36.
Quarry holte den dicken Schlüsselbund heraus, fand den richtigen und öffnete die zehn Zentimeter dicke Tür, die vor fast zwei Jahrhunderten gezimmert worden war. Atlee war ein Gewirr unterschiedlicher Elemente: teils Südstaatenadel, teils White Trash, teils amerikanische Geschichte. Letzteres wurde vor allem von dem Zimmer verkörpert, das Quarry nun betrat. Es lag im Innersten des Haupthauses und war so tief in der Erde vergraben, dass man dem Übelkeit erregenden Geruch von feuchtem rotem Ton nicht entkommen konnte. In dieses Zimmer hatten Quarrys Vorfahren die widerspenstigsten Sklaven geschickt und längere Zeit dort festgehalten, damit sie den Rest der »unfreien« Bevölkerung nicht mit ihren Ideen anstecken konnten. Quarry hatte die Hand- und Fußfesseln von der Wand entfernt wie auch die hölzernen Trennwände der Zellen. Auf diesen Teil der Familiengeschichte konnte er durchaus verzichten.
Hier unten waren Menschen gestorben. Quarry wusste das aufgrund der umfassenden Aufzeichnungen seiner Familie von Sklavenhaltern. Männer, Frauen, sogar Kinder. Manchmal, wenn er nachts hier unten war, glaubte er ihr Stöhnen zu hören, ihre letzten Atemzüge und ihr kaum hörbares Lebewohl.
Quarry zog die Tür hinter sich zu und schloss wieder ab. Wie immer bemerkte er dabei die tiefen Kratzspuren auf der dicken, handgesägten Eiche, Zeugnis der verzweifelten Versuche der hier Eingesperrten, wieder in Freiheit zu gelangen. Wenn man genau genug hinschaute, sah man sogar die Spuren von uraltem Blut auf dem Holz. Den Aufzeichnungen nach, die Quarry gesehen hatte, wusste er, dass keinem Einzigen die Flucht von hier gelungen war.
Die Wände waren inzwischen mit bemaltem Sperrholz verkleidet. Quarry hatte das selbst gemacht. Es war eine schwere Arbeit gewesen, doch es hatte ihm gefallen. Er hatte es schon immer gemocht, wenn er am Ende des Tages müde von der Arbeit war.
Auf der Holzverkleidung waren Arbeiten, die ganze Jahre in Quarrys Leben repräsentierten. Da waren Schiefertafeln, die er aus vom Abriss bedrohten Schulen gerettet hatte, und Whiteboards aus Firmenauflösungen. Und alle diese Flächen waren mit Quarrys präziser, im Heimunterricht erlernter Schrift bedeckt. Eine ganze Sammlung von Fakten war hier miteinander verbunden, alle in unterschiedlichen Farben hervorgehoben. Es sah aus wie das Kunstwerk eines Mathematikers oder Physikers. Manchmal fühlte Quarry sich wie der John Nash seiner kleinen Ecke von Alabama, nur dass er nicht unter Paranoia und Schizophrenie litt ... hoffte er zumindest. Ein Unterschied zwischen Quarry und dem Mathematiker und Nobelpreisträger Nash war jedoch, dass sich außer Daten keine Zahlen auf der Wand befanden. Größtenteils handelte es sich um schlichte Worte, die eine komplexe Geschichte erzählten.
Quarry hatte hier alles zusammengefügt, eine lange Nacht nach der anderen. Solange er denken konnte, war sein Verstand stets in Bewegung gewesen, so auch hier. Als er seinen ersten Automotor auseinandergenommen hatte, hatte er förmlich sehen können, wie der Zündfunke den Treibstoff entzündete und die Maschine ihre Magie wirkte. Die komplexesten mechanischen Diagramme, ein Rätsel für die meisten Menschen, waren für Quarry stets ein offenes Buch gewesen.
Bei allem anderen war es genauso gewesen: Flugzeuge, Waffen, landwirtschaftliche Geräte, die so kompliziert waren, dass sie selbst erfahrene Mechaniker in den Wahnsinn trieben. Quarry hatte immer herausfinden können, wo der Fehler lag. Er glaubte, diese Gabe von seiner in Zungen redenden Mutter geerbt zu haben, denn sein ehebrechender, rassistischer Vater hatte nicht mal ein Auto kurzschließen können. Quarry gehörte zu einer aussterbenden Art von Amerikanern: Er konnte tatsächlich etwas bauen und reparieren.
Als er nun das größte Werk seines Lebens betrachtete, kam ihm der Gedanke, dass es einen klar definierten Augenblick, einen Ort und eine Gelegenheit repräsentierte. Es war eine Art Schatzkarte, die ihm sagte, wohin er gehen musste und die ihn dazu trieb, das zu tun, was unvermeidlich war.
Und dieser Moment war nicht mehr fern.
Vor den Wänden standen alte, hölzerne Aktenschränke, voll mit den Früchten seiner Ermittlungen, die es ihm erlaubt hatten, die Lücken in seinem Plan zu füllen. Quarry war an viele Orte gereist, hatte mit vielen Menschen gesprochen und sich Hunderte Seiten von Notizen gemacht, die nun in diesen Schränken lagen. Die Ergebnisse dieser Nachforschungen waren nun an den Wänden zu sehen.
Quarrys Blick begann an einem Ende dieses »Mosaiks«, dort, wo alles angefangen hatte, und wanderte zum anderen Ende, wo alles zusammengekommen war. Von einem Ende zum anderen war endlich alles eins geworden. Manche Menschen würden diesen Raum den Schrein eines Besessenen nennen, und Quarry hätte dem nicht mal widersprochen. Für ihn repräsentierte das Bild an der Wand jedoch den einzigen Weg zu dem Ziel, das schwerer zu fassen war als jedes andere:
Es ging nicht nur um Wahrheit, sondern auch um Gerechtigkeit. Zwar schloss das eine das andere nicht zwangsläufig aus, doch hatte Quarry es als unglaublich schwer empfunden, beides zusammenzuführen. Aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er noch nie gescheitert. Trotzdem hatte er während der Arbeit immer wieder daran gedacht, dass es diesmal vielleicht anders sein könnte.
Quarry ging in die hinterste Ecke des Zimmers. Dort gab es eine kleine Nische hinter der Holzverkleidung, die voller schwerer Metallzylinder, Rohre, Messgeräte und Ventile war. Außerdem lagen dort die Überreste von Bleiplatten auf einer hölzernen Werkbank. Quarry tätschelte einen der Tanks.
Das war sein Ass im Ärmel.
Quarry ging wieder hinaus, schloss die Tür ab und stieg zur Bibliothek hinauf. Dort zog er sich Handschuhe an, spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und begann zu tippen. Die Worte, die vor ihm auf dem Blatt erschienen, waren weder überraschend noch enthüllend. Quarry hatte schon vor langer Zeit beschlossen, was er schreiben würde. Als er fertig war, faltete er das Blatt Papier, holte einen Schlüssel aus der Tasche und steckte beides in einen bereits adressierten Briefumschlag. Dann fuhr er in seinem alten Truck davon.
Zweihundert Meilen entfernt, in Kentucky, warf er den Brief in einen Briefkasten.
Am nächsten Morgen traf Quarry wieder in Atlee ein. Obwohl er die ganze Nacht durchgefahren war, fühlte er sich nicht müde. Es war, als würde seine Kraft mit jedem Schritt des Plans erneuert. Quarry frühstückte mit Daryl und Gabriel und half Ruth Ann dann beim Spülen. Nachdem er anschließend sechs Stunden mit seinem Sohn auf dem Feld gearbeitet hatte, war er durchgeschwitzt. Er nahm an, dass sein Brief in ein, höchstens zwei Tagen sein Ziel erreichen würde. Wie sie wohl reagieren würden? Allmählich würde wohl Panik einsetzen.
Der Gedanke ließ ihn lächeln.
Nach dem Abendessen ritt Quarry auf einem seiner Pferde zu Freds Trailer. Er stieg aus dem Sattel, setzte sich auf einen der aus Beton gegossenen Hocker vor dem Trailer, verteilte Zigaretten, eine Flasche Jim Beam und mehrere Dosen Red Bull, das seine indianischen Freunde so sehr liebten. Dann lauschte Quarry Geschichten aus Freds Jugend in Oklahoma. Dort hatte er im Reservat einen Mann gekannt, von dem er steif und fest behauptete, er sei Geronimos Sohn gewesen.
»Aber da oben lebten doch Cherokee, oder?«, fragte Quarry beiläufig und beobachtete Freds Köter dabei, wie er sich die Geschlechtsteile leckte und sich im Staub wälzte. »Ich dachte, Geronimo war Apache.«
Fred schaute ihn mit einer Mischung aus Schalk und Ernsthaftigkeit an. »Glaubst du, Leute, die aussehen wie du, können Leute auseinanderhalten, die aussehen wie ich?«
Die anderen Indianer lachten. Quarry schüttelte den Kopf und grinste. »Warum bist du eigentlich wieder hierher zurückgekommen?«, fragte er. »Du hast mir nie den Grund verraten.«
Fred breitete die kurzen Arme aus. »Das hier ist Coushatta-Land. Ich wollte bloß nach Hause.«
Quarry wollte ihm entgegnen, das sei kein Coushatta-Land, sondern gutes, altes, amerikanisches Quarry-Land, aber er mochte den Mann. Er besuchte ihn gerne und hörte sich gerne seine Geschichten an.
Quarry grinste wieder und hob sein Bier. »Auf die Heimkehr.«
»Auf die Heimkehr«, fielen die Indianer ein.
Ein paar Minuten später gingen sie alle hinein, um den Moskitos zu entkommen und noch auf ein paar andere unsinnige Dinge zu trinken. Einer der Coushatta schaltete den Fernseher an, drehte am Einstellknopf, und das Bild wurde klar. Die Nachrichten liefen. Quarry nippte an seinem Drink und richtete den Blick auf das Gerät. Auf Freds Geplapper hörte er nicht mehr.
Willas Entführung war die Hauptstory. Gerade waren neue Informationen bekannt gegeben geworden. Von irgendwo war durchgesickert, dass einige Beweise vom Tatort der Öffentlichkeit nicht enthüllt worden waren. Quarry richtete sich auf, als der Nachrichtensprecher sagte, um was für Beweise es sich dabei handelte: Eine Schrift auf den Armen der toten Frau; Buchstaben, die keinen Sinn ergaben. Doch die Polizei ermittelte auch in dieser Richtung.
Quarry sprang aus dem Trailer und erschreckte den alten Hund dabei so sehr, dass er zu winseln begann und den Schwanz einzog. Fred kam gerade noch rechtzeitig an die Tür, um zu sehen, wie Quarry sich auf sein Pferd schwang, um nach Atlee zurückzureiten. Fred schüttelte den Kopf, murmelte etwas von wegen »verrückte Weiße« vor sich hin und schloss die Tür des Trailers.
Quarry traf Daryl allein in der Scheune an. Der junge Mann beobachtete ungläubig, wie sein alter Herr auf ihn zurannte wie ein Footballstürmer. Quarry rammte seinen Sohn gegen die Wand und drückte ihm den Arm auf den Hals.
»Du hast ihr irgendwas auf die Arme geschrieben!«, brüllte Quarry.
»Was ...?«, keuchte Daryl.
»Du hast ihr was auf die Arme geschrieben! Was war das?«
»Lass ... Lass mich los, und ich sag's dir.«
Quarry trat einen Schritt zurück, nachdem er seinem Sohn noch einen harten Stoß versetzt hatte, der ihn erneut gegen die Wand warf. Keuchend erzählte Daryl seinem Vater, was er getan hatte.
»Warum hast du das getan?«, wollte Quarry wissen.
»Als die Lady tot war, habe ich Angst bekommen. Ich dachte, wir sollten sie auf eine falsche Fährte führen.«
»Was du getan hast, Junge, war dumm, saudumm!«
»Tut mir leid, Daddy.«
»Und ob es dir leidtun wird.«
»Aber so, wie ich es geschrieben habe, werden sie es nie herausfinden.«
»Sag mir genau, wie du es geschrieben hast.«
Daryl nahm einen alten Landwirtschaftskatalog von der Werkbank, riss eine Seite heraus und schrieb die Buchstaben darauf.
Quarry nahm das Papier und las.
»Siehst du, Daddy? Für sie ist das nur Unsinn, stimmt's? Du aber weißt, was da steht, nicht wahr?«
»Natürlich weiß ich, was da steht«, stieß Quarry hervor. Er ging hinaus und starrte zum Himmel. Es war noch nicht dunkel, doch die untergehende Sonne färbte die Wolken rot. Quarry bemerkte nicht, dass Daryl ihm folgte und ihn mit einer Miene anschaute, die erkennen ließ, dass er auf Anerkennung für seinen Trick hoffte. Es war der gleiche flehentliche Blick, mit dem auch Quarry seine Mutter auf deren Totenbett bedacht hatte, aber das wusste Daryl nicht.
Quarry entzündete ein Streichholz und verbrannte das Papier. Er schaute zu, wie die Asche davonsegelte und ein paar Schritte entfernt zu Boden regnete.
»Ist das okay so, Daddy?«, fragte Daryl nervös.
Quarry deutete auf die Asche. »Das ist dein zweiter Streich, Junge. Noch einer, und es ist vorbei, Sohn hin oder her.«
Quarry drehte sich um und ging davon.