38.

Alle waren gegangen; das Essen war weggeräumt, die Tränen geweint. Die Maxwell-Brüder saßen im Hinterhof und unterhielten sich leise bei einem Bier. Frank Maxwell war noch immer im Schlafzimmer.

Sean und Michelle saßen im Wohnzimmer, während draußen die Nacht anbrach.

»Er hat dich also beschuldigt, dass du ihn für einen Mörder hältst.«

Michelle nickte langsam. Offensichtlich hatte sie diesen Gedanken noch immer nicht ganz verdaut. »Ich kann es ihm kaum zum Vorwurf machen«, sagte sie. »Und einmal ein Cop, immer ein Cop. Er kennt sich aus. Er ist nun mal Verdächtiger.«

»Stimmt. Wenn eine Ehefrau eines gewaltsamen Todes stirbt, ist in den meisten Fällen der Ehemann der Täter.«

»Ich glaube nicht, dass sie sich geliebt haben.«

Sean stellte sein Soda ab und schaute seine Partnerin an. »Warum?«

»Sie hatten nie etwas gemeinsam, abgesehen von den fünf Kindern. Dad hat immer nur gearbeitet, und Mom war immer zu Hause. Als er in Ruhestand ging, haben sie sich kaum gekannt. Erinnerst du dich noch, wie sie zur Feier ihres Hochzeitstages mal nach Hawaii geflogen sind? Sie sind früher wieder zurückgekommen. Später habe ich mit Bill darüber gesprochen. Er hat gesagt, Dad habe ihm erzählt, nach einem Tag hätten er und Mom sich nichts mehr zu sagen gehabt. Sie hatten sich auseinandergelebt.«

»Haben sie je über Scheidung nachgedacht?«

»Weiß ich nicht. Jedenfalls haben sie es mir gegenüber nie erwähnt.«

»Aber du hast deiner Mutter nie allzu nahegestanden, oder?«

»Stimmt. Zu meinem Vater hatte ich immer eine engere Beziehung, aber das hat im Lauf der Jahre stark nachgelassen.«

»Warum?«, fragte Sean.

»Ich bin im Augenblick nicht in der Stimmung für Psychotherapie«, erwiderte Michelle gereizt.

»Schon gut. Ich hab ja nur eine Frage gestellt.«

»Und?«, wechselte Michelle das Thema. »Wer waren diese Leute, die Dad ins Schlafzimmer verjagt haben?«

»Du hast keinen von denen gekannt?«

»Ich kenne keinen der Freunde meiner Eltern.«

»Ich habe mal eine Runde gedreht. Die meisten waren Freunde deiner Mutter. Sie hat mit ihnen Golf oder Karten gespielt oder ist mit ihnen Shoppen gegangen. Und irgend so eine Wohltätigkeitssache hatten sie auch laufen.«

»Ich hatte den Eindruck, als wollte Dad die Leute nicht sehen.«

»Ich hab nichts Außergewöhnliches herausgefunden. Den Leuten schien der Tod deiner Mutter ehrlich leidzutun.«

Sie drehten sich um, als die Tür geöffnet wurde. Frank Maxwell war an ihnen vorbei und aus dem Haus, bevor sie auch nur aufstehen konnten.

Michelle schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Haustür, um zu sehen, wie ihr Vater in den Wagen stieg und wesentlich schneller davonfuhr, als er hätte fahren sollen.

»Was war das denn?«, fragte Sean und gesellte sich zu Michelle an der Tür.

Sie schüttelte nur den Kopf. Dann drehte sie sich zu dem Flur um, der zum Schlafzimmer führte. »Komm.«

Als Michelle das Zimmer betrat, fiel ihr als Erstes auf, dass das Hochzeitsfoto nicht mehr dort stand, wo es hätte stehen sollen.

Sean blickte zufällig in die Ecke. Er streckte die Hand aus und hob es auf. »Warum wirft er das Foto in den Mülleimer?«

»Allmählich kriege ich ein verdammt schlechtes Gefühl.«

Sean schaute sich das Foto an. »Deine Mom ist tot, und am Tag der Beerdigung wirft er ihr Hochzeitsfoto in den Papierkorb. Warum?«

»Glaubst du, Pam Dutton hat ihr Hochzeitsfoto je in den Papierkorb geworfen?«

»Weil Tuck sie nach Strich und Faden betrogen hat? Glaubst du, deine Mom ...« Sean konnte es in Michelles Gegenwart nicht laut aussprechen.

»Ich bin nur ... Ich weiß nicht.«

»Bist du sicher, dass du auf diesem Weg weitergehen willst?«

»Ich will die Wahrheit wissen, Sean. Egal wie.«

»Normalerweise gibt es Anzeichen für so etwas«, sagte Sean, »abgesehen von Hochzeitsfotos in Mülleimern.«

Michelle öffnete bereits die Schubladen der Kommode, während Sean sich den Kleiderschrank anschaute. Ein paar Minuten später hielt Michelle ziemlich freizügige Unterwäsche in der Hand, an der noch die Preisschilder hingen, während Sean drei neu aussehende, unanständige Outfits aus dem Schrank geholt hatte.

Die beiden schauten einander an, ließen das Offensichtliche jedoch unausgesprochen.

Sie legten die Kleidungsstücke wieder zurück, und Michelle führte Sean zu dem kleinen Raum hinter dem Speisezimmer. Dort stand ein Schreibtisch in einer Ecke. Auch hier durchsuchte sie die Schubladen, holte ein Kontoauszugsbuch heraus und reichte es Sean. »Mom hat sich immer um die finanziellen Angelegenheiten gekümmert.«

Während Sean die Kontoauszüge durchging, sah Michelle methodisch die Kreditkartenrechnungen durch.

Ein paar Minuten später hob sie den Blick. »Da sind Rechnungen über Hunderte von Dollar für Männerkleidung von vier unterschiedlichen Onlinehändlern. Von dem Zeug habe ich aber nichts im Schlafzimmer gesehen.«

Sean hielt das Kontoauszugsbuch in die Höhe. »Hier ist ein Eintrag über eine Startgebühr für ein Golfturnier. Hat dein Dad je Golf gespielt?«

»Nein, aber Mom. Das ist also nichts Ungewöhnliches.«

Sean zeigte Michelle ein Stück Papier, das er aus dem Schreibtisch genommen hatte. »Das hier gehört zur Anmeldung für das Turnier. Die Startgebühr betrug fünfzig Dollar pro Person, aber auf der Rechnung stehen hundert Dollar.«

»Also für zwei Leute.«

»Michelle, das ist ein Anmeldeformular für ein Turnier für Paare

Michelle riss Sean das Blatt aus der Hand, schaute es sich an und legte es dann beiseite.

Sean musterte sie besorgt. »Findest du nicht, dein Vater hätte das alles leicht herausfinden können? Wir haben nur zehn Minuten dafür gebraucht.«

»Mom scheint sich keine allzu große Mühe gegeben zu haben, das zu verbergen. Vielleicht war es ihr egal ... oder ihm auch.«

»Dein Dad scheint mir keiner von den Männern zu sein, die es so einfach hinnehmen, Hörner aufgesetzt zu bekommen.«

»Du kennst meinen Vater nicht, Sean.« Michelle schaute auf ihre Hände. »Und ich vielleicht auch nicht.«

»Was ist hier los?«

Die beiden drehten sich um. Bill Maxwell stand in der Tür. Er schaute auf die Kontoauszüge und die Kreditkartenrechnungen.

»Was tust du da, Mik?«

»Ich gehe ein paar Rechnungen durch. Ich weiß, dass Mom sich immer darum gekümmert hat, und ich will nicht, dass Dad sich deswegen den Kopf zerbricht.«

Sie legte die Sachen in die Schublade zurück und stand auf. »Dad ist gegangen.«

»Wohin?«

»Ich weiß nicht. Und er hat mich auch nicht um Erlaubnis gebeten.«

Michelles Blick fiel auf das Bier in Bills Hand. »Wollt ihr Jungs das jetzt die ganze Zeit über machen? Saufen und quasseln?«

»Himmel, Mik, wir haben gerade unsere Mutter beerdigt. Jetzt lass es doch mal gut sein.«

»Ich bin sicher, sie hat das nicht so gemeint, Bill«, mischte Sean sich ein.

»Doch!«, stieß Michelle hervor. »Genau so habe ich's gemeint.«

Sie schnappte sich die Schlüssel und ging zur Tür. Sean blickte Bill entschuldigend an und folgte ihr.

Er holte sie ein, als sie gerade in ihr Auto stieg.

»Und was tun wir jetzt?«, fragte er.

»Wir fahren noch mal zu Donna Rothwell.«

»Warum?«

»Wenn meine Mutter eine Affäre hatte, weiß Donna vermutlich, mit wem.«