Da gehen sie nun also, die beiden. Gehen den Weg zum Walde! Es ist ein richtiger Landweg, der von Städtern nichts weiß (und nichts lieben die Städter mehr, als was von ihnen nichts wissen will) – er führt in den Wald, der Weg, und in dem Wald weit drinnen liegen die Krebsteiche, tiefe, kühle, klare Teiche – oh, herrlich!
»Haben Sie eben den Rittmeister mit Familie auf der Veranda gesehen?« fragt Pagel. »Wie finden Sie eigentlich das gnädige Fräulein?«
»Und Sie –?« fragt Studmann lächelnd dagegen.
»Sehr jung«, erklärt Pagel. »Ich weiß nicht, Studmann, ich muß mich doch gewaltig verändert haben. Hier das Fräulein von Prackwitz, und dann die Sophie, die mit uns herfuhr, und die Amanda Backs – was hätte mir das noch vor einem Jahr für Appetit und Laune gemacht! Aber jetzt –? Ich glaube, ich werde schon alt …«
»Sie haben bei Ihrer Aufzählung die schwarze Minna, die das Büro säubert, vergessen«, sagt Studmann ernsthaft.
»Ach, Studmann!« antwortet Pagel halb ärgerlich, halb lachend. »Nein, im Ernst: ich habe da so einen Maßstab in mir, und wenn ich den anwende, kommen mir alle Mädchen zu jung, zu dumm, zu gewöhnlich – ich weiß nicht, aber immer irgend etwas ›zu‹ vor.«
»Pagel!« sagt Studmann und bleibt stehen. Er hebt den Arm und zeigt feierlich über die Gehöfte von Neulohe fort. »Pagel! Dort ist der Westen! Dort liegt Berlin! Und dort bleibt es liegen. Ich erkläre Ihnen hiermit, ich will nichts von Berlin sehen oder hören! Ich lebe in Neulohe! Keine Berliner Erinnerungen, keine Geschichten aus Berlin, nichts von den Vorzügen Berliner Mädchen!« Ernster: »Wirklich, Pagel, erzählen Sie nichts. Es ist ja alles noch viel zu früh. Sie würden’s später nur bedauern, Sie hätten sich irgendwie mir gegenüber festgelegt. Natürlich haben Sie einen Maßstab, seien Sie froh, daß Sie ihn haben, Sie haben ihn ja sogar heiraten wollen; aber denken Sie jetzt nicht mehr daran! Versuchen Sie, Berlin und alles in Berlin zu vergessen! Leben Sie sich ein in Neulohe! Seien Sie nur Landwirt! Wenn Ihnen das geglückt ist und wenn dann Ihr Maßstab noch etwas gilt, dann können wir darüber reden. Vorher ist alles doch nur fauler, gefühlsduseliger Zauber!«
Er sah Pagels verkniffenes Gesicht: die Nase darin war gewissermaßen spitz geworden, die Lippen eingekniffen. Es sah mürrisch-trotzig aus. Er war ja nicht dumm, der junge Wolfgang, er verstand wohl, was Studmann meinte, aber es war ihm nicht recht. Er gab sogar zu, daß Studmann recht hatte, aber es war ihm doch nicht recht. Er war jung, aus der Betreuung der Mutter war er in die Betreuung der Geliebten übergegangen, jeder Kummer, jede Kleinigkeit, die ihn bedrückte, war teilnahmsvoll angehört, war bedauert worden. Plötzlich sollte es damit zu Ende sein.
»Na ja, Studmann«, sagte er schließlich, etwas mürrisch. »Wie Sie wollen, ich habe eigentlich auch gar nichts zu erzählen …«
»Ausgezeichnet«, sagte Studmann, »entschuldigen Sie, Pagel.« Er hielt es für ratsam, die Sache abzubrechen, er hatte genug von dem jungen Gesicht abgelesen. Mit erhobener Stimme sagte er: »Und nun, verehrter Mitlandwirt, verraten Sie mir, was dies für Getreide ist!«
»Das ist Roggen«, sagte Pagel und ließ eine Ähre sachverständig durch die Finger gleiten. »Das Zeug kenne ich, das habe ich gestern mit aufgestakt.«
Und er warf einen heimlichen, raschen Blick in seine entzündete, blasige Hand.
»Ganz meine Ansicht«, sagte Studmann. »Aber wenn es Roggen ist, erhebt sich die Frage, ist es ›unser‹ Roggen, will sagen, ist es Gutsroggen?«
»Nach dem Schlagplan hat hier raus überhaupt kein Bauer Feld«, sagte Pagel zögernd. »Es müßte unserer sein.«
»Wieder meiner Ansicht. Aber wenn es unserer ist, warum ist er noch nicht gemäht? Wo wir doch schon Hafer mähen? Ist er vielleicht vergessen?«
»Unmöglich! So nahe beim Hof! Wir ziehen doch jeden Tag hier mit den Gespannen vorbei. Da hätte ich doch einmal ein Wort von den Leuten gehört.«
»Lehren Sie mich die Leute kennen! Auf dem Lande werden Sie auch nicht anders sein als im Hotel! Die grienen in ihre Bärte, wenn der Chef was verschwitzt! Was ich da erlebt habe im Hotel –!«
»Studmann! Herr Studmann! Dort ist Westen, dort liegt Berlin – soll es liegenbleiben, wir heben es nicht auf! Wir leben in Neulohe – ich will keine Berliner Geschichten hören!«
»Ausgezeichnet! Sie nehmen also meinen Vorschlag an? Abgemacht! Nichts mehr von Berlin!« – Und mit neuem Eifer: »Sollte er noch nicht reif sein?«
»Der ist reif!« rief Pagel, stolz auf seine junge Wissenschaft. »Sehen Sie, das Korn soll grade über dem Nagel brechen – und dies ist ja schon knochenhart und trocken …«
»Rätselhaft. Wir müssen den Rittmeister fragen. Helfen Sie denken. – Passen Sie auf, wie ich ihm heute abend mit unserer Aufmerksamkeit imponieren werde! Er soll merken, daß er jetzt Beamte mit Augen im Kopf und mit Grips im Schädel hat. Den Inbegriff aller Beamten, Beamte erster Klasse! Weinen vor Freude soll er über uns!«
»Sie sind ja direkt übermütig, Studmann«, sagte Pagel, »völlig aus dem Häuschen! So kenne ich Sie ja gar nicht.«
»Pagel!« rief Studmann. »Wissen Sie es nicht? Der Friede der Felder, der Atem der Natur, gewachsener Boden unter den Füßen – Sie wissen es nicht, was es heißt, täglich dreißig Kilometer mit brennenden Sohlen die stupiden Gänge eines Hotels entlangzupreschen …«
»Berlin! Verruchtes, vergessenes Berlin!«
»Ich ahne ja schon, auch dieser Friede ist nur Schwindel. In den so malerisch ins Grüne geduckten Häusern des lieblichen Dörfleins dort werden Klatschsucht, Neid, Angeberei zu Hause sein wie in jeder großstädtischen Mietskaserne! Statt der bimmelnden Elektrischen wird ein Pumpenschwengel ewig quietschen; für die keifende Alte im Stockwerk darüber jault hier ein Hofhund tagaus, nachtein! Die Weihe dort bedeutet den Tod einer Maus. – Aber, Mitmensch Pagel, lassen Sie mir mein Glück, entblättern Sie nicht die junge Blüte meines Glaubens! Friede der Felder, Eintracht der Hütten, Ruhe der Natur …«
»Kommen Sie baden, Studmann, baden kühlt – die Krebsteiche sollen sehr kalt sein …«
»Ja, gehen wir baden«, stimmte Studmann begeistert zu. »Versenken wir diesen heißen Leib in die kühlen Fluten – waschen wir von der zergrübelten Stirn den ätzenden Schweiß des Zweifels – ach, Pagel, Mensch, ich muß es Ihnen gestehen: ich fühle mich sauwohl …«