87.

Das Zeitungsgeschäft ist beschissen. Stimmt's, Marty?«, sagte Sean. »Niemand will mehr Zeitungen. Heutzutage gibt es alles online, auch wenn vieles nur erfunden ist.«

Es war Mitternacht. Sean und Michelle standen an einem Pfeiler in einer Tiefgarage in Downtown Washington. Der Mann, der auf sie zukam, blieb stehen und lachte leise, als Sean und Michelle ins Licht hinaustraten.

Sean schüttelte Martin Determann die Hand und stellte ihm Michelle vor.

»Welches Geschäft ist heutzutage nicht beschissen?«, erwiderte Determann, ein kleiner Kerl mit dickem, ergrauendem Haar und lauter Stimme. Scharfe Augen verbargen sich hinter einer schmalen Brille. »Und wenn man dann noch von den Leuten verlangt, sie sollen lesen und ihr Gehirn anstrengen ... du lieber Himmel, nein!«

Sean grinste. »Niemand mag Leute, die jammern, Marty.«

»Nun denn ... Warum die Heimlichtuerei?« Determann schaute sich in der leeren Garage um. »Ich komme mir ja fast schon vor wie bei den ›Unbestechlichen‹.«

»Glaubst du, dein eigener Deep Throat könnte dir helfen, ein, zwei Zeitungen mehr zu verkaufen?«

Determann lachte. »Ich würde einen Pulitzerpreis zwar vorziehen, aber ich bin für alles offen. He, vielleicht kann ich ja als Ghostwriter an deiner Autobiografie mitarbeiten. Solange dein Gesicht auf allen Kanälen zu sehen ist, bekommen wir locker eine siebenstellige Summe dafür.«

»Das mit Deep Throat war kein Scherz.«

Determann wurde ernst. »Das habe ich gehofft. Was hast du?«

»Komm. Es wird ein Weilchen dauern.«

Sean hatte ein Motelzimmer nicht weit von der Altstadt von Alexandria gemietet. Dorthin fuhren sie.

»Wie habt ihr euch kennengelernt?«, fragte Michelle, als sie am Potomac entlang über den George Washington Parkway fuhren.

Determann schlug Sean auf den Rücken. »Dieser Kerl hier hat mir bei meiner Scheidung geholfen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass meine Ex meine Ersparnisse für Koks verbraten, mich mit einem UPS-Fahrer betrogen und sogar den Nerv gehabt hat, meinen Goldfisch zu vergiften. Trotzdem wollte sie noch die Hälfte von meinem Geld. Aber dank Seans Hilfe hat sie nur einen Arschtritt bekommen. Der Richter hat mir sogar ihren Hund zugesprochen - was gut war, denn er mochte mich ohnehin lieber als sie.«

»Marty übertreibt ein wenig. Aber er ist ein verdammt guter Reporter, auch wenn er die Wahrheit bisweilen leicht überdehnt.«

»Und ich warte immer noch auf meinen ersten Pulitzer-Preis.« Determann schaute zu der dicken Akte neben sich auf dem Sitz. »Ist es da drin?«

»Das wirst du schnell genug herausfinden.«

Sie betraten den Raum. Sean schloss die Tür ab, zog seinen Mantel aus und sagte: »Dann wollen wir mal.«

Methodisch gingen sie die Fotos durch, die Michelle in Atlee gemacht hatte, und sie berichteten Determann alles, was sie herausgefunden und erlebt hatten - von den Army-Akten bis hin zu den Deserteuren, über Quarrys Geschichte an den Kellerwänden bis hin zu den Ereignissen in der Mine.

Als sie zu dem Teil kamen, wo die First Lady das Haus anzündete und Ruth Ann dadurch umbrachte, sagte Determann: »Ihr wollt mich auf den Arm nehmen!«

»Ich wünschte, es wäre so.«

Sean zeigte ihm die Akten, die er aus Atlee mitgenommen hatte und die zumindest einen Teil der Motive von Quarrys Jagd nach Gerechtigkeit offenbarten.

Determann machte sich Notizen und stellte eine ganze Reihe Fragen. Irgendwann holten sie Kaffee, um durchzuhalten, und als schließlich die Sonne aufging, gingen sie zum Frühstück in ein Restaurant in der Altstadt. Während des Essens machten sie weiter. Der Potomac strömte träge an ihnen vorbei, und über ihnen zog ein Flugzeug Kondensstreifen über den Himmel.

Zurück im Motelzimmer verpestete Determann, der Kettenraucher, wieder die Luft, und sie diskutierten weiter darüber, was sie erfahren hatten und was sie vermuteten. Als sie fertig waren, war Mittag vorbei.

Determann lehnte sich zurück und streckte sich. »Das ist der erstaunlichste Mist, den ich je gehört habe.«

»Ja, klar doch«, sagte Sean in spöttischem Tonfall.

»Nein, wirklich. Dagegen war Watergate ein Ladendiebstahl.«

»Dann glaubst du uns also?«, fragte Michelle.

»Euch glauben? Wer könnte sich so etwas ausdenken?« Determann deutete auf die Fotos und Papiere auf dem Tisch. »Und es ist ja nicht so, als gäbe es keine Beweise.«

Er zündete sich noch eine Zigarette an. »Aber eins verstehe ich nicht: Warum hat er Willa entführt? Ich meine, sie ist die Nichte, aber wie konnten sie sicher sein, dass der Präsident diesen Köder schluckt? Es war ja nicht sein Kind. Niemand hätte ihm einen Vorwurf machen können, wenn er sich rausgehalten hätte.«

Sean holte eine weitere Akte aus Quarrys Beständen hervor. Diesen Teil der Geschichte hatten sie absichtlich zurückgehalten, bis der Reporter die Frage stellte.

»Das hier sind die Ergebnisse eines DNA-Tests, den Quarry hat vornehmen lassen. Das hier ist von Pam und Willa Dutton, und das hier von Diane Wright. Quarry hat die Namen darunter geschrieben.«

»Diana Wright alias Diane Wohl«, sagte Determann. Er hatte gut aufgepasst und die Story bereits ziemlich gut im Griff.

»Genau.«

»Aber warum hat er einen DNA-Test machen lassen?«

»Die Ergebnisse beweisen, dass Diane Willas Mutter war, nicht Pam.«

Determann schaute sich die Papiere an. »Auch wenn du mich jetzt für dumm hältst, Sean, aber ich kann dir nicht ganz folgen.«

Sean erzählte, was vor dreizehn Jahren in jener kleinen Gasse in Georgia geschehen war. Bis jetzt hatte er nur Michelle davon erzählt. Aus Loyalität zu Jane Cox hatte er bisher Schweigen gewahrt. Allerdings hatte auch Loyalität ihre Grenzen, und bei der First Lady hatte Sean diese Grenze erreicht. Er hatte Sam Quarry in der Mine versprochen, ihm zu helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, wenn er Willa freiließ. Der Mann hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt, und auch wenn Sean zunächst beschlossen hatte, den Mund zu halten, so hatte sich das rasch geändert, nachdem er herausgefunden hatte, was die First Lady in Atlee getan hatte.

Determann lehnte sich zurück und nahm die Brille ab. »Senator Cox hat also Diane Wright gevögelt, und neun Monate später, plopp, ist Willa da? Sie ist sein Kind? Himmel! Und was er vorher Tippi Quarry angetan hat ... was für ein Schwein!«

»Das ist eine Beleidigung für alle Schweine«, bemerkte Michelle.

Sean griff zu einem Foto, das einen säuerlich dreinblickenden Mann Ende vierzig zeigte. »Und Quarry hat herausgefunden, dass Jane Cox den Metzger kannte, der die Abtreibung bei Tippi vorgenommen und dabei eine Arterie durchtrennt hat. Die Polizei hat sie im Keller eines verlassenen Gebäudes gefunden. Vermutlich hat der Kerl sie da einfach weggeworfen, nachdem ihm klar geworden ist, was er getan hat. Der Kurpfuscher hatte seine Approbation wegen Drogen- und Alkoholproblemen verloren, aber für alte Freunde war er noch im Geschäft.«

»Und sie wollten nicht in ein Krankenhaus, weil dann vielleicht herausgekommen wäre, was passiert war.«

»Genau.«

Determann beugte sich vor und studierte die Papiere noch einmal. »Aber niemand hat die DNA des Präsidenten überprüfen lassen, oder?«

»Würde es jemand tun, würde es passen.«

»Nun ja, die DNA des Mannes ist sowieso in den Akten aufgeführt. Vielleicht machen sie nach dieser Story ja noch einen Test.« Determann begann, sich Notizen zu machen, hörte aber auf, als Sean ihm die Hand auf den Arm legte. Fragend hob der Reporter den Blick.

»Marty, darf ich dich um einen Gefallen bitten?«

»Nachdem du mir die Story des Jahrhunderts geliefert hast? Ja, ich glaube, da könnte ich mir einen Gefallen leisten.«

»Ich möchte nicht, dass du diesen Teil der Story schreibst. Über Willa.«

»Wie bitte?«

Michelle mischte sich ein. »Willa hat ihre Mutter verloren, und die Frau, die sie zur Welt gebracht hat, ist ebenfalls tot. Wahrscheinlich wäre das zu viel für sie. Es wäre nicht fair, sie das durchmachen zu lassen.«

»Du hast ja auch so schon Stoff genug«, fügte Sean hinzu. »Einschließlich ziemlich schlüssiger Indizien, dass die First Lady ein Haus abgefackelt und eine unschuldige Frau umgebracht hat, um die Verbrechen ihres Mannes zu vertuschen. Aber du bist der Reporter. Es ist deine Entscheidung. Wir werden dich nicht dazu zwingen.«

Determann schaute verlegen drein. »Glaubt ihr, Jane Cox hat Ruth Ann töten wollen, als sie das Haus angezündet hat?«

»Ich hoffe nicht«, antwortete Sean. »Die Frage kann nur sie dir beantworten. Aber ich weiß, dass Willa schon genug durchgemacht hat.«

Determann nickte und hielt Sean die Hand hin. »Abgemacht.«

»Danke, Marty.«

Determann sagte: »Das ist eine tolle Story, Sean, und ich verstehe, warum ihr beide wollt, dass die Wahrheit ans Licht kommt ...«

»Aber?«, hakte Sean misstrauisch nach.

»Aber es wird das Land in seinen Grundfesten erschüttern, Mann.«

»Manchmal muss das sein, Marty. Manchmal muss das eben sein.«