Draußen schwindet das letzte abendliche Dämmerlicht rasch in Dunkelheit hinüber. Es ist neun Uhr vorbei. Schon brennen auf den Straßen die Laternen. Die längst verwitwete Frau Pagel steht am Fenster von Wolfgangs Zimmer. Sie sieht hinaus in die Gärten, die nun schon fast dunkel sind. Aber hinten flammt und blinkt es, ein rötlicher Schein liegt über der Stadt – bedenkt sie, unter welcher Lampe der Sohn jetzt sitzen, das geraubte Geld vertun mag?
Sie wendet sich in das Zimmer hinein, wo im Lichtschein das Mädchen Minna einen Koffer packt, und sagt ungeduldig: »Machen Sie doch zu, Minna! Er kann jeden Augenblick nach den Sachen kommen!«
Das Mädchen Minna sieht nicht auf von den Säckchen, in die sie die sorgfältig aufgeblockten Schuhe schiebt. »Er kommt doch nicht, gnä’ Frau«, sagt sie.
Frau Pagel wird ärgerlich – Minnas Antwort klingt ja fast so, als müsse ihr ein sehnlichst erwarteter Besuch ausgeredet werden! Sie sagt kurz: »Sie wissen ganz gut, was ich meine, Minna. Dann schickt er eben jemanden wegen der Sachen!«
Minna packt weiter, sehr geruhig, ohne alle Hast. »Den Schrankkoffer hätten gnä’ Frau auch nicht gerade zu geben brauchen. Wenn nun gnädige Frau im Frühjahr nach Ems fahren, haben Sie keinen anständigen Koffer!«
»Dumme Person!« sagt die gnädige Frau bloß und sieht aus dem Fenster. – Man kann zwar – wegen der dichten Baumkronen – die Straße nicht sehen, aber man hört in der tiefen Stille hier jeden Schritt, jedes anfahrende Auto.
»Soll der Bademantel auch rein, gnä’ Frau?« fragt die Minna.
»Wie –?!« fragt Frau Pagel. »Ach so, der Bademantel. – Natürlich. Alles, was ihm gehört, wird eingepackt.«
Minna macht ein mucksches Gesicht. »Dann muß ich aber noch auf den Boden«, sagt sie, »und die Bücherkisten holen. Ich weiß nicht, ob der Hausmann noch auf ist. Allein schaffe ich die Kisten nicht.«
»Die Bücher haben Zeit«, sagt die alte Frau, ärgerlich über diese ständigen Schwierigkeiten. »Sie können ihn ja fragen, ob er sie haben will, wenn er kommt.«
»Er kommt doch nicht, gnä’ Frau«, sagt das alte Mädchen Minna eintönig, aber rechthaberisch.
Diesmal hat Frau Pagel nicht hingehört, diesmal braucht sie sich nicht über die Dickköpfigkeit des Mädchens zu ärgern. Sie lauscht auf die Straße, halb lehnt sie aus dem Fenster, sie horcht, sie lauscht … ein Schritt …
Das Mädchen, wenn es ihr auch den Rücken kehrt, hat gespürt, daß etwas vorgeht. Sie hält inne im Packen, einen Badeanzug in der Hand, wendet sie sich um, sieht die lauschende Gestalt, sagt bittend: »Gnädige Frau –!«
»Wolfgang –?!« ruft die aus dem Fenster. Zweifelnd erst, dann sicher. »Wolfgang! Ja, warte, Junge! Ich komme schon! Ich schließe dir gleich auf!«
Und sie fährt herum, ihr Gesicht ist gerötet, die Augen unter den weißen Haaren leuchten und flammen wie eh und je.
»Los doch, Minna! Die Schlüssel! Der junge Herr wartet unten! Lauf!«
Und ohne auf Minnas beschwörende Worte zu achten, läuft sie ihr voraus auf den dunklen Flur. Sie schaltet das Licht ein, greift aufs Geratewohl irgendwelche Schlüssel vom Brett neben der Spiegelkonsole und rennt, gefolgt von Minna, die Treppe hinunter.
An der Haustür probiert sie. Die Schlüssel wollen nicht passen. Fieberhaft ruft sie: »Rasch doch, Minna! Nur schnell – vielleicht überlegt er es sich wieder – er war immer schwach!«
Die stumm gewordene Minna drückt auf die Klinke, die Haustür, die nicht abgeschlossen war, öffnet sich. Frau Pagel läuft durch den schmalen Vorgarten, sie stößt das Eisentürchen zur Straße auf. »Wolfgang! Junge! Wo bist du denn?!«
Der einsame Nachtwanderer, ein Sonderling, der statt nach Bars und Betrieb sich nach frischer Luft und dem Geruch von grünem Gewächs gesehnt hat, fährt überrascht zusammen. Er sieht eine alte, weißhaarige, sehr erregte Dame vor sich im Flackerschein der einsamen Gaslaterne, dahinter ein ältliches Mädchen, einen Badeanzug in der Hand. Er fragt töricht: »Wie bitte?!«
Die alte Dame macht so plötzlich halt und kehrt, daß sie fast gefallen wäre. Das ältliche Mädchen mit dem Badeanzug wirft ihm einen ärgerlichen Blick zu und geht hinterdrein. Jetzt faßt sie die alte Dame unter den Arm, gemeinsam verschwinden die beiden in dem nahen Haus.
Schließen nicht ab, stellt der einsame Spaziergänger bei sich fest. Verdrehte Hühner, einen so zu erschrecken!
Er sucht sich eine noch stillere Straße für seine Erfrischung.
Die beiden alten Frauen steigen langsam, ohne ein Wort, die Treppen hinauf. Minna fühlt, daß die Hand der gnädigen Frau auf ihrem Arm wie im Krampfe zittert. Sie merkt, wie schwer der Gnädigen das Treppensteigen wird. Die Etagentür steht offen, der Vorplatz ist hell erleuchtet. Sie gehen in die Wohnung, Minna macht die Tür zu. Sie ist nicht ganz sicher, wohin die gnädige Frau gehen möchte, ob in das Zimmer des jungen Herrn oder in ihr eigenes Zimmer. Besser wäre es, wenn die Gnädige sich nach all den Aufregungen hinlegte. Aber Minna, die sture, dickköpfige Minna, hat in ihrem Leben eines gelernt, was die meisten Frauen nie lernen, nämlich, daß Reden seine Zeit hat und Schweigen seine Zeit. Jetzt ist die Zeit des Schweigens.
Sie geht sachte mit der gnädigen Frau den Flur entlang, und ein leises Ziehen am Arm verrät ihr, daß die Gnädige wieder in das Zimmer des jungen Herrn möchte. Als die beiden eintreten, steht vor ihnen der Schrankkoffer, weit aufgesperrt. Eine Lade ist herausgezogen, obenauf in ihr liegt der blauweiß gestreifte Bademantel des jungen Herrn.
Frau Pagel bleibt bei diesem Anblick stehen. Sie räuspert sich und sagt dann trocken: »Nimm den Bademantel raus, Minna!«
Minna tut es, sie legt den Bademantel auf das Sofa.
»Nimm alles raus!« sagt Frau Pagel noch böser. »Du mußt noch mal mit Packen anfangen, Minna. Ich kann den Schrankkoffer keinesfalls entbehren.«
Wortlos macht Minna sich an das Auspacken. Die gnädige Frau steht dabei, mit einem strengen, harten Gesicht. Sie beaufsichtigt Minna. Vielleicht wartet sie sehnsüchtig auf einen zögernden Griff, auf die geringste Andeutung von Stellungnahme. Aber Minnas hölzernes Gesicht bleibt ausdruckslos, ihre Griffe nach Wäsche und Kleidern sind nicht zu rasch und nicht zu langsam.
Plötzlich dreht sich Frau Pagel um.
Sie möchte noch rasch durch die Tür in ihr dunkles Zimmer flüchten. Aber sie kommt nicht mehr so weit. Die stürzenden Tränen verschleiern ihr den Blick, haltlos weinend lehnt sie im Türrahmen.
»Ach, Minna, Minna«, flüstert sie schluchzend. »Soll ich denn nun auch ihn verlieren, das letzte, was ich noch liebe –?«
Aber das alte Mädchen, das ein ganzes Leben lang, in der Küche, in der Dienstbotenkammer, nur für die gnädige Frau gedacht und gearbeitet hat, das immer geholt und das immer wieder weggeschickt worden ist, ganz wie ihrer Herrin zumute war, und das auch in dieser Stunde wieder vergessen ist – aber das alte Mädchen faßt beschwörend die Hand der Herrin. Es flüstert eindringlich: »Er kommt ja wieder, gnä’ Frau. Bestimmt! Wolfi kommt doch wieder!«