Wenn Wolfgang Pagel allein zu den Zuchthäuslern radelte und wenn Violet von Prackwitz sich ohne Widerspruch darein fügte, obwohl ihr ein Vormittag mit dem jungen Mann lieber gewesen wäre, so waltete hier ein höherer Wille, dem alle in Neulohe sich zu fügen hatten: der des Oberwachtmeisters Marofke. Dieser lächerliche, kleine, eitle Mann mit Spitzbauch machte nicht nur die Gesichter seiner Zuchthäusler griesgrämig. Wenn er mit irgendeinem seiner nie aufhörenden Wünsche das Gutsbüro betrat, stöhnte Frau von Prackwitz: »Ach du lieber Gott!«, und Herr von Studmann legte seine Stirn in ärgerliche Falten. Die Kollegen, die Wachtmeister und Hilfswachtmeister, schimpften über den Kollegen – aber leise; die Mädchen in der Küche schimpften über den »eingebildeten Hanswurst« – und sehr laut.
Immer hatte Marofke Ausstellungen, ewig war ihm etwas nicht recht. Jetzt war das Hammelfleisch im Essen für die Gefangenen zu fett, nun war das Schweinefleisch zu spärlich. Seit drei Wochen hatte es keine Erbsen gegeben, aber zweimal in der Woche war Weißkohl gekocht worden. Die Leute kamen nicht rechtzeitig von der Arbeit, und das Essen war nicht rechtzeitig fertig. Dies Fenster mußte zugemauert werden: die Gefangenen konnten sonst in ein Zimmer sehen, das Mädchen bewohnten. Es war unzulässig, daß das Klo neben der Schnitterkaserne auch von den Leuten aus dem Dorf benutzt wurde, zum Beispiel von Frauenzimmern. Es war ebenso unzulässig, daß sich Frauen in der Nähe der arbeitenden Kolonne sehen ließen, das konnte die Leute aufregen.
Es riß nicht ab, es hörte nie auf! Dabei machte dieser infame Speckjäger sich selbst das Leben verdammt leicht. Die Überwachung der Kolonne überließ er meistens seinen Untergebenen, den vier Wachtmeistern. Er saß fast den ganzen Tag in seiner Kaserne, füllte mit wichtigtuerischer, eitler Miene Listen aus oder schrieb Berichte an die Zuchthausverwaltung, oder er schritt ruhelos in den Räumen der Kaserne umher, riß jedes Bett auseinander, durchsuchte es. Ein Löffelstiel, aus dem ein Gefangener sich einen Pfeifenreiniger gemacht hatte, rief sein intensivstes Nachdenken hervor: Was sollte nun dieses wohl wieder bedeuten? Gewiß, ein Pfeifenkratzer, aber wer sich einen Pfeifenkratzer macht, kann sich auch einen Dietrich machen! Und er revidierte alle Schlösser, die Gitterstäbe und die Stellen, an denen die Gitterstäbe in der Wand festsaßen. Dann strich er zum Klohäuschen, hob die Klappen hinten hoch und prüfte, ob nur Klopapier oder ob vielleicht doch zerrissene Fetzen eines Briefes da unten lagen.
Aber die meiste Zeit saß er auf der Bank vor der Schnitterkaserne, mitten in der Sonne, drehte die Daumen über dem fetten Bauch, hatte die Augen halb geschlossen und dachte nach. Die Leute, die ihn da so behaglich-verschlafen sitzen sahen, lachten verächtlich über ihn. Denn auf dem Lande ist es eine Schande für einen gesunden Mann, in der Erntezeit faul dazusitzen. Jeder wird gebraucht, es gibt nie genug Arme.
Aber es muß zugegeben werden, daß der Herr Oberwachtmeister Marofke nicht irgendwie träumerisch-versonnen in der Sonne saß: er dachte wirklich nach. Er dachte ununterbrochen über seine fünfzig Gefangenen nach. Er erinnerte sich ihrer Vorstrafen, ihrer Straftaten, ihres Alters, ihrer Beziehungen zur Welt, ihrer Reststrafen. Mann für Mann prüfte er ihre Charaktere, er dachte an Vorkommnisse im Zuchthaus, winzige Ereignisse, die aber doch grell zeigten, wessen ein Mann fähig war. Wenn die Leute aßen, ruhten, plauderten, schliefen, beobachtete er sie ununterbrochen. Er achtete darauf, wer mit wem redete, auf Freundschaften, auf Abneigungen. Und als Ergebnis seiner Überlegungen und Beobachtungen gab es ständig Verlegungen, Feinde wurden zusammengebracht, Freundschaften auseinandergerissen. Die einander widerlich waren, mußten in den Betten nebeneinander schlafen. Marofke änderte die Tischrunde ständig, er bestimmte, wer neben wem gehen durfte, wer allein arbeiten mußte, wen die Beamten ständig im Auge zu behalten hatten.
Die Gefangenen haßten ihren Marofke wie die Pest; die Beamten, denen er endlose Scherereien machte, fluchten hinter seinem Rücken über ihn. Bei dem geringsten Widerspruch lief Marofke krebsrot an, sein dicker Bauch wackelte, es zitterten seine hängenden Hamsterbacken, er schrie: »Ich mache Sie verantwortlich, Wachtmeister! Sie haben einen Eid geschworen, Ihre Pflicht zu tun!«
Studmann sagte geekelt: »Es gibt eben solche Meckerköppe! Am besten läßt man sie laufen! Denen würde sogar der liebe Gott nichts recht machen!«
Pagel sah Herrn von Studmann an und widersprach: »Nein! Diesmal irren Sie sich. Das ist ein ganz schlauer Fuchs. Und tüchtig!«
»Ich bitte Sie, Pagel!« hatte Studmann ärgerlich gesagt. »Haben Sie den Mann schon je regelrecht Dienst tun sehen wie seine Kollegen? Jawohl, in der Sonne sitzen und sich neue Meckereien ausdenken, das kann er! Leider habe ich dem Kerl nichts zu befehlen, er untersteht nur der Zuchthausverwaltung, aber Sie können sicher sein: wäre ich sein Vorgesetzter, ich brächte das fette Kind ein bißchen auf den Trab!«
»Sehr tüchtig«, hatte Pagel unbeirrt gesagt. »Und schlau. Und fleißig. Nun, Sie werden es noch einsehen.«
Jawohl, Wolfgang Pagel war der einzige, der an die Meriten dieses unausstehlichen Hanswurstes glaubte, und daher kam es wohl auch, daß die beiden sich gut vertrugen, ja, der meckrige Marofke hatte einen richtigen Affen an dem jungen Pagel gefressen.
Auch an diesem Morgen war Pagel, ehe er auf das Feld hinausfuhr, bei der Schnitterkaserne vom Rad gestiegen und hatte dem Oberwachtmeister einen kleinen Besuch abgestattet. Herr Marofke war für solche Höflichkeiten sehr empfänglich.
Er saß an seinem Tisch, hatte einen dunkelroten Kopf und starrte auf einen Brief, den ihm wohl eben der Postbote gebracht hatte. Pagel warf nur einen Blick auf den Kleinen, er sah, es saß Sturm in der Wolke, er fragte harmlos: »Na, was Neues im Westen, Ober?«
Der Kleine sprang so plötzlich auf die Füße, daß der Stuhl krachend umfiel. Klatschend schlug er auf den Brief, er rief: »Jawohl, Neues! Aber nichts Gutes! Abgelehnt, Fähnrich, mein Antrag auf Ablösung ist abgelehnt!«
»Wollten Sie denn weg von uns?« rief Pagel erstaunt. »Davon weiß ich ja gar nichts!«
»Ich weg? Unsinn! Ich werde mich doch nicht von so einem schwierigen Posten ablösen lassen! Ich ein Drückeberger? Nee, Fähnrich, nie gewesen – die Leute können über mich reden, soviel sie wollen! Nein«, sagte er ruhiger, »Ihnen kann ich es ja erzählen, Sie halten dicht. Ich hatte beantragt, fünf Leute abzulösen, weil sie mir nicht mehr sicher scheinen. Und die Bürofatzken lehnen es mir ab – mein Antrag sei nicht begründet! Die brauchen erst einen totgeschlagenen Beamten auf ihrem Büro – dann haben sie ihre Begründung, dann sind sie froh! – Affen!!«
»Aber es ist doch alles ganz ruhig und friedlich«, sagte Pagel beruhigend. »Mir ist nicht das geringste aufgefallen. Oder hat sich heute nacht was ereignet?«
»Bei Ihnen muß sich auch erst was ereignen«, knurrte der Oberwachtmeister mürrisch. »Wenn sich in einem Zuchthauskommando was ereignet, junger Mann, dann ist es auch schon zu spät. Aber Ihnen nehme ich es nicht übel, Sie haben keine Erfahrung, und Sie verstehen nichts von Zuchthäuslern … Nicht einmal meine Kollegen sehen etwas – sie haben ja erst heute früh wieder gesagt, bei mir piept es – lieber bei mir piepen, als eine Nachteule sein, die bei Tage nichts sieht!«
»Aber was in aller Welt ist denn los?« fragte Pagel, erstaunt über soviel Ingrimm. »Was haben Sie denn gefunden, Herr Oberwachtmeister –?«
»Nichts!« sagte der Oberwachtmeister dumpf. »Keinen Zettel, keinen Dietrich, kein Geld, keine Waffe – nichts, was auf Flucht oder Aufruhr hindeutet. Aber doch stinkt es! Ich rieche es seit Tagen, ich merke doch so was, es ist mulmig, irgend etwas geht vor …«
»Aber warum denn? Woran merken Sie das –?!«
»Ich bin über fünfundzwanzig Jahre im Zuchthaus«, gestand Herr Marofke und fand nichts dabei. Im Gegenteil! – »Ich kenne meine Leute. Mir sind in meiner ganzen Dienstzeit drei Mann ausgerissen. Bei zweien hatte ich keine Schuld, und beim dritten war ich erst ein halbes Jahr im Dienst, da weiß man noch nichts. Aber heute weiß ich was, und ich schwöre Ihnen: die fünf haben was vor, und ehe ich sie nicht aus meinem Kommando raus habe, ist mein Kommando nicht sauber!«
»Welche fünf denn?« fragte Pagel. Er hatte den Eindruck, der Oberwachtmeister bildete sich was ein.
»Ich habe beantragt, folgende Leute abzulösen«, sagte Marofke feierlich: »Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian …«
»Aber das sind doch grade unsere umgänglichsten, intelligentesten, anstelligsten Leute!« rief Pagel erstaunt. »Bis auf den alten Wendt – der ist ein bißchen doof.«
»Den haben sie nur mit drin als Sicherheitsventil. Den lassen sie hochgehen, wenn Gefahr am Mann ist. Der Wendt ist gewissermaßen deren Reugeld, aber die andern vier …« Er seufzte. »Ich habe alles versucht, sie auseinanderzubringen. Ich habe sie verlegt, keiner schläft mehr in einem Zimmer mit den andern, ich lasse sie nicht zusammen sitzen. Ich zieh den einen vor und behandele den andern schlecht. Das macht sie sonst wütend – aber nein, kaum drehe ich den Rücken, stecken sie wieder zusammen, tuscheln miteinander …«
»Vielleicht mögen sie sich einfach leiden?« schlug Pagel vor. »Haben Freundschaft geschlossen –?«
»Im Zuchthaus gibt es keine Freundschaften«, erklärte der Oberwachtmeister. »Im Zuchthaus ist immer einer des andern Feind. Wenn da zweie zusammenhalten, sind sie Verschwörer – für einen bestimmten Zweck. Nein, es stinkt, Fähnrich, wenn ich Ihnen das sage, ich, der Oberwachtmeister Marofke, so können Sie mir das glauben!«
Eine Weile waren sie stumm. »Ich fahre jetzt raus zu den Leuten«, sagte Pagel schließlich, um fortzukommen. »Ich werde meine Augen aufhalten, vielleicht sehe ich was.«
»Ach, was wollen Sie denn sehen!« sagte der Oberwachtmeister wegwerfend. »Das sind doch ausgekochte Jungen – die bringen noch einen alten Kriminalkommissar ins Schwitzen. Ehe Sie was sehen, liegen Sie schon da mit einem Loch im Schädel. Nein«, sagte er nachdenklich, »ich habe mir das überlegt. Wo die jetzt meinen Antrag abgelehnt haben, gehe ich aufs Ganze. Ich mache heute mittag einen Aufruhr, ich streue ihnen Salz ins Essen, richtig, wörtlich, ich versalze denen ihren Fraß so, daß sie ihn nicht runterkriegen. Und dann zwinge ich sie zu essen und reize sie und bedrohe sie, bis sie meutern, und dann habe ich einen Grund, dann greife ich mir meine fünfe heraus und schicke sie als Meuterer zurück. Das kostet sie dann noch ein, zwei Jahre Zusatzstrafe!«
Er kicherte höhnisch.
»Verdammt!« rief Pagel erschreckt. »Das kann aber schiefgehen: fünf Mann gegen fünfzig in der engen Bude!«
»Fahnenjunker!« sagte der Oberwachtmeister und kam dem jungen Pagel gar nicht mehr lächerlich vor, »wenn Sie bestimmt wissen, es will Sie jemand von hinten anspringen, was tun Sie? Sie drehen sich um und springen den Kerl an! Ich bin so, ich laß mich lieber von vorne als von hinten totschlagen.«
»Ich werde heute mittag mit meiner Knarre rüberkommen!« sagte Pagel eifrig.
»Das werden Sie hübsch bleibenlassen!« knurrte der Oberwachtmeister. »Bei so ’ner Sache kann ich keinen unerfahrenen Hasen brauchen, eine Minute, und der nächste Ganove hat Ihre Knarre, und dann: Leb wohl, mein Vaterland! – Nee, fahren Sie jetzt man los, ich muß über meine Tischordnung nachdenken, daß ich die lautesten Schreier direkt bei meinem Gummiknüppel zu sitzen habe …«