Über den Flur hin, ein jedes in die Tür seines Krankenzimmers getreten, sahen sich Frau von Prackwitz und Pagel an. Der junge Mann verstand nicht die weiße Angst auf dem Gesicht der Frau …
»Es hat geklingelt«, flüsterte sie …
»Es wird der Chauffeur sein«, antwortete er beruhigend. »Er hat irgendwo im Dorf zu Abend gegessen und will jetzt …«
»Nein! Nein!« rief sie angstvoll.
Wieder gellte die Klingel.
»Machen Sie nicht auf!« bat sie. »Bitte, Herr Pagel, es kommt Unheil …«
»Oder es wird Lotte sein«, versuchte er wieder. »Lotte ist auch noch fortgegangen. Wir können das Mädchen doch nicht aussperren. Der Herr Rittmeister ist grade ruhig, lassen Sie mich schnell aufmachen …«
»Bitte nicht, Herr Pagel«, bat sie wie ein Kind. Als könne man das Unglück aussperren, das aus einem falsch geführten Leben erwächst.
Aber er lief schon die Treppe hinunter, leicht und rasch lief er, sein Kopf dachte klar, sein Körper war für jede Gefahr bereit. Es war töricht, aber etwas wie Freude erfüllte ihn; er war nicht umsonst auf der Welt, er erfüllte eine Aufgabe, und war es nur die ganz kleine, der Frau dort oben zu beweisen, daß sie umsonst Angst hatte. Zum ersten Male begriff er innerlich, mit seinem ganzen Wesen, mit Leib und Seele, daß das Leben nur dem Freude bringt, der eine Aufgabe erfüllt, unbeirrbar, sei sie klein oder groß. Daß Lebenserfüllung nur aus dem eigenen Ich kommen kann, nicht aus der Umwelt, nicht aus einem Spielgewinn …
Die Klingel gellte zum dritten Male.
Die gnädige Frau oben rief etwas Unverständliches.
Im Vorbeilaufen sah er in der Flurgarderobe einen dicken Eichenknüppel stehen, den der Rittmeister sonst für seine Waldwege benutzt hatte. Er ergriff ihn, wirbelte ihn einmal durch die Luft, wobei er die Flurlampe in Gefahr brachte, und den Knüppel schlagbereit in der Faust, öffnete er die Tür, gerade als es zum viertenmal klingelte.
Vor der Tür stand, mit gerötetem, etwas ärgerlichem Gesicht, Herr von Studmann, einen ersichtlich recht schweren Kupeekoffer in der Hand.
»Sie, Herr von Studmann!« rief Pagel verblüfft und ließ seine lächerliche Waffe beschämt sinken.
»Jawohl, ich!« sagte Herr von Studmann, und zwar so gereizt, wie es ihm nur immer möglich war. »Und ich weiß wirklich nicht, was heute in Neulohe los ist! Ich denke«, sprach er ziemlich gekränkt, »ich werde mit Sehnsucht und Spannung erwartet, ich bringe eine immerhin nicht unbeträchtliche Summe Geldes –: und kein Wagen ist an der Bahn, das Beamtenhaus dunkel und verschlossen, das Schloß dunkel, aber voll Trara, als würden die größten Feste gefeiert, doch keiner macht auf … Und hier darf ich zehn Minuten im Regen stehen und klingeln …«
Herrn von Studmanns Stimme war immer vorwurfsvoller geworden, als ihm der Leidensweg, den er durch die Unzuverlässigkeit der andern hatte gehen müssen, beim Aufzählen so recht klar wurde …
»Hören Sie zu, Herr von Studmann«, flüsterte Pagel eilig, zog den Verdutzten auf die Diele und schloß sorgfältig hinter ihm ab, »hier oder vielmehr in Ostade scheint unterdes ein Unglück geschehen zu sein. Das Fräulein Violet ist schwerkrank aus Ostade zurückgekommen und der Rittmeister – nun, schwer angedunt. Näheres weiß ich auch nicht. Das schlimmste ist, daß die gnädige Frau auch ganz verwirrt ist, sie scheint noch weiteres Unglück zu fürchten, ich habe keine Ahnung, was … Und ich bin ganz allein mit ihnen. Ja, richtig, die Schnüffelkommission war auch hier, sie hat in der Forst ein Waffenlager ausgehoben, wußten Sie davon –?«
»Ich –?!« rief Herr von Studmann voll Empörung und setzte den Handkoffer schwer nieder. »Ich sollte …«
»Jawohl, gnädige Frau«, rief Pagel nach oben. »Es ist alles in bester Ordnung. Herr von Studmann ist hier. Darf er zu Ihnen kommen?«
»Herr von Studmann!« rief Frau Eva. »Jawohl. Gleich. Sofort! Gott sei Dank, Herr von Studmann, daß Sie wieder da sind, ich brauche so nötig Hilfe … Ich kann hier nicht weg …«
Pagel ging still in sein Zimmer zu dem Rittmeister. Der Chef schien zu schlafen, dieses Mal hatte er das Veronal – zwei Tabletten – bei sich behalten. Aber zu trauen war ihm nicht. Er lag mit geschlossenen Augen, ruhig atmend, aber auch ein Wachender kann mit geschlossenen Augen ruhig atmen. Pagel hatte das Gefühl, als stimmte etwas nicht. Er hatte auch das Gefühl, als sei der Rittmeister in der Zwischenzeit aus dem Bett gewesen. Er hatte keinen Anhalt dafür, aber so war sein Gefühl. Er fand auch, daß des Rittmeisters Gesicht einen verbissenen, bösartigen Ausdruck trug, und beschloß, auf seiner Hut zu sein. Oberwachtmeister Marofke sollte ihm nicht umsonst eine Lehre gegeben haben …
Mittlerweile hörte Pagel auf die Stimmen aus dem Zimmer von Violet. Wenn er auch kein Wort verstehen konnte, zu unterscheiden waren die Stimmen gut, denn hier wie dort standen die Türen zum Flur halb offen. Es war nicht zu verkennen, daß die Stimme Herrn von Studmanns ein wenig gekränkt klang, und zu verwundern war das nicht. Da war er gelaufen und hatte gehandelt, da war er tüchtig gewesen und hatte Glück gehabt, da brachte er Geld die Menge, so sehnsüchtig erwartetes, so notwendiges Geld – und kein Wagen war an der Bahn, kein Mensch zu seinem Empfang da, das Geld ist so belanglos, was er geleistet hat, so unwichtig! Wir sind ja indessen krank geworden, wir beschäftigen uns nun mit anderen Dingen, einem Unglück zum Beispiel, einem geschehenen und einem kommenden, wichtigeren Dingen …
Armer Herr von Studmann! Pagel sieht ihn so deutlich vor dem dunklen Beamtenhaus stehen, mit dem schweren Koffer, den er nicht einen Augenblick aus der Hand läßt. Dieses gute Kindermädchen, das die ewige Enttäuschung aller Kindermädchen erlebt: Es hat ein ersehntes Spielzeug besorgt, aber das Kind sieht es gar nicht an, es spielt längst mit etwas anderem!
In dieser stillen Nachtstunde, ein bißchen schläfrig, denn seit halb fünf Uhr morgens ist er auf den Beinen, begreift der junge Pagel, warum der freundliche, der tüchtige, der hilfsbereite Herr von Studmann allein geblieben ist, ein älterer, recht isolierter Junggeselle. Der Mensch liebt seine Retter nicht – ist er aus der Gefahr, nimmt er ihnen die Überlegenheit übel!
Die Stimmen drüben in dem Zimmer gehen hin und her. Pagel sieht auf seine Armbanduhr, es ist beinahe halb eins. Eigentlich ginge ich ganz gerne ins Bett, denkt er schläfrig. Bettreif bin ich, und der Rittmeister hat sich die letzte Viertelstunde nicht gerührt, der pennt auch. Aber ich kann die Frauen drüben nicht im Stich lassen, der Studmann wird auch nicht mehr lange bleiben, die Stimme der gnädigen Frau klingt immer gereizter … Ach, wenn ich doch wenigstens einen Kaffee hätte, einen schönen, dicken, schwarzen, steifen Kaffee –!
Und nun sieht er sich hinabgehen in die Küche der Villa … sie haben da einen Tauchsieder, er hat ihn heute nachmittag gesehen, es geht ganz schnell. Er würde sich eine tüchtige Portion Kaffee mahlen, so ein halbes Lot, rein in die Tasse, kochendes Wasser darüber, drei Minuten ziehen lassen, mit kaltem Wasser abspritzen, und nun trinken das Zeug, glühend heiß, mit Salz und allem: Ach! Ich würde frisch werden wie ein Fisch im Wasser!
Aber er kann ja nicht fort, diesen herrlichen, munter machenden Kaffee, den ihm manchmal der Peter aufgebrüht hat, ehe er zum Spielen ging, er kann ihn nicht trinken, weil er hier bei diesem dammligen Rittmeister sitzen muß, der bestimmt nicht schläft. Warum hat er nur so die Hände unter der Bettdecke? Verdöst, wie Wolfgang jetzt ist, hält er es sogar für möglich, daß der Rittmeister sich ein Messer geholt hat, als er vorhin aus dem Bette war. Aber war er wirklich aus dem Bette –?
Wolfgangs immer schläfriger werdender Kopf weigert sich energisch, dieser Frage irgendwelches Interesse zu schenken. Dafür taucht das Bild der Kaffeetasse wieder auf, er sieht sie förmlich vor sich, sie dampft, die bräunlich-stumpf-silbrige Oberfläche ist feingemahlener, im siedenden Wasser gequollener Kaffee … Ah, wie gut so etwas gegen die Müdigkeit ist –! Und mit einer tiefen Erleichterung fällt es Wolfgang Pagel plötzlich ein, daß er ja gar nicht hinunter muß, den Kaffee zu brühen, daß Lotte noch kommen muß. Auch der Chauffeur wird noch kommen, aber vor allem Lotte, die ihm den Kaffee brühen wird. Wo steckt das Mädel? Es ist gleich halb eins … Sie muß ihm noch den Kaffee brühen, es ist gleich …
Mit einem Ruck fährt Pagel aus seiner Döserei auf. Vielleicht war es ein Rascheln der Bettdecke, obwohl der Rittmeister jetzt still liegt – aber war es nicht so, als hätte der nackte Fuß aus dem Bett gelangt –?
Nein, er liegt ganz ruhig, auch die Stimmen drüben sind still geworden … Ja, richtig, was hat Studmann doch gesagt? Das Schloß dunkel, aber voll Trara, und keiner macht auf … Er hat vorhin darüberhin gehorcht, aber es ist in ihm sitzen geblieben, ein Widerhaken, der ihn jetzt plötzlich aus seiner Döserei geweckt hat. Die Lotte noch nicht da, und das Schloß dunkel, aber voller Trara …
Es wird nichts weiter sein, der alte Elias ist vertrauenswürdig, und die Mäuse feiern eben, wenn die Katze aus dem Hause ist. Trotzdem wird man den Studmann ein bißchen anstoßen müssen deswegen! Denn ein ungemütliches Gefühl bleibt; das Erlebnis mit dem Oberwachtmeister Marofke hat Pagel etwas wacher gemacht, er schlendert nicht mehr so durch Gelände und Menschheit, er fühlt sich verantwortlich. Verantwortlich für was? Verantwortlich für das, was er tut! Vor sich selbst! Nein, er wird nicht vergessen, Herrn von Studmann anzustoßen. –
Drei Minuten später ist es dann soweit. Es ist zehn Minuten nach halb eins, Herr von Studmann tritt in die Tür und sagt etwas kurz: »Würden Sie mich bitte aus dem Haus lassen, Pagel? Und mir den Schlüssel zum Beamtenhaus geben? Sie bleiben wohl noch hier?«
Pagel wirft einen Blick auf seinen Patienten und fragt dann flüsternd: »Haben Sie eigentlich den Eindruck, daß Herr Rittmeister schläft? Fest schläft?«
Herr von Studmann wirft einen kurzen, sehr ungnädigen Blick auf den Rittmeister und erklärt ärgerlich: »Natürlich schläft er. Wieso?«
Flüsternd sagt Pagel: »Mir kommt es vor, als ob er sich nur verstellt und nicht schläft.«
Der Blick, mit dem Herr von Studmann Pagel ansieht, ist voller Mißtrauen. »Hören Sie, Pagel, haben Sie sich etwa mit der gnädigen Frau verabredet? Ich verstehe das nicht!«
»Verabredet – wieso?«
»Weil mich nämlich Frau von Prackwitz mindestens zehnmal gefragt hat, ob ich glaube, das Fräulein schläft wirklich! Sie habe den Eindruck, das Mädchen sei längst wach und verstelle sich bloß … Genauso wie Sie jetzt …«
Die beiden sehen sich einen Augenblick fest an.
»Also gehen wir hinunter, Studmann«, lächelt Pagel plötzlich, mit all seiner liebenswürdigen Frische. »Sie sind übermüdet, und ich kann mir vorstellen, daß Sie schlechten Dank für Ihre große Mühe geerntet haben.«
Das Gesicht des andern bewegt sich nicht, aber darum schiebt Pagel seinen Arm doch unter den von Studmanns.
»Kommen Sie, Studmann, ich lasse Sie jetzt hinaus. Sie müssen wirklich ins Bett.«
Er geht mit dem andern langsam die Treppe hinunter.
»Ich versichere Ihnen, es ist reiner Zufall, daß die gnädige Frau und ich die gleiche Frage an Sie gestellt haben. Mein Ehrenwort, Studmann … Es ist eine komische Atmosphäre hier im Haus … Die Tochter ist ein bißchen krank, Töchter sind eben mal krank; und der Vater hat einen Schluck zuviel getan, nun, auch das sollen Väter manchmal tun. – Also nichts Außergewöhnliches, aber es ist eine Atmosphäre hier, als hätten alle dunklen Schicksalsgötter das Haus befallen …«
»Verstehen Sie das denn, Pagel?« ruft Studmann plötzlich lebhaft. Er steht auf der Diele, dem jungen Pagel gegenüber, er ist jetzt nicht mehr verärgert, nur noch hilflos. »Ich werde überschwenglich empfangen, aber um das, was ich geleistet habe, und es war wirklich schwierig, kümmert man sich gar nicht. Ich frage, was eigentlich los ist, ich erfahre die Situation, ich sehe nichts Beängstigendes. Ich sage ein paar beruhigende Worte und werde kühl zurückgewiesen. Ich sei verständnislos … Verstehen Sie denn das? Wissen Sie etwas –?«
»Ich verstehe nichts, und ich weiß nichts«, sagt Pagel lächelnd. »Da es die gnädige Frau zu beruhigen scheint, sitze ich neben dem Bett des Rittmeisters und versuche, nicht einzuschlafen. Das ist alles.«
Herr von Studmann sieht ihn ernst an, aber das Auge des jungen Pagel ist lächelnd und ohne Arg. »Also dann gute Nacht, Pagel«, sagt Herr von Studmann. »Vielleicht klärt sich alles morgen früh …«
»Gute Nacht, Studmann«, antwortet Pagel mechanisch. Er weiß, er wollte noch etwas sagen, er sieht dem in die Nacht Hineingehenden, der schwer an seinem Handkoffer trägt, gedankenvoll nach. Plötzlich hat er es. »Herr von Studmann, einen Augenblick noch, bitte!« ruft er.
»Ja?« fragt Herr von Studmann und dreht sich noch einmal um.
Die beiden Herren gehen einander entgegen, etwa zehn Schritte von der Haustür treffen sie sich.
»Was ist noch?« fragt Herr von Studmann etwas ärgerlich.
»Ja, was mir eben noch einfiel …«, antwortet Pagel gedankenverloren. »Sagen Sie, Herr von Studmann: Sind Sie sehr müde? Müssen Sie sofort ins Bett –?«
»Wenn ich Ihnen noch einen Gefallen tun kann –«, sagt Studmann, sofort wieder hilfsbereit.
»Ich muß immerzu daran denken, was Sie vorhin erzählt haben, als Sie ankamen. Sie erinnern sich doch: das Schloß dunkel, aber voller Trara, so sagten Sie doch, nicht wahr?«
Pagel macht eine kleine Pause, dann setzt er hinzu: »Sie wissen doch, daß Geheimrats verreist sind –?«
»Richtig!« ruft Herr von Studmann überrascht aus. »Daran hatte ich gar nicht gedacht.«
»Es wird ja nichts Besonderes sein«, meint Pagel beruhigend. »Irgendein kleines Fest der Dienstboten; der alte Elias wird schon dafür sorgen, daß es nicht zu schlimm wird … Aber ich würde mich doch einmal überzeugen, Studmann, natürlich nur, falls Sie nicht zu müde sind …«
»I wo, keine Spur!« erklärt Studmann fast begeistert, froh, daß er eine Aufgabe vor sich sieht. »Ich muß natürlich erst das Geld im Geldschrank verwahren …«
»Ich würde nicht unten klingeln«, schlägt Pagel nachdenklich vor. »Ich würde auch nicht rufen. Ich habe darüber nachgedacht, Studmann«, sagt Pagel und erkennt verwundert, daß er wirklich darüber nachgedacht hat, ohne es zu wissen. »Vor Ihrem Fenster ist doch das Teerpappendach, und von dem Teerpappendach können Sie ohne Schwierigkeiten auf die Veranda des Schlosses. Auf der können Sie beinahe ganz rund ums Schloß gehen, in der Höhe des ersten Stocks, und in alle Fenster schauen, ohne gesehen zu werden. – Ja, so würde ich es machen«, schließt Pagel mit einem gewissen Nachdruck.
Studmann starrt ihn verwundert an. »Aber warum in aller Welt?!« ruft er. »Was versprechen Sie sich davon? Was glauben Sie, das ich sehen werde …«
»Hören Sie, Studmann«, antwortet Pagel plötzlich sehr ernsthaft. »Ich kann Ihnen gar nichts sagen. Ich weiß nichts, und ich verstehe nichts, aber ich würde es so machen.«
»Aber …«, protestiert von Studmann. »Solch nächtliche Spioniererei …«
»Erinnern Sie sich noch der Nacht, als wir uns bei Lutter und Wegner trafen?« fragt Pagel lebhaft. »Damals hatte ich auch das Gefühl, es war eine besondere Nacht, eine Schicksalsnacht, wenn man so sagen darf. Warum soll es schließlich so etwas nicht geben – eine Nacht, in der sich alles entscheidet –? Heute habe ich dies Gefühl wieder. Eine schlimme Nacht, eine böse …«
Er sieht in die Nacht hinein, als könne er gewissermaßen ihr Gesicht entdecken in der Schwärze, ihr böses, lauerndes Gesicht. Aber davon kann natürlich keine Rede sein. Er empfindet nur eine leicht durchwehte, tropfende Dunkelheit.
»Na also, Herr von Studmann«, schließt Pagel plötzlich. »Machen Sie’s gut. Ich muß wieder zu meinem Rittmeister. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Pagel«, antwortet Herr von Studmann und starrt dem wieder ins Haus gehenden Pagel erstaunt nach, denn derartige mystische Anwandlungen liegen Herrn von Studmann wenig. Er hört, wie die Haustür zufällt und abgeschlossen wird. Dann erlischt das Außenlicht an der Villa, und er steht im Dunkeln. Mit einem kleinen Seufzer nimmt er seinen schweren Handkoffer hoch und macht sich auf den Weg zum Beamtenhaus. Er beschließt, erst einmal fleißig um das Schloß zu horchen und zu spähen, ehe er dem Pagelschen Ratschlag folgt. Dieses nächtliche Einsteigen in fremden Besitz scheint ihm doch recht bedenklich. –
Der junge Pagel steht auf der Diele der Villa und lauscht in das stille Haus.
Die seltsame Stimmung, die ihn seit seinem Halbschlaf am Krankenbett umfangen hält, will nicht abfallen von ihm. Ein Blick auf die Uhr zeigt, daß er kaum fünf Minuten mit Studmann zusammen war. Es ist gleich drei Viertel eins. Es kann nichts geschehen sein, er hat immer die Haustür im Auge behalten, er hat ihr ganz nahe gestanden: niemand kann sich eingeschlichen haben. Das Haus ist still.
Und doch sagt ihm sein Gefühl, daß etwas geschehen ist.
Langsam, lautlos – so langsam und lautlos, wie man sich manchmal im Traum bewegt – steigt er die Treppe hinauf. In der Tür von Violets Zimmer erscheint Frau Evas weißes, geängstigtes Gesicht. Er nickt ihr kurz zu, er sagt leise: »Alles in Ordnung.«
Er geht in des Rittmeisters Zimmer.
Er sieht auf den ersten Blick: das Bett ist leer. Das Bett ist leer!
Er steht ganz still, er sucht mit den Augen das Zimmer ab, es ist niemand darin, die Fenster sind verschlossen. Was würde Marofke tun? denkt er und steht noch immer still. Aber die Antwort auf diese Frage ist nur negativ: Marofke würde nichts Übereiltes tun.
Die Tür des Badezimmers kommt in sein Blickfeld. Er stößt sie auf, macht Licht: Auch das Badezimmer ist leer. Pagel geht wieder zurück, er tritt auf den Gang hinaus.
Die Tür von Violets Zimmer steht jetzt weit offen, Frau Eva geht dort ruhelos auf und ab. Sie bemerkt ihn sofort, sie geht auf ihn zu, ihr ganzes Wesen ist fieberhafte Unruhe.
»Was ist los, Herr Pagel? Es ist etwas geschehen, ich sehe es Ihnen doch an!«
»Ich will mir einen Kaffee kochen, gnädige Frau«, lügt Pagel, »ich bin todmüde.«
»Und mein Mann –?«
»Alles in Ordnung, gnädige Frau.«
»Ich bin so in Angst«, spricht sie fieberhaft. »Lieber Herr Pagel, nach dem, was der Arzt sagte, sollte sie jetzt aufgewacht sein, und sie ist aufgewacht, ich spüre es. Aber sie rührt sich nicht, bei allem, was ich ihr sage. Sie tut weiter so, als wenn sie schläft. Oh, Herr Pagel, was soll ich nur tun? Mir ist so angst! Ich bin noch nie so gewesen …«
Sie spricht fieberhaft erregt, ihr weißes Gesicht zuckt, sie hat seine Hand gefaßt und drückt sie, ohne es zu spüren. Sie bittet ihn: »Sehen Sie Violet einmal an, Herr Pagel! Reden Sie einmal ein Wort mit ihr. Vielleicht hört Weio auf Sie …«
Dem jungen Pagel ist es heiß und kalt, er muß doch den Rittmeister suchen. Was kann der Rittmeister unterdes alles anrichten! Aber er läßt sich an das Bett ziehen. Unsicher schaut er auf das schlafende, stille Gesicht, unsicher sagt er: »Sie scheint mir zu schlafen …«
»Sie irren sich! Sie irren sich bestimmt! Sagen Sie etwas zu ihr! – Violet, unsere Weio, Herr Pagel ist hier, er möchte dir guten Morgen sagen … Sehen Sie, jetzt hat sich ihr Lid bewegt!«
Pagel war es auch beinahe so; plötzlich kommt ihm der Gedanke, die verstellt Schlafende anzurufen: Der Leutnant ist da!
Es ist nur ein Gedanke, er wird sofort wieder verworfen, denn tut man so etwas? Tut man so etwas vor der Mutter? Warum soll man sie schließlich nicht in Ruhe lassen, wenn sie durchaus Ruhe haben will? Und er muß den Rittmeister suchen …
»Nein, sie schläft bestimmt, gnädige Frau«, wiederholt er beruhigend. »Und ich würde sie auch schlafen lassen. Jetzt will ich uns einen Kaffee kochen …«
Er lächelt Frau Eva von Prackwitz noch einmal ermutigend zu, er spielt noch ein etwas schmähliches Theater, indem er vor der nachschauenden Frau in das leere Schlafzimmer des Rittmeisters geht und kopfnickend: »Alles in Ordnung!« wieder herauskommt. Dann steigt er langsam und ohne Hast – von ihren Augen verfolgt – die Treppe in das Erdgeschoß hinab.
Sein Instinkt führt ihn sofort richtig. Von den sechs Türen, die auf die Diele gehen, wählt er die in das Herrenzimmer, denn er hat heute abend beim Reinmachen gesehen, daß in diesem Zimmer die beiden Dinge stehen, die nach des Rittmeisters Zustand in Frage zu kommen scheinen: der Gewehrschrank und der Likörschrank.
Bei dem Geräusch der sich öffnenden Tür fährt der Rittmeister mit der Gebärde eines erwischten Diebes herum. Er lehnt am Tisch, mit der einen Hand hält er sich an der Lehne eines großen, ledernen Ohrenstuhls, in der andern Hand hält er die so oft gewünschte Schnapsflasche.
Pagel zieht die Tür sachte hinter sich zu. Da es nur die Schnapsflasche, nicht der Revolver ist, glaubt er scherzhaft sein zu können. Heiter ruft er: »Hallo, Herr Rittmeister! Lassen Sie mir etwas drin. Ich bin hundemüde und kann eine kleine Auffrischung auch gebrauchen!«
Aber der heitere Ton ist verfehlt. Wie viele Betrunkene, denen das Schmähliche ihres Tuns wohl klar ist, hält der Rittmeister jetzt besonders auf seine Würde. Er fühlt nur die freche Vertraulichkeit im Ton seines jungen Mannes, er schreit zornig: »Was wollen Sie hier?! Was schleichen Sie mir nach?! Ich verbitte mir das! Scheren Sie sich auf der Stelle fort!« Er schreit dies sehr laut, aber sehr undeutlich. Die von Alkohol und Veronal fast gelähmte Zunge weigert sich, die Worte genau zu artikulieren: Er spricht mit dicker Zunge, wie durch ein Tuch. Das erhöht seinen Zorn nur, mit geröteten Augen und unruhig zuckendem Gesicht sieht er haßerfüllt seinen Peiniger an, diesen jungen Burschen, den er aus dem Sumpf der Großstadt aufgelesen hat, der ihn nun kommandieren will.
Pagel erkennt nicht die Gefährlichkeit seines Gegners, er merkt nicht, daß er es mit einem fast Wahnsinnigen zu tun hat, der zu allem fähig ist. Achtlos geht er auf den Rittmeister zu und sagt freundlich überredend: »Kommen Sie, Herr Rittmeister, Sie müssen wieder ins Bett. Sie wissen doch, Ihre Frau will nicht, daß Sie noch etwas trinken. Seien Sie nett, geben Sie mir die Flasche.«
Alles Dinge, die der Rittmeister durchaus nicht hören will, die ihn tödlich beleidigen.
Der Rittmeister streckt dem ehemaligen Fahnenjunker die Flasche hin, halb zögernd … Aber in dem Augenblick, da Pagel zufassen will, wird die Flasche erhoben und fällt mit einem Krach, in dem die ganze Welt zu zerfallen scheint, auf seinen Schädel nieder.
»Da hast du es, Bürschlein!« schreit der Rittmeister triumphierend. »Dich will ich parieren lehren!«
Pagel, die beiden Hände zum Kopf erhoben, ist zurückgewichen. Trotz des betäubenden, fast bewußtlos machenden Schmerzes begreift er erst in dieser Sekunde ganz die Größe des Unheils, das dieses Haus heimsuchte. Er begreift, was die gnädige Frau oben schon seit vielen Stunden weiß, daß es sich nicht um einen betrunkenen, sondern um einen irren Chef handelt. Und was das junge Mädchen anlangt …
»Nehmen Sie Haltung an, Fahnenjunker!« schreit der Rittmeister befehlend. »Stehen Sie nicht so nachlässig vor Ihrem Vorgesetzten!«
Trotz der wahnsinnigen Schmerzen, trotzdem er kaum den Kopf in den Nacken zurückbiegen kann, zwingt sich Pagel, stramm militärische Haltung anzunehmen. Um Gottes willen! Die Frau dort oben darf nicht gestört werden! Es kann sich nur um ein paar Minuten handeln, und Schnaps und Veronal werden ihr Werk an diesem Manne getan haben. Er wird ruhig geworden sein, Pagel kann es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Alle Glieder zittern ihm noch – und dann der Lärm …
»Stillgestanden!« schreit der Rittmeister.
Noch einmal flackert der Lebenswille in ihm auf. Noch einmal darf er kommandieren, er selbst sein. Das Wort ist in seinen Mund gelegt, das Wort der erbarmungslosen Macht, der gehorcht werden muß, ohne Wimpernzucken. Höher als Alkohol berauscht ihn ein letztes Mal die Macht.
»Stillgestanden, Fahnenjunker Pagel! Zwei Schritt – vorwärts! Kehrt! Stillgestanden! Stillgestanden, sage ich! Warum wackeln Sie, Mensch?«
»Was ist das?« sagt die Stimme der Frau von der Tür her. »Achim, kannst du denn keine Ruhe geben? Du quälst mich so …«
Der Rittmeister hat sich blitzschnell umgewendet. »Ich dich quälen?« schreit er. »Ihr quält mich! Laßt mich doch alleine, laßt mich verrecken, laßt mich saufen – zu was bin ich denn nütze?!«
Plötzlich, ganz unvermittelt, in mildem Tone: »Sie dürfen rühren, Fahnenjunker Pagel. Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu arg geschlagen, es lag nicht in meiner Absicht.«
Wieder wirrer: »Ich weiß nicht, was es ist, daß ich so etwas tue. Es ist in mir, es ist immer in mir gewesen, ich habe es untengehalten, aber nun will es heraus. Keiner kann es halten, es will heraus. Aber wenn es zu trinken bekommt, wird es ruhig, es schläft ein …«
Er murmelt immer leiser vor sich hin. Mit dem Fuß hat er die auf dem Boden liegende, ausgelaufene Flasche angestoßen. Er hat den Kopf geschüttelt, nun wendet er sich wieder zum Likörschrank.
»Fassen Sie an, Herr Pagel!« sagt Frau Eva von Prackwitz tonlos. »Können Sie ihn noch auf einer Seite anfassen, daß wir ihn die Treppe hochkriegen? Ich sehe Ihren Kopf oben gleich nach. Ich muß zurück. – Ach, lassen Sie ihn, lassen Sie ihn doch ruhig seinen Schnaps mitnehmen, es ist jetzt ja doch alles egal. Es ist ja doch alles vorbei – oh, Pagel, wenn die Violet nicht wäre, wozu sollte ich dann noch leben –?! Ich tät’s ja am liebsten auch wie die beiden, mich ins Bett legen und schlafen und von nichts mehr etwas wissen. – Ach, sagen Sie doch, Herr Pagel, was hat das denn für einen Sinn, wozu hat man geheiratet und einen Mann gerne gehabt und ein Kind gekriegt – und nun wird einem alles zerschlagen, Dreck zu Dreck, Mann und Kind, Dreck zu Dreck … Sagen Sie doch, Herr Pagel –?«
Aber Pagel antwortet nicht.
Die kleine, jammervolle Prozession tastet, stolpert jetzt die Treppe in den ersten Stock hinauf. Der Rittmeister ist kaum noch bei Bewußtsein, aber seine Flasche Wodka hält er fest. Die Frau ist so fieberhaft erregt, daß sie immer wieder stehenbleibt, daß sie den Transport des Rittmeisters völlig vergißt und nur auf Pagel einredet, eine Antwort von ihm haben will …
Und der noch halb betäubte Pagel hört dieses Gerede, aber er hört auch etwas anderes, und in seinem gequälten Hirn taucht langsam der Gedanke auf, daß er etwas Schreckliches hört, etwas Grauenhaftes …
Nein, das Haus ist nicht mehr ganz still. Zwischen den Redefetzen der gnädigen Frau hört er aus dem ersten Stock ein Geräusch, das er in dieser Nacht noch nicht gehört hat, ein grausiges, schreckliches Geräusch, trocken, hölzern, seelenlos:
Klapp – klapp!
Und wieder:
Klapp – klapp – klapp …
Und mitten in das Gerede der gnädigen Frau hinein hebt Pagel den Finger (er läßt den Rittmeister einfach auf den Treppenabsatz niedergleiten), sieht sie starr an und flüstert: »Da!«
Und sofort verstummt Frau Eva, und sie hebt den Kopf und sieht Pagel an, und sie lauscht dabei nach oben, und es ist ganz still …
Klapp – klapp …
Und das Kinn der gnädigen Frau fängt an zu zittern, ihr weißes Gesicht wird ganz gelb, wie von einer plötzlichen Krankheit verwüstet, ihre Augen füllen sich langsam mit Tränen –
Und da kommt es wieder: Klapp …
In demselben Augenblick ist der Bann gebrochen, und gleichzeitig stürmen sie die Treppe hinauf. Sie laufen über den kurzen Gang, sie treten in Violets Zimmer …
Ruhig liegt das Zimmer im Licht der Deckenlampe, weiß schimmert das Bett. Aber das Bett ist leer. Die unbefestigten Fenster klappern im Nachtwinde, langsam, seelenlos, hölzern: Klapp, klapp …
Und nun kommt das, was Pagel die ganze Zeit fürchtete, vor dem er gebebt hat und das er doch erwartet hat … Es kommt der Schrei der Frau, der schreckliche, nicht enden wollende Schrei der Frau, der in hundert, in tausend kleine Schreie zerbricht, wie ein höllisches Gelächter, nicht wieder aufhörend: die Kreatur, zerbrechend von ihrer Qual.
Immer von neuem sagt sich Pagel, während er Frau Eva auf das Sofa legt, während er ihre Hände streichelt, auf sie einredet, um ihr Ohr wieder den Klang einer befreundeten, menschlichen Stimme hören zu lassen – immer von neuem sagt er sich, daß dies kein bewußter Schrei ist, daß die Frau fast völlig betäubt von dem irrsinnigen Schmerz ist, den sie fühlt … Aber dann ist ihm doch wieder, als schrien in dieser einen Stimme alle Mütter, die ihre Kinder verlieren müssen – alle Mütter alle Kinder, langsam oder schnell. Denn wir verweilen hier nicht.
Zwischendurch geht er zum Fenster und schließt es, um das unerträgliche, hölzern klappernde Geräusch abzustellen. Er wirft dabei eilig einen Blick auf das Wandspalier, er meint, eine zertretene Ranke zu sehen – und er schließt das Fenster. Er weiß ja doch genug: der Schluß Waffenlager – Leutnant – Violet ist für ihn so leicht! Vor einer halben Stunde war er in der Versuchung, der verstellt schlafenden Violet zuzurufen: Der Leutnant kommt! Er hat es nicht getan, aber nun ist der Leutnant wirklich gekommen, meint er; er versteht alles, denkt er. Aber was soll er davon der sinnlosen Frau sagen …?
Und er redet ihr zu, er sagt immer wieder, daß das Mädchen im Fieber in den Wald gelaufen sei, daß die gnädige Frau doch nur einen Augenblick mit ihm hinunter ans Telefon kommen möge, damit er Herrn von Studmann benachrichtigen kann. Dann werden sie Fräulein Violet suchen und finden …
Aber Frau Eva von Prackwitz erreicht kein gütiges, kein überredendes Wort. Sie liegt da und stöhnt und weint. Er darf nicht weg von ihr, und er ist allein im Haus, der Rittmeister aber verschläft den Verlust der Tochter auf dem Treppenabsatz …
Bis das Telefon unten im Hause schrillt und lärmt. Was die menschliche Stimme nicht vermocht hat, vermag diese Klingel: Frau von Prackwitz fährt hoch aus ihrer Betäubung und ruft: »Laufen Sie ans Telefon! Sie haben meine Weio gefunden!«
Sie läuft mit ihm, sie steht hinter ihm, sie nimmt den zweiten Hörer. Sie stehen sich so nahe, die Augen brennen, sie sind wie Gespenster, die nicht leben noch sterben … sie lauschen …
Aber es kommt nur die Stimme Herrn von Studmanns, der aufgeregt berichtet, im Schloß feierten die Mädchen eine Orgie mit den entflohenen Zuchthäuslern: »Und alle sind toll und voll besoffen, und, Pagel, es ist eine großartige Gelegenheit …«
Mit einem Ruck hängt die gnädige Frau ihren Hörer wieder an; Pagel sieht sie langsam, wie ohne Bewußtsein, die Treppe wieder hinaufsteigen. – Und leise sagt er mit eiligen Worten dem Herrn von Studmann, daß Fräulein Violet aus dem Hause verschwunden sei. Man brauche sofort Polizei auf Motorrädern und Suchhunde, und auch zwei, drei zuverlässige Frauen hier in der Villa … Die Tür sei offen …
Und er hängt an und schließt die Tür weit auf, er läßt sie einfach offen stehen, hinaus in die Nacht des Unglücks: Mehr Unglück kann dies Haus nicht befallen. Er eilt die Treppe hinauf, er steigt achtlos über den schlafenden Rittmeister fort, und er findet Frau Eva von Prackwitz, kniend vor dem Bett der entflohenen Tochter. Sie hat die Hände unter die Decke geschoben, sie spürt vielleicht das letzte, was ihr von ihrem Kind verblieben ist, das bißchen Lebenswärme, das vom Bett festgehalten ist …
Wolfgang Pagel sitzt still neben der stillen Frau, er stützt den Kopf in die Hand. Und hier, angesichts des größten Schmerzes, den er je gesehen, verfällt er in Gedanken an eine andere, eine Ferne, eine so Geliebte … Vielleicht denkt er daran, was Menschen den Menschen in Liebe, Gleichgültigkeit und Haß antun können … Er faßt wohl kaum einen Entschluß, mit den ausgedachten Entschlüssen ist es nicht so weit her – aber er läßt etwas wachsen in sich, was sachte schon immer in ihm war. Er gibt ihm allen Raum, einer sehr einfachen Sache: so gut und so anständig zu sein, wie nur immer möglich. (Denn wir sind alle nur aus Fleisch gemacht …)
Dann hört er die Stimmen und Schritte der Leute unten. Und nun wird sofort alles undeutlich, wie immer, wenn man unter die Leute gerät. Er steht auf und läßt den Rittmeister ins Bett bringen. Er ruft den Arzt an, und die gnädige Frau wird auch schlafen gelegt, und er hat überhaupt sehr viel zu tun.
Aber das macht die wesentlichen Dinge nur unklarer. So gut und so anständig, wie nur immer möglich. Darin liegt es. Das hält für ein Leben vor.