41.

Sie saßen im riesigen Wohnzimmer von Donna Rothwell. Die Frau glaubte nicht, dass Sally Maxwell eine Affäre mit jemandem gehabt hatte. »Es beschmutzt das Andenken Ihrer Mutter, so was auch nur zu denken«, sagte sie mit vorwurfsvoller Stimme und warf Michelle einen finsteren Blick zu.

»Aber jemand hat sie umgebracht«, erwiderte Sean.

»Ständig werden irgendwelche Leute umgebracht. Vielleicht war es ein Raubmord.«

»Es wurde nichts gestohlen.«

Donna winkte ab. »Die Täter haben Angst bekommen und sind weggerannt.«

»Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben«, bemerkte Michelle in skeptischem Tonfall, »hatten Sie Angst, ein Mörder könne hier frei herumlaufen. Jetzt nehmen Sie das offenbar nicht mehr sehr ernst.«

»Das hier ist eine nette Wohngegend, aber Verbrechen geschehen überall«, entgegnete Donna. »Klar, ich habe Angst, aber deshalb bin ich immer noch Realistin. Ich habe ein Sicherheitssystem und zwei Angestellte, die hier bei mir wohnen. Und ich habe Doug.«

»Doug?«

»Meinen Freund. Aber um noch einmal auf das eigentliche Thema zurückzukommen ... Es ist Ihrer Mutter gegenüber sehr unfair, sie wegen so etwas zu beschuldigen. Besonders, da sie sich nicht mehr verteidigen kann.«

Sean legte Michelle die Hand auf den Arm, denn er fühlte, dass sie drauf und dran war, aufzuspringen und der Frau an die Gurgel zu gehen - und das wäre kaum ein fairer Kampf gewesen.

In diesem Moment kam ein Mann ins Zimmer. Er trug einen Beutel mit Brezeln unter dem Arm. Der Mann war gut eins achtzig groß und sah sehr sportlich aus. Sein wallendes Haar war silbern, was ihm das seriöse Aussehen eines Nachrichtensprechers verlieh, und seine Haut war sonnengebräunt. Er war ein gutaussehender Bursche von vielleicht sechzig Jahren.

»Mein Freund, den ich vorhin erwähnt habe, Doug Reagan«, sagte Donna stolz. »Der erfolgreiche Gründer einer weltweit tätigen IT-Firma. Er hat sie vor vier Jahren verkauft und genießt jetzt das schöne Leben. Mit mir.«

»Ja, das nennt man wohl den amerikanischen Traum«, sagte Michelle mit einem Hauch von Verachtung in der Stimme.

Doug schüttelte den beiden Privatdetektiven die Hände. »Das mit Sally tut mir leid«, sagte er. »Sie war eine gute Frau und Donna eine gute Freundin.«

»Danke«, erwiderte Michelle.

Doug schaute zu Donna und nahm ihre Hand. »Wir werden ihr Lächeln vermissen, nicht wahr?«

Donna krallte die Finger in ihr Taschentuch und nickte. »Aber Michelle glaubt, Sally könnte eine Affäre gehabt haben.«

»Was?« Doug blickte die beiden Privatdetektive an. »Das ist absurd.«

»Wie können Sie so sicher sein?«, fragte Sean.

Doug öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. »Ich ...«, begann er schließlich, stockte und drehte sich zu seiner Freundin um. »Donna müsste das besser wissen als ich. Ich kannte Sally, aber nicht so gut wie Donna. Trotzdem, das hier ist ein kleiner Ort. So etwas hätte sich schnell herumgesprochen.«

»Genau so etwas wollen wir hören«, erklärte Michelle. »Allerdings sind wir darauf angewiesen, dass die Leute uns die Wahrheit sagen.«

»Ich sage Ihnen die Wahrheit!«, stieß Donna zornig hervor. »Ihre Mutter hatte meines Wissens keine Affäre mit irgendeinem Mann. Und wie Doug gerade schon sagte, ist das hier eine kleine Stadt.«

»Meine Mom hat zwei Startgelder für ein Turnier für Paare im Golfclub bezahlt. Mein Vater spielt aber kein Golf.«

»Oh, um Himmels willen! Sie hat mit Doug gespielt«, sagte Donna.

Michelle und Sean blickten Doug an, der sich gerade eine Brezel in den Mund gesteckt hatte. »Du hast doch gesagt, ich solle mit ihr spielen, Donna. Erinnerst du dich? Weil sie niemanden hatte.«

»Stimmt. Das habe ich.«

»Und warum hat er nicht mit Ihnen gespielt?«, hakte Michelle bei Donna nach. »Sie sind doch auch Golferin.«

»Das war zwar ein Wohltätigkeitsturnier«, antwortete Donna, »trotzdem galten bestimmte Startbedingungen. Mein Handicap ist zu hoch. Ihre Mutter allerdings war eine hervorragende Golferin, und Doug spielt ebenfalls ausgezeichnet.«

»Golf ist heutzutage so ziemlich alles, was ich noch tue«, bemerkte Doug und lächelte, »und natürlich, Zeit mit Donna zu verbringen.«

Donna erwiderte das Lächeln.

»Das hört sich so an, als sollte jeder möglichst früh den Ruhestand anstreben«, sagte Michelle und funkelte Donna an.

»Wenn Sie hierhergekommen sind, um uns zu beleidigen ...«, begann Doug, doch Sean fiel ihm ins Wort. »Diese Situation bedeutet für alle eine große Anspannung«, sagte er. »Wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen, aber jetzt ist es wohl an der Zeit, dass wir gehen.«

Bevor Michelle protestieren konnte, packte Sean sie am Arm und schob sie durch die Tür.

Es dauerte einen Moment, bis sie bemerkten, dass Doug ihnen nach draußen gefolgt war.

»Das mit Ihrer Mutter tut mir wirklich leid«, sagte er zu Michelle. »Ich habe Sally sehr gemocht. Jeder mochte sie.«

»Einer mochte sie offenbar nicht«, sagte Michelle.

»Was? Oh, ja, natürlich.« Verlegen standen sie auf der Terrasse mit ihren hohen korinthischen Säulen.

»Gibt es vielleicht noch etwas, das Sie uns sagen wollen?«, hakte Sean schließlich nach.

»Das ist alles sehr peinlich«, sagte Doug.

»Ja«, pflichtete Michelle ihm bei. Sean schaute sie streng an.

»Ich kenne Ihren Vater nicht so gut«, sagte Doug. »Aber Sally hat Donna und mir manchmal von ihm erzählt.«

»Ist das der Punkt, wo Sie mir sagen, dass sie nicht glücklich waren und meine Mutter daran gedacht hat, ihn zu verlassen?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, Ihre Mutter war ... nun ja ... einigermaßen glücklich mit Ihrem Vater. Ich ... äh ...«

»Raus damit, Doug.«

»Ich glaube nicht, dass Ihr Vater glücklich mit Sally war. Sie schienen sich auseinandergelebt zu haben. Zumindest hat sie es so ausgedrückt.«

Michelles Gesicht fiel förmlich in sich zusammen.

Doug musterte sie. »Glauben Sie das auch?«

»Es ist egal, was ich glaube und was nicht«, entgegnete Michelle. »Mich interessiert nur, wer meine Mom ermordet hat.«

»Uns hat sie jedenfalls nichts erzählt, dass sie sich verfolgt fühlt oder so. Sie hat ein ganz normales Leben geführt. Freunde, Golfen, Gartenarbeit. Und ich kenne auch keine Psychopathen in der Gegend hier.«

»Genau das ist ja das Problem mit Psychopathen«, erwiderte Michelle. »Die richtig Bekloppten bemerken Sie erst, wenn sie Ihnen das Messer in den Hals rammen.«

Doug murmelte eine schnelle Verabschiedung; dann rannte er fast ins Haus zurück.

Auf dem Weg zurück zum SUV fragte Michelle: »Glaubst du, das war nur ein Raubüberfall, der aus dem Ruder gelaufen ist?«

»Könnte sein.«

Sie stiegen ein. »Hast du Hunger?«, fragte Michelle. »Ich kenne da einen netten Laden.«

Zehn Minuten später saßen sie in einem kleinen Restaurant und hatten bestellt.

Sean sagte: »Okay, die Cops haben die Garage untersucht und keine Spuren gefunden. Das Garagentor war heruntergelassen und der Hinterausgang zum Hof abgeschlossen. Aber das hätte der Killer auch auf dem Weg nach draußen tun können. Man muss die Tür ja nur zuziehen.«

»Also hätte jeder reinkommen, auf sie warten und sie töten können, um dann auf diesem Weg zu fliehen. Außerdem war es draußen trocken, deshalb gibt es keine Fußabdrücke.«

»Und hinten ist noch der Zaun, der zusätzlich Deckung bietet.«

Michelle sagte: »Der Gerichtsmediziner geht von einem Todeszeitpunkt zwischen acht und neun aus. Da sollte man doch glauben, dass jemand was gesehen oder gehört hat.«

Sean legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Letzteres wäre wohl im Lärm der Poolparty untergegangen. Die sind doch alle verhört worden, oder?«, fügte er hinzu. »Ich meine die Partygäste.«

»Ich nehme es an.« Michelle schaute ihn an. »Warum? Was denkst du?«

»Wenn ich jemanden umbringen wollte, würde ich mich zu dieser Party einladen lassen, mich davonstehlen, die Tat begehen und wieder zurückkommen.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber dazu hättest du wissen müssen, dass meine Mutter ausgehen wollte und genau zu diesem Zeitpunkt in der Garage sein würde.«

»Nicht unbedingt. Sie sind vielleicht zur Garage rein und wollten gerade ins Haus, als deine Mutter rausgekommen ist und ihnen die Mühe gespart hat.«

»Das wäre immer noch sehr riskant, Sean. Mein Dad war zu Hause. Er ist ein ehemaliger Cop und hat eine Waffe im Haus. Wie Donna gesagt hat, ist das hier eine kleine Stadt. Die Leute hätten es gewusst.«

Sean lehnte sich gedankenverloren zurück. Ihr Essen kam, und sie aßen schweigend.

»Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte Michelle, als sie das Restaurant verließen.

»Fragen kostet nichts.« Sean lächelte.

Michelles nächste Worte vertrieben das Lächeln.

»Als ich ein kleines Mädchen war, haben wir zwei Stunden südlich von hier in einer ländlichen Gegend von Tennessee gewohnt. Ich möchte wieder dahin zurück. Ich muss dahin zurück.«