaute sie noch einmal zu Quarry zurück, den Mund halb geöffnet, die Augen groß, wirr und vorwurfsvoll. Dann sank sie auf den harten Boden und blieb in ihrem eigenen Blut liegen. Die Mine war ihr Grab geworden.
»Ihr verdammten Hurensöhne!«, brüllte Daryl, der ein neues Magazin eingeschoben hatte und den gesamten Gang unter Feuer nahm. Kugeln prallten jaulend von den Wänden, der Decke und dem Felsenboden ab. Es war, als wären sie in einem tödlichen Flipperautomaten gefangen.
Quarry sprang vor. »Daryl, hör auf! Gabriel ist ...«
Falls Daryl ihn hörte, gehorchte er seinem Daddy nicht mehr. Es war offensichtlich, was er mit »auf seine Art« gemeint hatte.
Daryl ließ die MP5 fallen, zog zwei halbautomatische Pistolen und rückte feuernd vor. Als die Magazine leer waren, lud er schnell nach und schoss weiter. Schließlich wechselte er zu einer Schrotflinte, die in einem Holster auf seinem Rücken hing, lud durch und feuerte weiter. Die Waffe schlug große Stücke aus dem Fels. Tödliche Splitter sirrten durch die Luft.
Sekunden später sprang Michelle in dem Moment auf, als Daryl nachlud, und traf ihn mit einer Kugel in die Brust.
»Verdammt!«, rief sie, als Daryl nur zurücktaumelte. Sein Körperpanzer hatte den Einschlag absorbiert. »Wann lerne ich endlich, auf den verdammten Kopf zu zielen?«
Sean eröffnete ebenfalls das Feuer und versuchte, Daryl in Deckung zu zwingen, doch der Mann schien keine Angst vor dem Tod zu haben. Er lud nach, feuerte einen Schuss nach dem anderen und lachte und fluchte dabei. »Ist es das, was getan werden muss, Daddy?«, kreischte er. »Ja? Dein Junge ist hier! Für dich, Daddy!«
Als Michelle erkannte, dass sie gegen diese Feuerkraft nichts ausrichten konnten, rief sie: »Gabriel, Willa, lauft!« Sie deutete hinter sich. »Da lang!«
Gabriel packte Willa an der Hand. »Komm!«
Sie rannten los.
»Verdammt ...«, stöhnte Sean ein paar Sekunden später vor Schmerz.
Michelle hob beim Nachladen den Blick und sah, wie Sean sich den Arm hielt, den ein Felssplitter aufgeschlitzt hatte.
»Geht schon«, sagte Sean und verzog das Gesicht.
Sie konnten Daryl in der Dunkelheit nicht sehen, aber er hielt nun etwas in der Hand, das noch viel Furcht erregender war als eine MP5 im Nahkampf. Es war ein kleines Kästchen mit einem Schalter.
»He, Bullen! Lasst uns alle Jesus besuchen gehen!«, krächzte Daryl.
»Nicht!« Quarry warf sich im selben Moment auf seinen Sohn, als dieser den Schalter umlegte. Daryl schlug hart auf dem Boden auf. Quarrys Schwung trug ihn an seinem Sohn vorbei, und er fiel auf einen Haufen Geröll.
Für einen Moment war es still, dann zündete die erste Ladung. Die Explosion donnerte durch den engen Tunnel wie ein vorbeirasender Zug und trieb Staub und Splitter vor sich her.
Daryl stand genau in dem Moment auf, um die volle Wucht abzubekommen. Ein heranrasender Felsbrocken trennte seinen Kopf vom Körper. Quarry wurde durch den Geröllhaufen größtenteils vor der Explosion geschützt. Als der Orkan aus Steinchen und Splittern über ihn hinweggerast war, kämpfte er sich hoch und hustete Staub.
Quarry warf kaum einen Blick auf das, was von seinem Sohn übrig geblieben war, sondern rannte den Tunnel hinunter. Er fand Sean und Michelle, wo die Druckwelle sie hingeworfen hatte, und half ihnen auf. »Laufen Sie!«, rief er. »Die nächste Ladung geht nicht weit von hier entfernt hoch!«
Sie rannten, so schnell sie konnten. Als die nächste Ladung detonierte, brach hinter ihnen die Decke ein. Wieder schleuderte die Druckwelle sie zu Boden. Michelle versuchte aufzustehen, schrie dann aber gellend und griff sich ans Fußgelenk. Quarry bückte sich, hob sie mit aller verbliebener Kraft hoch und warf sie sich über die Schulter. Einen Augenblick später schlug ein großer Felsbrocken genau an der Stelle ein, an der Michelle gelegen hatte.
»Bewegung! Bewegung!«, rief er Sean zu, der sich den verletzten Arm hielt. »Die nächste Ladung zündet jeden Moment!«
Als die drei über einen Trümmerhaufen kletterten, sahen sie in all dem Rauch und Chaos Gabriel und Willa nicht, die sich in einen Nebentunnel gekauert hatten, nachdem ihnen beinahe die Decke auf den Kopf gestürzt wäre.
Wenige Augenblicke später ging die dritte Ladung hoch, und wieder wurde der ganze Berg erschüttert. Erneut gab ein Teil der Decke nach und donnerte in die Tiefe.
Schließlich erreichten sie den Ausgang und rannten hindurch. Quarry setzte Michelle ab und keuchte wie nach einem Marathon.
Michelle hielt sich das Fußgelenk und starrte zu ihm hinauf. Quarry war voller Dreck und Kohlenstaub, und mit seinem wilden weißen Haar und dem von der Sonne verbrannten Gesicht sah er wie der Überlebende einer geheimnisvollen Urkatastrophe aus. In gewisser Weise war es ja auch so. Das galt für sie alle.
»Sie ... Sie haben mir das Leben gerettet«, keuchte Michelle.
Quarry beäugte Sean und sah das Blut über dessen Arm laufen. Er riss sich einen Ärmel ab und machte einen behelfsmäßigen Verband daraus. Als er zurücktrat, sah Sean die Brandwunden auf dem Arm des alten Mannes. Fragend schaute er zu Michelle. Sie hatte es ebenfalls gesehen.
Plötzlich erstarrte Sean. »Wo sind die Kinder?«
Quarry und Michelle schauten sich aufgeregt um.
Michelle rief: »Willa? Gabriel?«
Doch Quarry blickte schon wieder zum Eingang der Mine. »Sie sind noch da drin.« Er rannte durch die Tür, als eine weitere Explosion die Mine erschütterte.
Sean sprang auf, um ihm zu folgen.
»Sean, nicht!«, schrie Michelle und packte ihn am Arm. »Geh da nicht wieder rein! Der ganze Berg kommt runter!«
Sean riss sich los. »Ich habe den Jungen überredet, da reinzugehen, und ich habe seiner Mutter versprochen, dass ich ihn heil zurückbringe.«
Michelle liefen die Tränen über das verdreckte Gesicht. Sie versuchte etwas zu sagen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sean drehte sich um und rannte zur Mine.
Michelle rappelte sich auf und versuchte, ihm zu folgen, knickte aber sofort wieder ein und hielt sich stöhnend den gebrochenen Knöchel.
Quarry war Sean voraus, und er rannte mit der Schnelligkeit, wie nur die Panik sie verlieh. Doch auch Sean lief so schnell wie noch nie im Leben, und rasch hatte er den alten Mann eingeholt.
Beide riefen: »Gabriel! Willa!«
Dann hörten sie auf der linken Seite ein Geräusch. Sie bogen im selben Augenblick in den Schacht ab, als eine weitere Ladung in einem anderen Teil der Mine zündete. Alles knarrte und stöhnte, und überall drohte der Fels nachzugeben. Nicht mehr lange, und alles würde endgültig zusammenstürzen.
Sie fanden die Kinder zusammengekauert neben einem Haufen Trümmer, die von der Decke gestürzt waren. Sean hob Willa hoch, während Quarry Gabriel bei der Hand nahm. Gemeinsam rannten sie zum Ausgang zurück.
Eine weitere Ladung, keine zehn Meter entfernt, schleuderte sie erneut zu Boden. Spuckend und hustend kämpften sie sich hoch. Ihre Ohren dröhnten, und ihre Körper drohten den Dienst zu versagen. Mühsam standen sie auf und stolperten mit letzter Kraft weiter. Der Ausgang war bereits zu sehen. Sie sahen Tageslicht. Willa auf dem gesunden Arm, rannte Sean immer schneller, bis sein Herz vor Anstrengung zu bersten drohte.
Dann waren sie draußen, und Sean setzte Willa ab. »Lauf, Süße! Lauf zu Michelle!«
Das kleine Mädchen rannte zu Michelle, der es gelungen war, sich an einem Felsen aufzurichten.
In der Mine stolperte der sonst so trittsichere, aber nun völlig erschöpfte Quarry und fiel auf einen Felsbrocken. Gabriel blieb stehen und drehte sich um.
»Geh, Gabriel!«, rief der alte Mann. »Geh!«
Aber Gabriel ging nicht. Er kehrte um und half Quarry auf die Beine.
Sie rannten direkt auf die Tür zu, zum Sonnenlicht. Der Himmel über Alabama war wunderschön, und die Sonne schien warm.
Sean war auf dem Weg zurück. Er sah sie. »Kommt schon!«, rief er. »Kommt!« Er packte Gabriel an der Hand und zog ihn hinter sich her.
Michelle und Willa schauten aus der Ferne zu. In der Dunkelheit des Minenschachts konnten sie die Umrisse der beiden Männer und des Jungen sehen, die mit letzter Kraft zum Ausgang rannten.
»Kommt schon! Los, los, los!«, feuerte Willa sie an.
»Sean, lauf!«, schrie Michelle.
Noch zehn Meter.
Noch drei.
Sean war durch die Tür.
Die letzte Ladung explodierte.
Eine Wand aus Staub und Rauch schoss aus dem Berg hervor, und der Schacht brach endgültig ein.
Als der Staub sich verzogen hatte, lag Sean King auf dem Rücken.
Und auf ihm lag Gabriel ... und atmete.
Doch von Sam Quarry war keine Spur zu sehen. Er war noch immer in der Mine, begraben unter Hunderten Tonnen Fels.