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»Frau Thumann«, sagte Petra in der Küche ihrer Wirtin, hatte den schäbigen Sommerpaletot fest von oben bis unten zugeknöpft und kümmerte sich gar nicht um ihr Zimmervisavis, die rassige, aber versoffene Ida vom Alex, die am Küchentisch saß und schöne, glasierte Schnecken in Milchkaffee tauchte – »Frau Thumann, haben Sie nicht ein bißchen was zu tun für mich?«

»Jotte doch, Mächen!« ächzte die Pottmadamm am Spülstein. »Wat meenst du nu wieder mit wat zu tun? Willste uff de Uhr kieken, ob er kommt, oder haste Kohldampf?«

»Allet beedet«, sagte die Ida mit ihrer tiefen, vom Schnaps kratzigen Stimme und zog schlürfend über ein Stück Zucker im Munde ihren Kaffee.

»De jrünen Heringe ha ’ck schon ausjenommen und jeschuppt, und den Kartoffelsalat machste doch nicht, wie Willem ihn will – und sonst?«

Sie sah sich um, aber es fiel ihr nichts ein.

»Da ha ’ck nu jespannt und jejachtert, dat ick noch rechtzeitig zu de piekfeine Trauung unter de Kirchentür stehe, und nu is es ein Uhr vierzig, und wat de Braut is, die läuft noch in ’nem Herrenpaletot mit nackje Beene. Imma wird man belämmert!«

Petra setzte sich auf einen Stuhl. Ihr war wirklich ein wenig sehr schwach im Magen, ein ziehendes Gefühl mit einer leisen Andeutung von kommendem Schmerz, Schwäche in den Knien und immer wieder ein Schweißausbruch, der nicht allein von der stickenden Schwüle kommen konnte. Aber ihre Stimmung war trotzdem recht gut. Eine große, glücklich machende Gewißheit war in ihr. Sie konnte die beiden ruhig reden lassen, es gab den Stolz nicht mehr und nicht mehr die Scham von früher. Sie wußte, wohin der Weg ging. Daß er ans Ziel führte, darauf kam es an, nicht darauf, daß er beschwerlich war.

»Setzen Se sich bloß langsam uff den Stuhl nieda, meine Dame!« höhnte die rassige Ida wieder. »Sonst hält er nich, bis der Bräutjam kommt Sie holen zur Trauung.«

»Mach es nich zu schlimm mit ihr in meine Küche, Ida«, mahnte die Pottmadamm am Spülstein. »Bislang hat er ja noch imma allens bezahlt, und mit zahlende Jäste soll man lieblich sind.«

»Eenmal is es aba alle, Thumann«, sagte die Ida weise. »Ick hab en Blick for die Männers, ick weeß, wenn die Marie dünne wird und er möchte rücken – ihrer is heute jerückt.«

»Saren Se det bloß nich, Ida!« klagte Frau Thumann weinerlich. »Wat soll mir denn det Mächen mit nischt als en Paletot und nackje Beene?! – O Jott!« schrie sie laut und warf mit einem Topf, daß es schepperte, »mir jeht doch allens schief, ick kann ihr womöchlich noch ein Kleid koofen, bloß, det ick ihr loswerde!«

»Ein Kleed koofen!« sagte die Ida verächtlich. »Zu dumm kleid’t ooch nich hübsch, Thumann! Da saren Se dem nächsten Sipo so und so – et wohnt ja jleich eener in’t Vorderhaus – und vastehnse und Betrug, und ab mit ihr zur Wache und uff den Alex. Die ziehen Ihnen da schon wat an, Fräulein, wat Sie denken, blauer Husar und Kopftuch, vastehn Se?!«

»Mir müssen Sie nicht angst machen«, sagte Petra friedlich und ein wenig schwach. »Sie hat wohl auch schon einmal einer sitzenlassen.« Sie hatte es nicht sagen wollen, aber wes das Herz voll ist, des geht der Mund über – und so hatte sie es gesagt!

Der Ida blieb die Luft fort, als habe sie einer derb vor die Brust gestoßen.

»Den haste wech, Mächen!« kicherte die Thumann.

»Eener, Fräulein?!« sagte da die Ida mit erhobener Stimme. »Eener – saren Se?! Hundert, sollten Se saren! Da reichen keene hundert Male, det ick mir Eisbeene und dicke Knie stehe, und der Seejer uff de Normaluhr jeht und jeht, bis ick dußlijet Aas endlich merke: mir hat wieda eena vasetzt! Aber«, ging sie aus den wehmütigen Erinnerungen zum Angriff über, »desderwejen brauch mir so eene, die nich mal am Hochzeitstag was uff ’en Leib zu ziehen hat, det noch lange nich vorzuhalten! Eene, die mir nur mit Jieroojen die Schnecken ins Maul kiekt und de Kaffeeschlucker zählt. So eene wie …«

»Feste, feste!« freute sich die Thumann.

»Und überhaupt! Is det denn ’ne Sache für ’n anständijet Mächen, det se in so ’ne bedrängte Laje hochnäsig in ’ne fremde Küche kommt und fracht wie Jräfin Hochkotz: Hamm Se wat for mir zu tun?! Wer nischt hat, muß betteln jehn, det hat mein Vata mir schon mit ’em Scheit auf ’en Buckel jeschrieben, und hätten Se jesacht: ›Ida, ick schiebe Kohldampf, jib mir ’ne Schnecke‹, du hättst längst eene jehabt! Und überhaupt, Frau Thumann! Ick zahle Sie einen Doller täglich für Ihren Wanzenstall und nich mal Nachtlicht uff de Treppe, wo die Herren imma üba meckern – da hamm Se jar nischt zu lachen und zu schreien: ›Den haste wech, Mächen!‹ Da hamm Se mir jefälligst in Schutz zu nehmen, und wenn so eene keß wird, die janz for umsonst mit ihrem Louis schläft, zum Vajniejen, und de Thumann kann ja sehn, wo se de Pinke herkriegt, wir arbeeten nich, wir jehn doch nich uff den Strich und schaffen nich an – dafor sind wir doch zu fein –, nee, Thumann, ich muß mir doch sehr über Sie wundern, und wenn Se det freche Aas, det mir vorwirft, det ick nich imma Jlück mit die Herren habe, wenn Se die nich uff de Stelle rausschmeißen – denn zieh ick!«

Die rassige Ida stand zornrot da, eine Schnecke hatte sie noch in der Hand, hochrot war sie, und immer röter wurde sie noch, je mehr ihr klar wurde, wie schwer sie beleidigt worden war. Die Thumannsche und Petra sahen ganz fassungslos auf diesen Sturm, der entstanden war, kein Mensch wußte, woher und warum. (Und die rassige Ida, hätte sie nur nachdenken können, war sicher über den Schluß ihrer Rede genauso überrascht wie die beiden andern.)

Petra wäre ja am liebsten aufgestanden und in ihr Zimmer geschlüpft, hätte abgeschlossen und sich aufs Bett geworfen – oh, das gute Bett! Aber es wurde ihr immer schwächer und schwächer, es brauste manchmal in ihren Ohren, und vor ihren Augen drehte es sich, dann sprach die zornige Stimme ganz ferne. Aber plötzlich kam sie wieder nahe, sie schrie direkt in ihre Ohren, und vor ihren Augen drehte es sich von neuem. Dann lief Feuer über ihren Nacken, den Rücken hinab, schwächender Schweiß brach aus … Wenn sie es genauer rechnete, hatte sie ja lange Tage nichts Rechtes mehr gegessen; immer nur, wenn Wolf grade Geld hatte, eine Bockwurst mit Salat oder Schrippen und Leberwurst auf der Bettkante. Und seit gestern früh überhaupt nichts mehr, wo es so darauf ankam, daß sie sich gut nährte –! Sie mußte versuchen, schnell in ihr Zimmer zu kommen, und dann abschließen, vor allem fest zuschließen; selbst wenn sie mit Polizei anklopften, nicht öffnen; erst wieder aufmachen, wenn Wolfgang kam …

»Jotte doch!« hörte sie ganz in der Ferne die Thumann jammern, »wat machste mir doch for Stunk mit deine freche Schnauze, Mächen! Solche, die nischt haben, müssen andern ooch nicht det Brot vom Tische quasseln, und de Ida is eene prima Dame, die jeden Tach mit ihrem Doller kommt – so eener haste gar nischt vorzuwerfen, vastanden?! Und nu mach, daß de aus meine Küche kommst, und een bißken dalli, sonst wackelt was …«

»Nee!« schrie die Ida unerträglich scharf. »Det jilt nich, Thumann! Entweder jeht die oder entweder ick! Beleidijen lasse ick mir nich von so einer – raus mit ihr aus de Wohnung, oder ick ziehe noch diese Minute …«

»Aber, Mächen, Ida, Herzenskindting!« jammerte die Thumann. »Du siehst doch, wie se is: Spucke an ’ne Kalkwand, und nischt uff ’en Leib und nischt im Leib – so kann ick se doch nich türmen lassen …«

»Können Se nich, Thumann? Nee, det können Se nich? So – det wollen wir sehen – da können Se mir jleich in Ihre Entreetüre sehen, Frau Thumann –!«

»Mächen, Ida«, bat die Thumann, »warte doch bloß, bis ihr Kerl wiedakommt, tu mir die Liebe! – Dann sollen se ooch jleich beide dieselbe Minute noch jehn müssen! – Mache doch, dat de ihr aus de Ojen kommst, du dußlije Jans du!« flüsterte sie aufgeregt zu Petra. »Wenn se dir bloß nich mehr sieht, wird se schon ruhich!«

»Ich gehe ja schon«, flüsterte Petra und stand auf. Plötzlich konnte sie stehen, und sie sah auch gut das schwarze Loch der offenstehenden Küchentür in den dunklen Flur hinein, aber die Gesichter der Frauen sah sie nicht. Sie ging langsam, die sagten noch etwas, immer schneller, immer lauter, aber sie hörte es nicht genau, konnte es darum auch nicht verstehen …

Dafür konnte sie aber gehen, und sie ging langsam aus der hellen, heißen Schwüle auf das schwarze Loch zu. Dahinter kam der fast dunkle Flur mit »ihrer« Tür, sie brauchte nur einzutreten, zuzuschließen – und dann das Bett …

Aber sie ging vorüber, es war wie in einem Traum, ihre Glieder gingen anders, als der Kopf es ausdachte. Sie warf im Vorübergehen noch einen Blick in das Zimmer – das Bett hätte ich doch noch machen müssen, dachte sie, und schon war sie vorüber. Schon war die Eingangstür da, und sie machte sie auf, tat einen Schritt über die Schwelle und zog sie hinter sich wieder zu.

Das Helle rechts und links waren Gesichter von Nachbarinnen.

»Wat ist denn det for Krach bei Ihnen?« fragte die eine.

»Die haben Sie woll rausjeschmissen, Fräulein?«

»Jotte doch! Wie ’ne aufjewärmte Leiche!«

Aber Petra bewegte nur leise verneinend den Kopf. Sie durfte nicht sprechen, sonst wachte sie auf und saß wieder in der Küche, und sie stritten und schrien sie an … Leise, nur leise, sonst schwindet der Traum … Sie faßte vorsichtig das Geländer, sie trat eine Stufe tiefer – und sie kam wirklich tiefer. Es war eine richtige Traumtreppe, man kam auf ihr tiefer, nicht höher.

Dann stieg sie weiter hinab.

Sie mußte sich eilen. Oben hatten sie die Tür wieder aufgemacht, sie riefen irgend etwas hinter ihr her: »Mächen, mach doch keene Zicken! Wo willste denn hin, so nackig? Komm wieda ruff, de Ida vazeiht dir ooch …«

Petra machte eine verneinende Bewegung mit der Hand und stieg tiefer. Sie stieg und stieg – auf den Grund eines Brunnens. Aber unten war ein helles Tor – wie im Märchen. Es gab so ein Märchen, Wolfgang hatte es ihr erzählt. Und nun ging sie durch das helle Tor in die Sonne hinaus, durch Gänge, über sonnige Höfe … und nun war da die Straße, eine fast leere, sehr sonnige Straße –

Petra sah sie hinauf und hinunter – wo war Wolf?

Wolf unter Wölfen
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