Es war gar nicht so schwierig gewesen für Wolfgang Pagel, den alten Förster Kniebusch wieder aus dem Bett zu bekommen, nachdem er ihn krank hineingelegt hatte – nicht halb so schwierig, wie es sich der Arzt gedacht hatte. Ein Mann, der sein ganzes Leben in der frischen Luft verbracht hatte, wurde so öde im Kopf, wenn er immer in der Luft des geschlossenen Zimmers lag. »Ich habe ja Angst, die Wände fallen mir über den Kopf!« klagte der Förster zu Pagel. »Es ist alles so eng – und sie will nicht, daß ein Fenster aufgemacht wird.«
Vielleicht war es nicht die Enge, war es nicht die Atemnot, waren es nicht die Bienen, die für den Winter versorgt werden mußten, war es nicht der Jagdhund, der alle Tage sein Futter haben wollte, was den Förster rasch wieder aus dem Bett trieb.
Vielleicht war es am stärksten »sie«, seine Frau, die ihm die Stube verleidete. Da hatten sie nun ein ganzes Leben Seite an Seite verbracht – ach, sie waren sich ja so zuwider geworden, sie konnten sich nicht mehr sehen! Nein, sie sahen sich wirklich nicht mehr, Tag für Tag gingen sie aneinander vorüber, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Jetzt ging er in die Küche, er kochte sich seinen Kaffee und schmierte sich sein Brot, und dann, wenn er aus der Küche hinaus war, kam sie angeschnauft und kochte sich ihren Kaffee und schmierte sich ihr Brot.
Es war der äußerste, unüberwindliche Überdruß. Sie waren längst über Ekel, Haß und Abneigung hinaus, sie waren füreinander überhaupt nicht mehr da! Schon lange nicht mehr! Ehe er noch den Mund aufgemacht hatte, wußte sie schon, was er sagen würde, und er wußte alles, alles von ihr, wie ihr Erbsen bekamen und daß sie bei Südwind auf dem linken Ohr nicht hörte und daß Neunaugen mit einem Lorbeerblatt viel besser schmecken als Neunaugen ohne ein Lorbeerblatt.
»Ziehen Sie doch in ein anderes Zimmer«, schlug Pagel vor. »Es sind doch leere Zimmer genug im Haus.«
»Aber mein Bett hat doch immer hier im Zimmer gestanden! Ich kann es doch auf meine alten Tage nicht mehr umstellen. Ich würde nie einschlafen!«
»Dann gehen Sie eben ein bißchen spazieren«, antwortete Pagel. »Frische Luft und ein wenig Bewegung können Ihnen nur guttun, meint der Arzt.«
»Ja, meint er das wirklich?« fragte der Förster ängstlich. »Dann will ich es auch tun.«
Er war sehr bereit, alles zu tun, was der Arzt anordnete. Der Arzt hatte ihm viel Gutes verschafft: Arbeitsruhe, Krankengeld, ein schönes Mittel, das zu sorglosem Schlaf verhalf. Und er hatte noch viel Besseres versprochen: das Ende der Inflation, Pensionierung, einen ruhigen Lebensabend.
Also ging der Förster spazieren. Aber gleich wurde es auch mit dem Spazierengehen wieder schwierig. In den Wald, der direkt an das Haus stieß, ging der Förster Kniebusch um keinen Preis mehr. Er hatte genug Wald in seinem Leben gesehen, viel zuviel. Er sah wirklich den Wald vor Bäumen nicht. Er sah nur noch Bäume mit soundso viel Festmetern Holz, Eisenbahnschwellen, Felgenholz, Deichseln für den Stellmacher, Zaunpfähle … Und wenn er im Wald spazierenging, sah es ja so aus, als sei er gar nicht krank, als mache er Dienst. Es wäre genauso gewesen, wie wenn ein kranker Angestellter zur Erholung auf sein Büro gegangen wäre.
Nach der andern Seite zu aber, nach dem Dorf hin, ging der Förster auch nicht. Die Leute hatten ihm sein ganzes Leben lang nachgesagt, er sei bloß ein Tagedieb, der nichts tue als spazierengehen, das sah ja aus, als hätten die Leute am Ende wirklich recht!
So blieb ihm nur ein Weg, nämlich der Weg, der von der Försterei, am Kartoffelmietenplatz vorbei, ziemlich grade auf den Gutshof Neulohe zuführte, auf den Gutshof und auf das Beamtenhaus. Diesen einzigen Weg ging also der Förster, er ging ihn mit großer Regelmäßigkeit, mehrmals am Tage, und mit größter Regelmäßigkeit traf der Förster am Ende des Weges mehrmals am Tage auf dem Gutsbüro ein.
Dem Förster war es geschehen, daß er in hohem Alter noch einen wirklichen Freund gefunden hatte – und diesen guten Glauben wollte Pagel nicht enttäuschen. Er seufzte manchmal, wenn er den Förster wieder ankommen sah, wenn der alte Mann sich schnaufend auf einen Stuhl setzte und nun eine halbe Stunde lang kein Auge von dem jungen Beamten ließ. Er störte ja nicht grade, er sagte kein Wort, wenn Pagel beschäftigt war, er ließ sich höchstens einmal zu einem begeisterten Ausruf hinreißen. Etwa, wenn Pagel auf der Schreibmaschine schrieb –: Nein, wie ihm das von der Hand geht! Wie Maschinengewehrfeuer! Großartig!
Nein, er störte nicht grade, aber es war ein bißchen lästig, den Blick dieser kugeligen, verblaßten Seehundsaugen unverwandt auf sich gerichtet zu fühlen, einen Blick bedingungsloser Ergebenheit, begeisterter Freundschaft. Es war vielleicht grade darum lästig, weil Pagel dieses Gefühl so gar nicht erwiderte. Nein, er liebte den Förster, diesen alten Angsthasen, nicht besonders – und was hatte er am Ende getan, solche Freundschaft zu verdienen? So gut wie nichts: ein Telefonat mit dem Arzt, ein bißchen Deputat, zwei, drei kurze Krankenbesuche …
Wenn’s gar zu schlimm wurde, unterbrach Pagel seine Arbeit: »Kommen Sie, Herr Kniebusch, ich muß doch sehen, ob in meinen Kartoffelmieten wieder Mauselöcher sind, ich bringe Sie das Stückchen.«
Immer stand der Förster sofort willig auf und ging mit. Er kam nicht auf die Idee, daß der Freund ihn fortschickte, loswerden wollte. – Aber als es drei-, viermal so gegangen war, kam dem alten Kniebusch der Gedanke, daß er seinem Freunde wenigstens eine Arbeit abnehmen könnte. Wenn er jetzt seinen Morgenspaziergang zum Gutsbüro machte, ging er Miete auf Miete ab. Er meldete: »Miete sechs, sieben, elf je ein Loch. Am Nordende, Mitte, Südende …«
Er nahm es sehr genau.
»Ja, Sie seufzen, Herr Pagel«, sagte Amanda erbost. »Aber Sie könnten es ihm ruhig sagen, daß Ihnen die ständige Rumsitzerei und Stiererei auf dem Büro nicht paßt! Der Kniebusch, der ist doch auch grade kein Sanfter gewesen, und wen er reinlegen konnte, den hat er reingelegt. Und wenn Sie es ihm nicht sagen mögen, so sage ich es ihm!«
»Das werden Sie bleibenlassen, Amanda!« hatte Pagel geantwortet, und er hatte es mit solchem Nachdruck gesagt, daß Amanda es wirklich bleibenließ.
Es regnete bei völliger Windstille sehr fein vom Himmel herunter, als der Förster an diesem Tage aus seinem Haus trat. Es war nicht hell und nicht dunkel, es war nicht einmal Dämmerung, es war einer dieser öden, trostlosen Herbsttage, die nur fahl sind, die sich wie ein Alp auf das Herz der jungen Menschen legen. Den alten Förster aber freute das Wetter, nun war er sicher, seinen jungen Freund auf dem Büro zu treffen. Bei diesem schlechten Wetter würde er nicht unterwegs sein, sondern lieber im Trocknen schriftliche Arbeiten erledigen. Der Förster stülpte sich einen alten Filz auf den Schädel, hing sich sein Regencape um und machte sich auf den Weg.
Er ging, die Hände schön trocken und warm unter dem Cape über den Bauch gefaltet, in einem langsamen und behaglichen Schlürfeschritt dem Hof zu. Wenn er es genau bedachte, war es ihm noch nie in seinem Leben so gut ergangen, und so gut, wie es ihm erging, fühlte er sich auch. Nicht einmal vor der Rückkunft des Geheimrats mußte er sich fürchten. Auf Pagels Veranlassung hatte der Arzt an Herrn von Teschow geschrieben, und der alte Herr hatte seinem alten Förster nicht etwa ärgerlich, sondern recht freundlich geantwortet: Er solle doch sehen, wieder ein bißchen auf die Beine zu kommen, damit er seinem Nachfolger die Schliche des Wildes, die Kniffe des Reviers und die Pfiffigkeiten der Bevölkerung noch beibringen könnte. Um den Dienst aber sollte er sich nun wirklich keine Gedanken mehr machen –!
Der Alte hatte eine Ahnung! Der Förster machte sich überhaupt keine Gedanken, heißt Sorgen, mehr. Um die Forst schon gar nicht; aber tat es ihm etwa leid, ärgerte er sich auch nur ein bißchen, wenn er Löcher in den Kartoffelmieten fand? Die machten doch seinem besten und einzigen Freunde Pagel Kummer und Sorge! Das wußte er; aber den Förster Kniebusch freuten die Löcher, denn wenn Löcher da waren, hatte er etwas zu melden und war seinem Freunde von Nutzen! –
So ging er denn ganz zufrieden eine Seite der Kartoffelmieten hinauf und die andere hinunter. Aber es war leider, wie er sich beinahe hätte denken können: Bei diesem Sauwetter hatten die Leute nicht einmal zum Klauen Lust. Kleidung war knapp, noch aus dem Kriege her, und die eine graue Uniform, die von den Männern aus dem Felde mitgebracht war, machten sie sich auch nicht gerne naß.
So sah es denn aus, als ob es heute nichts zu melden geben würde, und das war verdrießlich. Bis der alte Kniebusch zu der allerletzten Miete kam, und auf deren anderer Seite, auf der nach dem Walde zu, fand er denn auch wirklich das ersehnte Mauseloch; und ein ganz stattliches dazu, sechs oder acht Zentner Kartoffeln waren da mindestens rausgeholt worden!
Der Förster hätte nun vergnügt dem jungen Pagel seine Meldung machen können, aber er sah statt dessen nachdenklich einen kleinen Tretweg an, der von dem Mietenloch direkt in die Fichtenschonung führte. Das nasse Wetter hatte den Boden aufgeweicht, er erzählte klar und deutlich, daß die Kartoffeln nicht auf einem Handwägelchen direkt vom Mietenplatz auf die feste Straße und dann ins Dorf geschafft worden waren. Die noch ganz frischen Spuren sagten, daß die Kartoffeln erst einmal in die Schonung gebracht waren und dort wohl noch lagen.
Den Förster plagte die Neugierde der alten Männer, die quälend wie ein juckendes Ekzem ist; den Förster trieb der Spürsinn des Jägers – man spürt nicht ein Leben lang dem Wilde nach, um auf seine alten Tage dann achtlos über eine Fährte fortzulaufen. Den Förster juckte auch der Gedanke, seinem Freunde Pagel etwas ganz Besonderes melden zu können.
Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß das Nachsuchen dieser Spur gefährlich werden könnte. Kartoffeldiebe waren harmlose Leute. Kartoffeldiebstahl war bloß Mundraub und wurde mit einer papierenen Geldstrafe belegt. Kein erwischter Kartoffeldieb regte sich noch um eine Anzeige auf. Wenn etwas den Förster zögern ließ, so war es sein fester Entschluß, sich nicht mehr um andere Dinge zu kümmern. Aber da war der Wunsch, Pagel einen Gefallen zu tun, und sachte, im Pirscheschritt, nahm der Förster den Wechsel auf.
Er brauchte auch keine Angst zu haben, daß er nur mit Ach und Weh, nur mit Brechen und Krachen in die Schonung kam. Die Leute hatten hier mit den Jahren sauber aufgeräumt, sie hatten sich so viel Stangen, Reisig, Waldstreu besorgt, daß man in dem Bestand gehen konnte wie im lichten Hochwald.
So kam der Förster überraschend schnell an die Stelle, wo vor seinen Augen ein kleiner Hügel Kartoffeln lag. Rote Professor Wohltmann, stellte der Förster befriedigt die Sorte fest. Will er wohl seine Schweine mit fett machen!
Der Förster fühlte was, er fühlte, daß er nicht allein war, er fühlte einen Blick. Er hob also seine Augen auf und sah einen Mann unter den Fichten sitzen, der hatte seine Hosen abgeknöpft, hockte da, sah den Förster ruhig an und verrichtete sein Geschäft.
»Nanu! Was machen Sie denn hier?« rief der Förster verwundert aus.
»Ich scheiße!« antwortete der Mann freundlich grinsend.
»Das merke ich«, sprach der Förster vergnügt. Oh, was würde er Pagel alles erzählen können! »Haben Sie denn die Kartoffeln gemaust?«
»Natürlich«, erklärte der Mann und ließ sich alle Zeit.
»Aber wer sind Sie denn? Ich kenne Sie doch gar nicht!« rief der Förster erstaunt. Er glaubte, von den Holzauktionen her alle Menschen zwanzig Kilometer in der Runde zu kennen, aber diesen Mann hatte er bestimmt noch nicht gesehen.
»Sehen Sie mich nur gut an«, sagte der Mann, stand auf und knöpfte gemütsruhig seine Hosen fest. »Sie werden mich schon wiedererkennen.«
Es ging alles so gemütlich, so in bester Laune vor sich – und Kartoffeldiebstahl war ja auch wirklich kein tragisches Verbrechen –, daß der Förster sich seinen Mann wirklich in aller Ruhe betrachtete. Der Förster stand noch wie vorher, die Hände unter dem Cape, über den Bauch gefaltet, und sah den Mann gemütlich näher schlendern. Kein Gefühl der Besorgnis kam in ihm auf. Dagegen ein immer helleres Verwundern. Diesen modernen Anzug mit Knickerbockers aus einem grau in grau gemusterten Stoff kannte er doch genau!
»Aber Sie haben ja einen Anzug vom Rittmeister an!« rief Kniebusch verblüfft.
»Sie merken auch alles, Herr Förster!« sagte der Mann grinsend. »Nicht wahr, er steht mir gut?«
Der Mann stand jetzt direkt vor dem Förster und lachte ihn an. Aber irgend etwas in diesem Lachen, im Ton der Worte, in der Nähe des Mannes mißfiel dem Förster.
»Nun sagen Sie mir aber Ihren Namen«, befahl er strenger. »Ich kenne Sie bestimmt nicht.«
»Dann sollen Sie mich kennenlernen!« rief der andere.
Blitzschnell veränderte sich sein Gesicht vom Grinsen in Haß, blitzschnell hatte er den Förster umgefaßt – und unter seinem Cape konnte der Förster die Arme nicht rühren!
»Was soll denn das –?« rief der Förster hilflos, nahm es noch nicht recht ernst und wehrte sich nur schwächlich.
»Jetzt kommt der Gruß von Ihrem Freunde Bäumer!« rief der Mann direkt in das Gesicht des Försters.
Im gleichen Augenblick hörte der Förster etwas schrecklich krachen. Es krachte direkt in seinem Schädel, es wurde blendend weiß darin …
Es müssen zweie gewesen sein, einer hat mich von hinten über den Kopf gehauen! dachte der Förster noch …
Dann wurde alles rot, nun langsam schwarz – er fühlte sich fallen – und weg war er!
Langsam kommt der Förster wieder zu sich. Langsam kehrt die Erinnerung in sein Hirn zurück. An das letzte, was er vorher gedacht hatte, knüpft sie an.
Zweie sind es gewesen, denkt der Förster. Den einen kenne ich nicht, aber der mich von hinten über den Schädel gehauen hat, das muß Bäumer gewesen sein …
Dann: Es ist gar nicht so schlimm, totgeschlagen zu werden. Davor habe ich mich auch mein ganzes Leben lang geängstigt, und nun ist es gar nicht so schlimm …
Nicht einen Augenblick lang glaubt der Förster, er könnte mit dem Leben davonkommen. Er hat es ja krachen hören, der muß ihm ja den Schädel eingeschlagen haben, der Lump, der Bäumer. Hat der ihn also doch noch erwischt! Es tut nicht sehr weh, es ist mehr wie ein Druck … Und dann ist das da, was stört, das Warme, das über seinen Schädel läuft. Das ist das Blut, das aus ihm rinnt. Er merkt es, er wird so leicht davon, es ist gar nicht unangenehm …
Sind die Kerle eigentlich weg? denkt der Förster erst jetzt.
Er lauscht, er hört nichts. Es ist ganz still, kein Schritt, kein Huschen; kein Ästchen knackt.
Mühsam bewegt er den Kopf hin und her, er kann die Augen nicht recht drehen, er muß den ganzen Kopf bewegen. Aber er sieht niemand, sie sind weg. Haben gedacht, ich bin hinüber, denkt der Förster. Aber so schnell ist es nun doch nicht gegangen!
Er liegt eigentlich ganz gut so, der alte Förster Kniebusch, er hat schon schlechter gelegen in seinem Leben. Ihm ist ein bißchen schwer, und ihm ist ein bißchen leicht, die Glieder werden schwer, aber der Kopf und irgend etwas in seiner Brust werden immer leichter.
Er denkt einen Augenblick nach, ob er etwas tun soll, was er tun soll … Aber warum soll er eigentlich etwas tun –?
Die Kälte wird zwar immer stärker, die von den Enden der Glieder aufsteigende eisige Kälte, aber das läßt sich schon aushalten, und schließlich werden ja im Laufe des Vormittags Leute zu den Mieten kommen, er liegt nahebei, er braucht nur zu rufen. Dann finden sie ihn, tragen ihn heim, legen ihn in sein Bett – er hat immer gewünscht, in seinem Bett zu sterben.
Der alte Förster, dem die letzte Lebenskraft langsam aus seiner schrecklichen Schädelwunde sickert, schiebt einen Arm unter den Kopf, fast behaglich liegt er da. Es ist alles nicht so schlimm, denkt er noch einmal. Wenn man wüßte, wie wenig schlimm selbst das Schlimmste ist, man brauchte im Leben überhaupt keine Angst zu haben!
Er versucht auszurechnen, wann die Leute etwa zu den Mieten kommen werden; die Kartoffeln für den Schweinemeister müssen geholt werden. Es kann höchstens noch zwei Stunden dauern, so lange wird er ja noch das Leben haben, damit er im eigenen Bette sterben kann …
Aber der Pagel! fällt dem Förster plötzlich ein. Mein Freund Pagel wird auf mich warten! Alle Morgen bin ich zeitig bei ihm gewesen und habe ihm die Löcher in den Mieten gemeldet – und heute komme ich nicht! Pagel wird mich vermissen!
Er schließt die Augen, es ist für den verbrauchten, mühseligen Mann ein süßes Gefühl, daß ihn doch einer vermissen wird. Er hört ihn die Backs fragen; er schließt die Augen, er hört den Klang der immer freundlichen jungen Stimme: Wo bleibt denn heute bloß unser alter Kniebusch? Er hat doch noch nicht seine Meldung gemacht, Amanda!
Er lächelt.
Aber dann richtet er sich gleich auf. Ein quälendes Gefühl fängt an, sich in ihm zu regen: Er hat ja noch nicht seine Meldung gemacht! Heute hat er wirklich etwas zu melden, und heute bleibt er aus!
Sie werden mich ja doch bald finden! will er sich trösten.
Aber der Trost verfängt nicht. Ich werde ja immer schwächer, denkt er. Ich werde ja immer kälter. Vielleicht kann ich nachher nicht mehr rufen, ich kann nicht mehr reden – zu spät werden sie mich finden!
Er versucht den Kopf wegzurücken. Er möchte aus der Menge des ausgeronnenen Blutes die Menge des ihm noch verbliebenen Lebens abschätzen, aber er kann es nicht, es ist zu mühsam.
Ein schrecklicher Kampf fängt in ihm an: der Sterbende möchte nur ruhig liegen, sich sanft fortrinnen fühlen, seine Ruhe haben … Und der Mann und der Freund sagen, daß er auf muß und seine Meldung machen. Der Bäumer ist wieder da und ein anderer, ein Unbekannter – zwei gefährliche Leute, zwei reißende Wölfe!
Ich kann ja nicht hin! jammert er. Ich kann ja nicht gehen!
Wenn du nicht gehen kannst, wirst du kriechen, spricht die erbarmungslose Stimme.
Ich habe nie in meinem Leben Ruhe gehabt, laß mich doch wenigstens in Ruhe sterben! bettelt er.
Im Grabe wirst du Ruhe haben, jetzt mach deine Meldung! spricht es ohne Gnade.
Und der alte Mann, der verbrauchte Mann, der Feigling, der Schwätzer – er wälzt sich auf den Bauch, er macht den Rücken krumm, er zieht die eisigen Glieder an sich. Der Wille, der erbarmungslose Wille der Pflicht ist es, der ihn gegen sein ganzes Naturell immer hochgehalten hat. Er jagt ihn noch einmal zu einer letzten, äußersten Anstrengung auf: Der alte Förster Kniebusch kriecht auf allen vieren über den Waldboden, und als er über einen Sack wegkriecht, faßt er den und schleppt ihn auch noch mit, in dem dunklen Gefühl, ein Beweisstück gegriffen zu haben.
Er kriecht, wie eine grüne, grausige Schnecke mit einem purpurroten Kopf kriecht er über den Waldboden. Er kriecht hinauf auf den Mietenplatz, jetzt hebt er den Kopf voller Hoffnung. Aber niemand ist zu sehen.
Er jammert: O mein Gott, mein Gott! Hilft mir denn keiner?
Aber er kriecht weiter. Er kriecht hinunter von dem Mietenplatz auf den Weg, und als er am Park entlangkriecht und unten im Zaun ein sonst nie bemerktes Loch sieht – das er eben nur sehen kann, weil er kriecht –, da schiebt er sich durch das Loch, um seinen Weg abzukürzen …
Er tut alles richtig, exakt, als arbeite sein Hirn noch. Aber sein Hirn dämmert nur noch, alles, was Körper und Geist hergeben können, wird von dem ungeheuren Willen verbraucht, der ihn zum ständigen Weiterkriechen zwingt. Er denkt nicht mehr an Pagel, nicht mehr an Bäumer, nicht an Eiseskälte noch Wunden. Er denkt nicht mehr an den Sack, den er doch unter Qualen immer weiter mitzerrt – er denkt nur, daß er kriechen muß. Kriechen, kriechen, kriechen … bis er umfällt. Und er fällt in dem Augenblick um, als ihn Pagel anruft: »Mein Gott, Kniebusch, lieber Kniebusch – was haben sie denn mit Ihnen gemacht?!«
In diesem Augenblick, bei dieser bekannten Freundesstimme setzt der Wille aus, der Körper fällt hin, das Kriechen hört auf …
Gemeinsam schleppen Amanda und Pagel den Förster in Wolfgangs Zimmer. Sie legen ihn in Wolfgangs Bett. Aber den Sack können sie nicht aus seiner Hand lösen, es ist, als seien die Finger eingewachsen in den Stoff.