32.

Du hättest dich umbringen können«, sagte Quarry wütend, als er Willa gegenüber in ihrer »Zelle« saß.

»Ich bin hier gefangen, und Gefangene haben die Pflicht zu fliehen«, erwiderte das Mädchen. »Das ist ihr Job. Das weiß doch jeder.«

Quarry trommelte mit seinen langen, dicken Fingern auf der Tischplatte. Er hatte Willas Dietriche konfisziert, sämtliche Konservendosen wegräumen lassen und Carlos und Daryl zu zusätzlichen Patrouillen verdonnert.

»Wer ist Diane?«, fragte Willa.

»Eine Frau«, antwortete Quarry barsch.

»Das weiß ich. Warum ist sie hier?«

»Das geht dich nichts an.«

Quarry stand auf, um zu gehen.

»Übrigens ... danke.«

Quarry drehte sich um und blickte überrascht drein. »Für was?«

»Sie haben mir das Leben gerettet. Wären Sie nicht gewesen, läge ich jetzt am Fuß des Berges.«

»Gern geschehen. Aber versuch das nicht noch einmal.«

»Darf ich Diane wiedersehen?«

»Vielleicht.«

»Wann?«

»Ich weiß nicht.«

»Warum nicht? Das ist doch eine ziemlich einfache Frage.«

»Und warum stellst du so viele Fragen, obwohl du weißt, dass ich sie nicht beantworte?«, entgegnete Quarry wütend und fasziniert zugleich von der Frechheit des kleinen Mädchens.

»Weil ich weiter darauf hoffe, dass Sie sie irgendwann beantworten werden«, erklärte Willa und strahlte Quarry an.

»Ein Mädchen wie dich habe ich noch nie kennengelernt. Nein, das stimmt so nicht. Du erinnerst mich an jemanden.«

»Und an wen?«

»An jemanden.«

Quarry schloss die Tür hinter sich und schob einen schweren Riegel vor. Selbst wenn es Willa gelingen sollte, noch einmal das Schloss zu knacken - es würde ihr nicht gelingen, die Tür zu öffnen.

Auf dem Weg durch den Gang zog Quarry Papiere aus der Tasche. Sie waren der Grund, warum er heute hergeflogen war. Er erreichte die Tür und klopfte.

Mit zitternder Stimme fragte Diane: »Wer ist da?«

»Ich muss mit Ihnen reden«, rief Quarry durch die Tür. »Sind Sie sauber nach Ihrem kleinen Ausflug? Und angezogen?«

»Ja.«

Quarry schloss die Tür auf und ging hinein.

Wie bei Willa gab es auch hier eine Pritsche, einen kleinen Tisch, eine Lampe, eine Campingtoilette, Wasser und Seife, Konservendosen und ein paar Kleidungsstücke. Diane hatte die auf der Flucht verdreckten Sachen gegen eine weite Hose und eine weiße Bluse getauscht.

Quarry schloss die Tür hinter sich. »Ich habe gerade mit Willa gesprochen.«

»Bitte tun Sie ihr nichts für das, was ich verbockt habe.«

»Ich will ihr nichts tun«, erwiderte Quarry, fügte dann aber in grimmigem Tonfall hinzu: »Es sei denn, Sie beide ziehen noch einmal so eine Nummer ab. Es führt kein Weg von hier fort, auch nicht, wenn Sie aus der Mine rauskommen.«

»Warum tun Sie das?«

Quarry setzte sich an den Tisch und hielt die Papiere hoch. »Deshalb.« Er nickte zu dem einzigen anderen Stuhl im Raum. »Möchten Sie sich nicht setzen?«

»Ich will nach Hause.«

»Sie müssen sich das ansehen.«

Diane nahm ihren Mut zusammen und trat langsam vor. »Werden Sie mich dann gehen lassen?« Ihre Stimme klang flehentlich, und Tränen standen in ihren Augen. Sie wollte einfach nur irgendetwas von Quarry, das ihr Hoffnung auf Freiheit machte.

»In jedem Fall werde ich Sie nicht mehr lange hier behalten. So viel steht fest.«

»Warum haben Sie mich hierhergebracht? Und Willa?«

»Ich brauchte Sie beide«, antwortete Quarry. »Nichts von dem, was ich tun muss, würde ohne Sie geschehen.« Abermals hielt er die Papiere in die Höhe. »Ich habe das Blut, das ich Ihnen abgenommen habe, an ein Labor geschickt. Dort hat man ein paar Analysen gemacht. DNA-Tests. Natürlich hätte ich eine Streichprobe nehmen können, aber nach dem zu urteilen, was ich gelesen habe, ist Blut besser. Ich wollte Fehler ausschließen.«

»DNA?«

»Ja. Das ist wie ein Fingerabdruck, nur sicherer. Das benutzen sie immer, um Unschuldige aus der Todeszelle zu bekommen.«

»Ich habe kein Verbrechen begangen.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.« Quarry schaute auf die Papiere und las sich die Ergebnisse noch einmal durch. »Aber Sie haben vor zwölf Jahren ein Mädchen geboren und dann zur Adoption freigegeben. Hat es Ihnen gefallen, es heute wiederzusehen?«

Diane wich alles Blut aus dem Gesicht. »Was reden Sie da?«

»Willa ist Ihre Tochter. Sie heißt jetzt Willa Dutton und hat gerade ihren zwölften Geburtstag gefeiert. Der Name ihrer Mutter - ihrer Adoptivmutter, meine ich - lautet Pam Dutton. Sicherheitshalber habe ich auch Mrs. Duttons Blut überprüfen lassen, falls Ihres nicht passt. Es passte aber. Sie sind ohne jeden Zweifel Willas Mutter.«

»Das ist unmöglich«, sagte Diane fassungslos. Beinahe hätte es ihr die Sprache verschlagen.

»Sie sind schwanger geworden, haben das Kind auf die Welt gebracht, und dann haben die Duttons es adoptiert.« Er wedelte mit den Papieren. »Die DNA lügt nicht, Lady.«

»Warum tun Sie das?«, fragte Diane, Panik schlich sich in ihre Stimme.

»Ich hab meine Gründe.« Quarry stand auf. »Würden Sie Ihre Tochter gerne wiedersehen?«

Diane musste sich am Tisch abstützen. »Was?«, keuchte sie.

»Ich weiß, dass Sie beide sich gerade erst kennengelernt haben, aber ich dachte, wo Sie jetzt Bescheid wissen, würden Sie das Mädchen gerne wiedersehen.«

Michelle schaute auf die Papiere. »Ich glaube Ihnen nicht.«

Quarry reichte ihr die Dokumente. »Ich habe sie in eine Sprache übersetzen lassen, die Leute wie ich verstehen. Der erste Test ist Willas, darunter ist Ihrer. Sehen sich Sie das Ergebnis an.«

Diane nahm die Papiere und las langsam. »Neunundneunzigprozentige Übereinstimmung von Mutter und Kind«, sagte sie dumpf.

Dann warf sie die Papiere auf den Tisch und rief: »Wer sind Sie?«

»Das ist eine lange Geschichte, und ich bin nicht bereit, sie mit Ihnen zu teilen. Wollen Sie das Mädchen jetzt sehen oder nicht?«

Diane schüttelte heftig den Kopf.

Quarry schaute mit einer seltsamen Mischung aus Mitgefühl und Ekel auf sie hinunter. »Sie hätten das Kind behalten können, aber irgendwie verstehe ich auch, warum Sie es nicht getan haben. Das heißt aber nicht, dass ich es gutheiße. Kinder sind etwas sehr Kostbares. Man muss sie festhalten. Das habe ich auf verdammt harte Art gelernt.«

Diane richtete sich wieder auf. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen, aber Sie haben kein Recht, mich zu verurteilen.«

»Würde ich dazu neigen, irgendjemanden zu verurteilen, wären Sie vermutlich schon tot.«

Diese Bemerkung ließ Diane auf die Knie sinken. Sie krümmte sich zusammen und schluchzte unkontrolliert.

Quarry beugte sich vor, hob die Untersuchungsberichte auf und betrachtete Diane. »Das ist Ihre letzte Chance, das Mädchen wiederzusehen.«

Eine Minute verging. Dann fragte Diane: »Muss ... Muss sie mich sehen?«

»Sie haben sich doch schon kennengelernt.«

»Aber da wusste ich noch nicht, dass sie meine Tochter ist!«, rief Diane und fügte dann ruhiger hinzu: »Ich wusste ... wusste nicht, dass ich ihre Mutter bin.«

»Okay, das verstehe ich.«

Plötzlich kam Diane ein Gedanke. »Weiß sie, dass ich ihre Mutter bin?«

»Nein. Es gab keinen Grund, es ihr zu sagen. Sie sind ja auch nicht die Person, die sie großgezogen hat.«

»Kennen Sie diese Pam Dutton?«

»Nein. Ich habe sie nie kennengelernt.«

»Wissen Sie, ob sie gut zu Willa war?«

»Wollen Sie mir etwa sagen, Sie haben dieser Frau Ihr Kind gegeben, ohne sich vorher mit ihr getroffen zu haben?«

»Ich hatte keine Wahl.«

»Jeder hat eine Wahl.«

»Kann ich sie sehen, ohne dass sie mich sieht?«

»Das geht. Wenn Sie dazu bereit sind.«

Diane erhob sich mit wackligen Beinen. »Ja, ich würde sie gerne sehen.« Irgendwie klang es wie ein Schuldeingeständnis.

»Okay. Geben Sie mir ein paar Minuten.«

Diane packte Quarry am Arm. »Sie werden ihr doch nicht wehtun?«

Vorsichtig löste Quarry die Finger der Frau von seinem Ärmel. »Ich bin gleich zurück.«

Fünf Minuten später kam er wieder und hielt die Tür für Diane auf. Diane blickte ängstlich drein, als fürchtete sie, nie mehr zurückzukehren, falls sie hindurchging.

Quarry fühlte es. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Sie zu dem Mädchen und wieder hierher zurückbringe.«

»Und dann?«

»Dann werden wir sehen. Mehr kann ich Ihnen nicht versprechen.«