Höchst ungern hatte der Rittmeister von Prackwitz seinen ehemaligen Fahnenjunker auf seiner geheimnisvollen Reise durch das nächtliche Berlin begleitet, sehr widerwillig hatte er schon bei Lutter und Wegner seine Gesellschaft und das herausfordernde Geschwätz ertragen, kaum ihm die Beleidigung mit dem angebotenen Geld verziehen. Ganz unangebracht hatte er des Freundes Studmann Interesse für diesen recht verbummelten und schlaffen jungen Burschen gefunden, dessen reicher Geldbesitz zum mindesten fragwürdig erschien. Wenn jener kleine Zwischenfall mit dem apportierten Granatsplitter im Gefecht vor Tetelmünde Herrn von Studmann ein wenig lächerlich, aber bestimmt – und noch dazu bei einem so jungen Burschen – ziemlich heldenhaft erschien, so überwog für Herrn von Prackwitz das Lächerliche alles Heldische – und ein Charakter, der solcher Extravaganzen fähig war, konnte ihm nur verdächtig erscheinen.
Der gute Rittmeister Joachim von Prackwitz – er fand nur die Extravaganzen anderer Leute verdächtig, über die eigenen dachte er vollkommen wohlwollend. Von dem Augenblick an, da er gehört hatte, es handele sich nicht um irgendwelche dreckigen, nackten Weibersachen – sein Horror! –, sondern bloß um ein Spielchen, besser noch gesagt, um Jeu –, in demselben Augenblick hatten die beiden Schupos mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen alles Warnende verloren, das dunkle Haus hatte etwas Einladendes bekommen, der freche Spanner war von Humor umwittert gewesen, und Fahnenjunker Pagel war aus einem Verführer und zweifelhaften Früchtchen zu einem echten Kerl und welterfahrenen Burschen geworden.
Als der Rittmeister nun gar auf dem kleinen bürgerlichen Vorplatz gestanden hatte, mit den viel zu voll gehängten Kleiderhaken, als der schnauzbärtige Herr hinter seinem Klapptischchen freundlich gefragt hatte: »Spielmarken gefällig, meine Herren?«, und als der Rittmeister nach einem raschen, orientierenden Blick dagegen gefragt hatte: »Altgedient, was? Wo?«, und der Schnauzbärtige mit Hackenzusammenschlagen geantwortet hatte. »Zu Befehl! Neunzehner Sächsischer Train – Leipzig«, da hatte sich der Rittmeister allerbester Laune und ganz zu Hause gefühlt.
Kein Gedanke an das Verbotene solches Spiels hatte noch diese gute Laune getrübt; angeregt hatte er sich Verwendung und Wert der ihm neuartigen Spielmarken erklären lassen – zu seinen Zeiten hatte man nur gegen Bargeld oder allenfalls gegen Visitenkarten mit aufgeklierter Zahl gejeut. Wenn er überhaupt noch an seinen Fahnenjunker gedacht hätte, hätte er höchst wohlwollend sich seiner erinnert. Aber kein Gedanke an diesen jungen Menschen kreuzte noch sein Hirn.
Dafür hatte er Spiel und Spielergesellschaft viel zu interessant gefunden. Mit Bedauern mußte er zwar feststellen, daß die Gesellschaft hier lange nicht so erstklassig war wie die in einem Offizierskasino des Friedens. Da saß zum Beispiel ein dicker, rotgesichtiger Mann am Spieltisch, der unaufhörlich halblaut vor sich hin murmelte und mit dicken, edelsteingeschmückten Fingern Einsätze verteilte – wenn er dessen Specknacken mit vielen Falten betrachtete, konnte kein Zweifel obwalten, daß dies eine Art Bruder oder Vetter des Viehhändlers aus Frankfurt war, den er nie in sein Haus lassen mochte. Übrigens hatte ihn dieser Bruder auch ein paarmal reingelegt, der in Frankfurt natürlich. Feindlich blickte der Rittmeister auf den Dicken, hier also blieben die dem Grundbesitz zu Unrecht abgejagten Gewinne – und nicht einmal mit Anstand vermochte dieser Kerl zu verlieren! Deutlich war ihm die Angst vor jedem Verlust anzumerken, den er doch mit jedem neuen Einsatz wieder neu herausforderte.
Auch störte den Rittmeister die große Anzahl von Frauen, die sich um den Spieltisch drängten – Frauen hatten seiner Ansicht nach beim Jeu nichts zu suchen. Jeu war eine reine Männersache, nur ein Mann brachte Kaltblütigkeit und Verstand genug auf, um mit Erfolg zu jeuen. Auch waren sie zwar sehr elegant, aber für seinen Geschmack doch etwas zu extravagant an- oder vielmehr ausgezogen. Diese Manier, ein Paar junge Brüste gewissermaßen in einem weitgeöffneten Seidenetui jedem Beschauer zur Musterung vorzulegen, ließ an die ihm so verhaßten Straßenmädchen denken. Sicher hatten solche Frauenzimmer hier keinen Zutritt, aber schon an sie erinnert zu werden war peinlich!
Es gab auch Angenehmes zu sehen, zum Beispiel einen älteren, weißhäutigen Herrn mit merkwürdig scharfer, spitzer Nase und Monokel – wo dieser Herr spielte, wo dieser Herr Platz nahm, wo dieser Herr zu Gaste war, da konnte sich auch ein Rittmeister von Prackwitz setzen.
Es war bezeichnend, daß der Rittmeister den direkt daneben sitzenden Fahnenjunker Pagel überhaupt nicht sah, sein sonst so scharfes Auge bemerkte schäbig gekleidete Gestalten nur schwer!
Was nun das Roulett anging – und der Rittmeister nahm höflich dankend auf einem ihm scheinbar bereitwillig, allerdings nur auf höheren Wink geräumten Stuhl Platz –, was nun das Roulett anging, so war es schwierig, sich damit zurechtzufinden. Es gab da eine überraschende Anzahl von Möglichkeiten – zudem wurde mit einer gradezu unziemlichen Hast gespielt. Der Rittmeister war sich kaum klargeworden, wie die Einsätze verteilt waren, so surrte schon die Scheibe, die Kugel lief, der Croupier rief, hier regnete es Jetons, dort brach Dürre aus, vorbei, weiter, setzen, drehen, laufen, surren, rufen – verwirrend!
Des Rittmeisters eigene Erfahrungen mit dem Roulett lagen weit in seine Leutnantsjahre zurück. Sie waren auch damals spärlich genug gewesen, mehr als drei- oder viermal war das Spiel nicht gespielt worden. Das kam daher, daß es besonders streng verboten war, noch strenger als alle anderen Glücksspiele, es wurde für besonders gefährlich angesehen. Eigentlich hatten die jungen Offiziere damals nur ein Glücksspiel gekannt, das »Gottes Segen bei Cohn« hieß und das für verhältnismäßig ungefährlich gehalten wurde. Immerhin war es dem Rittmeister, damals noch unverheiratetem jungem Leutnant, doch so gefährlich geworden, daß er nach einer turbulenten Nacht Hals über Kopf zu seinem Vater hatte reisen müssen, einem womöglich noch hitzigeren Herrn im Generalsrang. Dort hatte er innerhalb einer halben Stunde Wutausbruch, Enterbung und Verstoßung erfahren, schließlich aber hatten die beiden – nach reichlichen Tränenergüssen – bei einem schwärzlichen Herrn eine ganze Reihe von Wechseln unterschrieben, für die sie so viel Geld erhielten, daß die Spielschuld mit Ach und Krach abzudecken war. Seit dieser Zeit hatte der Rittmeister nicht wieder gespielt.
So saß er denn jetzt verwirrt vor dem grünen Tuch, sah die Zahlen an, sah die Inschriften an, rasselte leise mit den Spielmarken in seiner Tasche – und wußte nicht, was er anfangen sollte, so gerne er angefangen hätte.
Als ihn aber von Studmann fragte: »Nanu, Prackwitz, willst du wirklich spielen?« – antwortete er ärgerlich: »Du etwa nicht? Wozu haben wir denn Spielmarken eingewechselt –?!«
Und er setzte auf Rot.
Natürlich kam Rot. Ehe er sich noch recht besonnen hatte, fiel trocken prasselnd ein Häuflein Marken auf die seinen. Der unsympathisch wie ein gesträubter Geier aussehende Kerl rief etwas, wieder drehte sich das Spielrad. Der Rittmeister war unentschlossen, was er nun setzen sollte – da war schon wieder die Entscheidung gefallen.
Wiederum war Rot gekommen, jetzt besaß er schon einen ganzen Berg von Spielmarken.
Er zog sie zurück, sah sich, wie erwachend, um: der beste Mann am Spieltisch war noch immer der Herr mit dem Monokel. Er sah den langen, dünnen, ein wenig aufwärts gekrümmten Fingern zu, die mit unglaublicher Schnelligkeit Markenhäufchen auf die verschiedenen Zahlen und auf die Schnittpunkte von Zahlenfeldern verteilten, und ohne lange zu überlegen, machte er es diesem Herrn nach. Setzte auch auf Zahlen, auf Schnittpunkte von Zahlenfeldern, wobei er aber aus einem Gefühl von Ritterlichkeit (um den andern nicht zu stören) die von jenem besetzten Felder mied.
Wieder rief der Croupier etwas aus, wieder begaben sich Marken zu den von ihm gesetzten, während andere Häufchen unter der Harke verschwanden und mit leisem Klappern in einen Beutel am Tischende fielen.
Von nun an war der Rittmeister wie verzaubert. Das Rollen der Kugel, die Ausrufe des Croupiers, das grüne Tuch mit den Zahlen, Inschriften, Quadraten und Rechtecken, auf denen sich immer neu die vielfarbigen Jetons ordneten – all dies hielt ihn gänzlich gefangen. Er vergaß sich selbst, vergaß die Zeit und den Raum, in dem er saß. Er dachte nicht mehr an Studmann und an den fragwürdigen Fahnenjunker Pagel. Es gab kein Neulohe mehr. Hurtig mußte er sein, das Auge, schneller noch als die Hand, mußte freie Felder ausspähen, auf die Spielmarken zu werfen waren; eilig mußten die Gewinne herangeholt werden, mußte entschieden werden, was stehenzubleiben hatte.
Einen Augenblick entstand eine unliebsame Pause dadurch, daß der Rittmeister, wie er zu seiner Überraschung merkte, gänzlich ohne Spielmarken war. Ärgerlich fingerte er in seiner Jackettasche herum, ärgerlich deswegen, weil er nun ein Spiel auslassen mußte. Daß er keine Marken mehr hatte, rief aber in ihm nicht etwa den Gedanken an einen erlittenen Verlust herauf, nur die Verzögerung störte ihn. Gottlob erwies sich, daß er beobachtet worden war; ein Adlatus des Croupiers hielt schon weitere Jetons für ihn bereit. Und mit völliger Geistesabwesenheit, die überhaupt nicht den Gedanken aufkommen ließ, daß er hier Geld, und zwar fast alles Geld, das er bei sich trug, hergab, zog er die Scheine aus der Tasche und tauschte dafür beinerne Spielmarken ein.
Kurz nach dieser ungewollten, ärgerlichen Spielpause, grade als der Rittmeister im schönsten Setzen war, fand sich plötzlich von Studmann ein und flüsterte über die Schulter des Spielenden, daß Pagel jetzt gottlob genug habe und gehen wolle.
Recht gereizt fragte der Rittmeister zurück, was in aller Welt der junge Pagel ihn anginge? Er säße ausgezeichnet hier und habe nicht im geringsten die Absicht, schon nach Hause zu gehen.
Ganz erstaunt fragte von Studmann wiederum zurück, ob der Rittmeister denn wirklich spielen wolle –?
Von Prackwitz war – fast bestimmt – der Ansicht, daß jenes Häufchen Marken auf dem Schnittpunkt der Zahlen 13, 14, 16 und 17, das eben gewonnen hatte, von ihm gesetzt worden sei – eine mit einem Perlenring geschmückte Frauenhand hatte danach gelangt und das Häufchen fortgenommen. Von Prackwitz begegnete dem Blick des Croupiers, der ihn ruhig beobachtend ansah. Sehr gereizt bat er von Studmann, er möge nun endlich gehen und ihn in Frieden lassen!
Studmann antwortete nicht, und der Rittmeister spielte weiter. Aber es war nicht möglich, sich auf das Spiel zu konzentrieren, er fühlte, ohne es zu sehen, daß Studmann in seinem Rücken stand und sein Setzen beobachtete.
Er drehte sich mit einem Ruck um und sagte scharf: »Herr Oberleutnant, Sie sind nicht mein Kindermädchen!«
Dieses Wort, das einen alten Gegensatz aus den Kriegszeiten wieder aufriß, tat seine Wirkung: Studmann machte eine ganz leichte, entschuldigende Verbeugung und zog sich zurück.
Als der Rittmeister aufatmend auf das grüne Tuch zurückblickte, sah er, daß mittlerweile auch die letzte seiner Spielmarken verschwunden war. Er warf einen ärgerlichen Blick auf den Croupier, es kam ihm vor, als verkrieche sich ein Lächeln in dem gesträubten Schnurrbart. Von Prackwitz öffnete das mit einem doppelten Verschluß gesicherte Innenfach seiner Brieftasche und entnahm ihm siebzig Dollar – alles, was er noch an Devisen besaß. Der Gehilfe des Croupiers stapelte mit ungeheurer Geschwindigkeit Haufen und Haufen von Marken vor ihm auf. Der Rittmeister strich sie eilig, ohne sich mit Zählen aufzuhalten, in die Tasche. Einen Augenblick hatte er, als er merkte, viele Gesichter sahen ihn prüfend an, das vage Gefühl: Was tue ich da –?!
Aber es waren mehr die Worte, die in ihm klangen, als ihr Sinn. So viele Marken gaben ihm Sicherheit, Vergnügen erfüllte ihn. Er dachte freundlich: Dieser törichte, ewig besorgte Studmann –!, rückte fast lächelnd auf seinem Stuhle zurecht und fing wieder an zu setzen.
Doch diese gute Stimmung hielt nicht lange an. Immer gereizter sah er Einsatz auf Einsatz unter der Harke des Croupiers entschwinden, fast gar nicht mehr hörte er das trockene Niederprasseln der gewonnenen Marken auf die von ihm besetzten Felder. Immer häufiger mußte er in die Tasche greifen, die schon nicht mehr prall war. Es war noch nicht der Gedanke an Verlust, der ihn irritierte, es war der unbegreiflich rasche Ablauf des Spieles … Nahe schon sah er vor sich den Augenblick, da er aufstehen und dieses kaum erst gekostete Vergnügen würde aufgeben müssen. Mit der Zahl der Einsätze, meinte er, müßten seine Gewinnaussichten steigen – immer hastiger verteilte er Marken über das ganze Spielfeld.
»So spielt man nicht!« sagte eine ernste Stimme mißbilligend neben ihm.
»Wie –?!« fuhr der Rittmeister hoch und sah den jungen Pagel empört an, der sich auf den Stuhl neben ihm gesetzt hatte.
Aber hier war der junge Pagel nicht unsicher und verlegen. »Nein, so spielt man nicht!« sagte er noch einmal. »Sie spielen ja gegen sich selbst.«
»Was tue ich?!« sagte der Rittmeister und wollte sehr wütend werden, dem jungen Burschen, genau wie dem Studmann vorher, gründlich Bescheid sagen! Aber zu seiner Überraschung kam der sonst stets auf der Lauer liegende Zorn nicht, statt dessen ergriff ihn Verlegenheit, als habe er sich wie ein törichtes Kind benommen.
»Wenn Sie Rot und Schwarz gleichzeitig setzen, können Sie doch nicht gewinnen«, sagte Pagel tadelnd. »Entweder gewinnt Rot oder Schwarz – beides nie!«
»Wo habe ich –?« fragte der Rittmeister verwirrt und sah über den Spieltisch. Doch grade fuhr der Rechen des Croupiers dazwischen, die Marken klapperten …
»Da nehmen Sie doch!« flüsterte Pagel streng. »Sie haben Dusel gehabt. Das da ist Ihres – und da – und da – gnädige Frau, ich bitte sehr, das ist unser Einsatz!«
Irgendeine Frauenstimme sagte sehr aufgeregt etwas, Pagel achtete nicht darauf. Er ordnete weiter an, und wie ein Kind folgte der Rittmeister seinen Weisungen.
»So – und diesmal werden Sie gar nichts setzen – wir wollen erst sehen, wie das Spiel läuft. Was haben Sie noch an Marken? – Das reicht nicht für einen großen Schlag – warten Sie, ich kaufe noch …«
»Sie wollten gehen, Pagel!« ließ sich die unausstehliche Erzieherstimme Studmanns vernehmen.
»Bloß einen Augenblick, Herr von Studmann«, sagte Pagel, liebenswürdig lächelnd. »Ich will Herrn Rittmeister nur schnell zeigen, wie man richtig spielt.«
»Bitte, fünfzig zu fünfhunderttausend und zwanzig zu einer Million …«
Studmann machte eine Gebärde der Verzweiflung …
»Wirklich nur einen Augenblick«, sagte Pagel freundlich. »Sie können mir glauben, mir macht das Spielen überhaupt keinen Spaß, ich bin kein Spieler. Es ist nur wegen des Rittmeisters …«
Aber von Studmann hörte nicht mehr. Er hatte sich ärgerlich umgedreht und war fortgegangen.
»Passen Sie auf, Herr Rittmeister«, sagte Pagel. »Jetzt wird Rot kommen.«
Sie warteten gespannt.
Dann kam – Rot.
»Wenn wir jetzt gesetzt hätten –!« klagte der Rittmeister.
»Nur Geduld!« tröstete Pagel. »Erst muß man sehen, wie der Hase läuft. Jetzt kann man gar nichts Bestimmtes sagen – immerhin wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Schwarz kommen.«
Es kam aber Rot.
»Sehen Sie!« sagte Pagel triumphierend. »Wie gut, daß wir nicht gesetzt hatten! Jetzt fangen wir aber bald an. Und Sie sollen sehen – in einer guten Viertelstunde …«
Der Croupier lächelte unmerklich. Von Studmann, in einem Winkel, verfluchte den Augenblick, da er bei Lutter und Wegner den jungen Pagel angesprochen hatte.