68.

Während er die Aktenmappen durchging, klingelte Seans Handy. Es war Aaron Betack.

»Du hast das nicht von mir«, sagte der Agent.

»Du hast den Brief gefunden?«

»Du hattest den richtigen Riecher, Sean. Ja, er war in ihrem Schreibtisch. Ich habe ihn eigentlich schon vor einer ganzen Weile gefunden. Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, dich anzurufen. Wenn jemand herausfindet, was ich getan habe, ist meine Karriere im Eimer. Vermutlich bringt mich das sogar in den Knast.«

»Von mir wird es keiner erfahren, das kann ich dir garantieren.«

»Ich habe nicht mal dem FBI etwas davon erzählt. Ich wüsste auch nicht wie, ohne denen sagen zu müssen, wie ich an die Information herangekommen bin.«

»Ich verstehe. War er mit Maschine geschrieben wie der erste?«

»Ja.«

»Und was stand drin?«

»Nicht viel. Der Schreiber hat sich sehr kurz gefasst, aber aus den wenigen Worten ging genug hervor.«

»Zum Beispiel?«

»Einige Dinge, die wir bereits wissen. Dass sie jeden Tag das Postfach überprüfen soll. Sie ist auch täglich dorthin gefahren. Waters hat das Fach überprüft. Sackgasse. Der Plan ist, wenn der Brief kommt, will das FBI ihn ihr abnehmen.«

»Sie wollen ihn der First Lady mit Gewalt abnehmen?«

»Ja, ich weiß. Vor dem geistigen Auge sehe ich schon, wie sich FBI und Secret Service gegenseitig die Knarre an den Kopf halten. Das ist nicht nett. Aber in Wahrheit wird man das hinter den Kulissen regeln. Wolfman wird nicht zulassen, dass der Wahlkampf deswegen ruiniert wird - Nichte hin oder her.«

»Was stand sonst noch in dem Brief?«

»Das war das Beunruhigende.«

»Ich verstehe nicht ...«, sagte Sean besorgt.

»Ich bin nicht mehr sicher, ob die ganze Sache überhaupt mit den Duttons zu tun hat. Ich glaube eher, es hat etwas mit der First Lady zu tun.«

»Du meinst, die Kidnapper wollen etwas vom Präsidenten?«

»Nein. In dem Brief stand, dass das nächste Schreiben alles enthüllt. Wenn sie den Brief jemand anderem zu lesen gibt, wäre es für sie vorbei - und für alle, die ihr am Herzen liegen. Dann gebe es keinen Ausweg mehr für sie. Wenn sie überleben wolle, müsse sie den Brief vor allen anderen verbergen.«

»Das stand wirklich da drin?«

»Nicht wörtlich, aber das war der Sinn. Sean, du kennst sie schon wesentlich länger. Ich bin erst seit Cox' Amtsantritt hier. Auf was könnte der Kidnapper sich beziehen? Ist da etwas in der Vergangenheit von Mrs. Cox?«

Sean dachte daran zurück, wie er Jane das erste Mal begegnet war, als er den frischgebackenen, völlig betrunkenen US-Senator Cox in ihr Haus getragen hatte. Das hatte nie irgendwelche Konsequenzen gehabt.

»Sean?«

»Ich habe nur nachgedacht. Mir fällt aber nichts ein, Aaron.«

Er hörte den anderen Mann seufzen. »Wenn ich gerade meine Karriere für nichts und wieder nichts aufs Spiel gesetzt habe ...«

»Das glaube ich nicht. Was in dem Brief steht, ändert alles, Aaron, ich weiß nur nicht wie.«

»Nun, wenn es hier wirklich um die First Lady geht und das Pulverfass mitten im Wahlkampf explodiert, möchte ich nicht in der Nähe sein.«

»Uns wird vielleicht keine Wahl bleiben.«

»Und? Gibt es bei dir etwas Neues?«

»Waters und ich gehen gerade ein paar Spuren nach.«

»Wie geht es Maxwell? Ich habe gehört, ihre Mutter sei gestorben.«

»Michelle Maxwell geht es gut. Jedenfalls so gut, wie man es unter den Umständen erwarten kann.«

»Auch wenn das vermutlich nicht viel bedeutet ... Ich glaube, man hat euch damals beim Service richtig verarscht.«

»Danke.«

Aaron legte auf. Nachdem Sean sich ein paar Minuten lang vergeblich den Kopf darüber zerbrochen hatte, was in Janes Vergangenheit der Grund für dies alles sein könnte, wandte er sich wieder den Aktenmappen zu.

Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Michelle kam herein.

»Und? Hast du deinen Dad gefunden?«, fragte Sean und stand auf.

»Ja. Er war genau da, wo ich gedacht habe.«

»In dem alten Haus?«

Sie starrte ihn düster an.

»Ich bin Privatdetektiv«, sagte Sean schulterzuckend. »Das ist mein Job.«

»Ja. Aber manchmal wünsche ich mir, du wärst nicht so gut in deinem Job«, seufzte Michelle, »besonders wenn es mich betrifft.«

Er musterte sie. »Sag mal, hast du geweint?«

»Tränen sind manchmal ganz gut. Das habe ich in letzter Zeit gelernt.«

»Hast du alles geklärt?«

»So ziemlich, ja.«

»Ist er mit dir zurückgekommen?«

»Nein, er ist zu Bobby gefahren.«

Michelle schaute auf den Aktenstapel. »Tut mir leid, dass ich dich damit allein gelassen habe. Was gefunden?«

»Noch nicht. Ich bin die Akten jetzt vier Stunden lang durchgegangen und habe nichts entdeckt. Der Menge nach zu urteilen, werden Desertionen allmählich zu einem echten Problem für die Army. Ich habe auch von Betack gehört.« Sean brachte Michelle auf den neuesten Stand.

Michelle setzte eine frische Kanne Kaffee auf und füllte zwei Becher für sich und Sean. Dann nahmen beide am Küchentisch Platz. »Das würde erklären, warum sie so nervös war«, sagte Michelle, »und warum sie am liebsten alles für sich behalten will.«

»Du meinst das mit der Unterschlagung von Beweisen?«

»Das auch.«

Michelle streckte die Hand aus. »Gib mir mal eine Mappe. Wollen doch mal sehen, ob wir unseren Jungen finden.«

Zwei Stunden später hatten sie noch immer nichts entdeckt.

»Nur noch sechs«, bemerkte Sean und gab Michelle eine weitere Mappe.

Sie lasen langsam und suchten nach jedem noch so kleinen Hinweis, der es ihnen erlauben würde, endlich wieder in Aktion zu treten. Ihre Konzentration war so groß wie bei einem Collegeexamen. Sie durften sich keine Fehler erlauben. Falls hier irgendwo eine Spur vergraben sein sollte, war sie sehr subtil, und sie durften sie nicht übersehen.

»Wie wär's mit Abendessen?«, fragte Sean schließlich. »Ich zahle. Und wir können dabei weiterlesen.«

Sie fuhren zu einem Restaurant.

»Und glaubst du wirklich, dass mit deinem Dad alles in Ordnung ist?«, fragte Sean.

Michelle nickte. »Ja. Ich meine, wir müssen beide noch daran arbeiten. Ich war auch nicht gerade die liebevollste und aufmerksamste Tochter der Welt.«

»Oder Schwester«, fügte Sean hinzu.

»Danke, dass du mich daran erinnerst.«

Während sie aßen, musterte Michelle Sean nervös. »Sean, wegen dem, was im Haus meines Vaters passiert ist ...«

»Was ist damit?«

»Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Falls doch, werde ich für dich da sein, okay?«

»Danke. Ich würde das Gleiche für dich tun. Ich hoffe, du weißt das.«

»Deshalb sind wir ja Partner. Sollte es also zu kleineren Problemen kommen, werden wir uns darum kümmern, okay? Gemeinsam.«

»In Ordnung.«

Er schob ihr eine Aktenmappe zu. »Jetzt aber wieder an die Arbeit.«

Bevor Michelle die Akte öffnete, beugte sie sich über den Tisch und küsste Sean auf die Wange.

»Für was war das denn?«, fragte er.

»Weil du mit kleineren Problemen so gut zurechtkommst. Und weil du eine Lady nicht ausgenutzt hast, als du die Gelegenheit hattest.«