Im Zuchthaus Meienburg schlägt die Morgenglocke um sechs Uhr an, im Polizeigefängnis Alexanderplatz zu Berlin wird es halb sieben, ehe der Gefangene aufstehen darf, weiß, daß die Nacht vorbei ist und es geschieht wieder etwas – vielleicht sogar mit ihm.
Petra ist erwacht von dem eiligen Gebimmel, einen Augenblick noch hat sie, beim Öffnen der Augen, vor sich den Schatten von Wolfs Gesicht. Es lächelte – dann zerriß vieles in Schwärze, eine alte Frau (Wolfgangs Mutter?) sagte ihr hart und hoch viele böse Dinge … Aus der Schwärze tauchte ein Baum, entlaubt, mit sperrigen, drohenden Ästen – ein Vers, den Wolfgang oft gesummt, klang in ihrem Ohr: Er hängt an keinem Baume, er hängt an keinem Strick …
Nun sind die Augen weit offen. Die Zigeunerinnen schwatzen schon wieder in ihrem Winkel, mit vielen Gebärden, auf ihrer Matratze hockend; die Lange liegt noch in ihrem Bett, die hochgezogenen Schultern zucken, sie weint also schon wieder; die kleine Dicke steht vor dem handtellergroßen Zellenspiegel, feuchtet im Munde den Zeigefinger an und fährt damit glättend über ihre Augenbrauen. Frau Krupaß aber sitzt aufrecht in ihrem Bett und flicht ihre kümmerlichen Zöpfchen – und das Deckenpaket liegt reglos am Boden …
Vor den Fenstern, über Dächern, von Gitterstäben zerteilt, ist der Himmel mattblau und sanft durchsonnt – ein neuer Tag, wohlan, zu neuem Werke! Es ist kaum noch Wasser im Krug – wie soll man sich waschen?
Die alte Frau nickt. »Hör, Kindchen, was wir heute nacht abgemacht haben, dabei bleibt es, was? Oder hast du es dir anders überlegt?«
»Nein«, sagt Petra.
»Ich hab so ’n Gefühl, du kommst heute noch raus, ganz plötzlich. Wenn wir uns nicht mehr sehen, gehst du zu Killich – Rechtsanwalt Killich an der Warschauer Brücke – behältst du das –?«
»Rechtsanwalt Killich, Warschauer Brücke …«, wiederholt Petra.
»Schön. Also gleich hingehen! – Wie siehst du denn aus? Denkste noch an den Kerl?«
»Nein!«
»Na! Na!«
»Aber ich glaube, ich hab von ihm geträumt!«
»So – na, dagegen wirste vorläufig nichts machen können. Das gibt sich mit der Zeit von selbst, das Träumen. Iß abends bloß keine Bratkartoffeln, sag der Randolfen, sie soll dir immer kalten Aufschnitt geben. Bratkartoffeln abends, und vor allem mit Zwiebeln, das treibt die Träume, so was mußt du nicht essen, Kindchen, verstanden!«
»Nein«, sagt Petra. »Ich bin aber gar nicht so empfindlich.«
»Was willste dich um so ’nen Kerl abäschern? Kerle gibt’s genug, gibt’s viel zuviel – geh mir los mit denen! Immer kalten Aufschnitt und ein Glas Helles von Patzenhofer, da schläft es sich besser ein. Na, du wirst’s schon schaffen, da ist mir nicht angst drum!«
»Mir auch nicht!«
»Na, und sieh jetzt mal nach deiner Kranken, ich merk doch, du bist ganz jieperig darauf. Was ein Schaf ist, bleibt ein Schaf. Du lernst es auch nie! – Du, Kindchen!«
»Ja?« fragt Petra und wendet sich noch einmal um.
»Ich glaube doch, es ist nichts mit dir. – Wenn er und er steht auf der andern Straßenseite und pfeift und winkt mit dem Finger – da läufst du schon, aus meiner schönen Etage und von dem guten, fetten Essen und der Badewanne und vons Bette – wie du stehst und gehst, läufste zu ihm, was –?«
Mit neu erwachtem Argwohn sieht sie Petra aus ihren alten Augen an.
»Aber, Mutter Krupaß«, sagt Petra lächelnd, »jetzt kommt er doch nicht mehr zuerst, jetzt denke ich doch immer zuerst an es!«
Sie sieht noch einen Augenblick Frau Krupaß an, nickt ihr dann zu und macht sich nun daran, die Feindin, die Hühnerweihe, die Kranke auszuwickeln.