Über die Giebelstube und die Bodentreppe war der Leutnant bis auf den dunklen Flur des Inspektorenhauses gelangt. Ein Aufleuchten seiner Taschenlampe zeigte ihm, daß der Schlüssel gottlob innen in der Haustür steckte – er schloß auf, und Weio huschte zu ihm herein.
Zwar war die Bürotür verschlossen, aber hier wußte Violet Bescheid: der Doppelschlüssel lag in dem blechernen Briefkästchen an der Bürotür, das sich leicht aufdrücken ließ – eine für Meier bequeme Regelung, so brauchte er morgens nicht aufzustehen, wenn sich der Hofmeister die Stallschlüssel aus dem Büro holte.
Die beiden traten in das Büro. Hier roch es betäubend – der Leutnant leuchtete die Flaschenreste an und sagte: »Chloroform oder Alkohol – er wird sich doch nichts angetan haben, der Kerl? Tritt nicht in die Scherben, Violet!«
Nein, er hatte sich nichts angetan. Schon das Gehör meldete es: Negermeier schnarchte und röchelte, daß es einen grausen konnte. Violet legte ihre Hand um den Arm des Freundes und fühlte sich nun in diesem wüsten, stinkenden, schwülen Zimmer geborgen.
Mehr noch: sie fand diesen ganzen nächtlichen Ausflug, diesen Aufstand um einen Brief von ihr »fabelhaft interessant« und den Fritz »unerhört schneidig«! Sie war fünfzehn, ihr Lebensappetit war groß und Neulohe unerhört langweilig. Der Leutnant, von dessen Existenz ihre Eltern nichts wußten, den sie selbst nur beim Vornamen kannte, den sie auf ihren Gängen durch die Forst getroffen und der ihr auf den ersten Blick gefallen hatte, dieser eilige, oft völlig geistesabwesende, meist kühle und schnoddrige Mann, aus dessen Kühlheit es ab und an, immer überraschend, wie verzehrendes Feuer brach – dieser Leutnant schien ihr der Inbegriff aller Männlichkeit, wortlosen Heldentums …
Er war völlig anders als alle Männer, die sie je kennengelernt hatte. Wenn er auch Offizier war, so ähnelte er doch in keiner Weise den Offizieren der Reichswehr, die sie auf den Bällen in Ostade und Frankfurt zum Tanz aufgefordert hatten. Immer hatten sie sie mit äußerster Höflichkeit behandelt, stets war sie das »gnädige Fräulein« gewesen, mit dem ernst und unverbindlich von Jagd, Pferden und allenfalls noch von der Ernte geplaudert wurde.
Beim Leutnant Fritz hatte sie nichts von Höflichkeit zu spüren bekommen. Er war durch den Wald mit ihr gebummelt, darauflosschwatzend, als sei sie irgendein Mädel; er hatte ihren Arm genommen und sie untergefaßt, und hatte ihn wieder losgelassen, als sei dies keine Gunst gewesen. Er hatte ihr sein verbeultes Zigarettenetui mit einem gleichgültigen »bitte« hingereicht, als verstehe sich das streng verbotene Rauchen von selbst, und dann hatte er sie beim Anbrennen der Zigarette beim Kopf genommen und abgeküßt – ganz so, als gehöre das dazu … »Stell dich bloß nicht an!« hatte er gelacht. »Mädels, die sich anstellen, finde ich einfach widerlich!«
Sie wollte nicht, daß er sie »einfach widerlich« fand.
Man kann einen jungen Menschen vor Gefahren warnen und vielleicht sogar vor ihnen beschützen – aber wie ist es mit den Gefahren, die wie der liebe Alltag, wie die selbstverständlichste Sache von der Welt, die gar nicht wie Gefahren aussehen –?! Violet hatte beim Leutnant Fritz nie so recht das Gefühl, etwas wirklich Verbotenes zu tun, ernstlich in Gefahr zu sein. Damals, als es geschah und doch etwas wie ein instinktives Wehren, ein panischer Schrecken sie überkommen wollten, hatte er so ehrlich empört gesagt: »Ich bitte dich, Violet, mach bloß keine Geschichten! Ich kann diese alberne, gänsische Anstellerei auf den Tod nicht ausstehen! Glaubst du, irgendeinem Mädchen geht es anders?! Dazu bist du doch da auf der Welt! Also bitte –!«
Dazu bin ich da?! – hätte sie fragen mögen, aber dann wußte sie, sie war bloß dumm. Sie hätte sich geschämt, nicht zu tun, was er wollte. Grade, weil er so wenig Wert auf sie legte, weil seine Besuche so unregelmäßig und kurz waren, grade, weil all seine Versprechungen so unzuverlässig waren (»Ich wollte Freitag hier sein? Sei bloß nicht albern, Violet, ich habe doch wahrhaftig noch an anderes zu denken als an dich!«), grade, weil er nie höflich zu ihr war, grade darum war sie ihm fast ohne Widerstand verfallen.
Er war so anders. Geheimnis und Abenteuer umwitterten ihn. All seine Fehler wurden ihr zu Vorzügen, weil die andern sie nicht besaßen. Seine Kälte, seine plötzliche Gier, die ebenso rasch erlosch, seine unverbindlichen Formen, die nur auf der Haut saßen, sein völliger Mangel an Achtung vor irgend etwas auf der Welt – für sie war das alles Sachlichkeit, wahnsinnige Liebe, Männlichkeit!
Was er tat, war richtig. Dieser windige Bursche, der mit einem unverbindlichen Auftrag, das Landvolk für alle Fälle zu mobilisieren, im Lande herumfuhr, dieser kalte Abenteurer, dem es nicht um das Ziel des Kampfes ging, sondern nur um den Kampf, dieser Landsknecht, der für gleichviel welche Partei gekämpft hätte, wenn es nur Unruhe gab – denn er liebte die Unruhe und haßte die Ruhe, in der er sofort leer dasaß, ausgehöhlt, nicht mehr wußte, was mit sich anfangen –, dieser schneidige Hans in allen Gassen, er war der Held!
Und er hätte eine Welt in Brand stecken können – er blieb der Held für sie!
Wie er jetzt, die Taschenlampe in der Hand, ihre leicht bebenden Finger um den Oberarm, das zerwühlte Bett anleuchtet mit dem nackten Mann darauf, wie er gleichgültig zu ihr sagt: »Sieh besser weg, Violet!« und eine Decke über den Nackten zieht; wie er knurrt: »Schwein!« und sie dann auf einen Stuhl neben dem Bett hinsitzen heißt: »Paß auf, ob er wach wird! Ich seh schnell mal seine Sachen durch!« – diese Kameraderei, die Lumperei ist, die Rücksichtslosigkeit, Mangel an Achtung, Roheit kaum verbirgt – alles findet sie herrlich!
Sie sitzt auf ihrem Stuhl, es ist fast völlig dunkel, der Mond dringt kaum durch die graugelben Gardinen. Der im Bett röchelt, schnarcht, stöhnt, sie kann ihn nicht sehen, aber nun wirft er sich hin und her, als spüre er im Schlaf die Feinde. Der hinter ihr arbeitet zwischen den Sachen, er flucht halblaut; es ist schwer, mit einer Taschenlampe in der Hand in einem unbekannten Zimmer etwas zu finden. Er raschelt, stößt an Stühle, plötzlich tanzt der Lichtschein gegen das Fenster und erlischt. Nun geht das Rascheln wieder los …
Jawohl, sie muß abends rechtzeitig im Bett liegen, gelegentlich darf sie auch mal auf einen Ball bis elf, spätestens zwölf Uhr mit oder mit Sondererlaubnis, von Förster und Diener begleitet, auf den Anstand gehen. Nachmittags spricht einen Tag um den andern die Mama französisch und englisch mit ihr –: »Damit du auf dem laufenden bleibst, Weio! Du wirst später eine Rolle in der Gesellschaft spielen müssen – anders als deine Mama, die nur eine Pächtersfrau ist!« – Oh, wie verblasen, wie verlogen, wie flach kommt ihr die Welt zu Hause vor! Hier sitzt sie in dem stinkenden Inspektorenzimmer, das Leben schmeckt nach Blut und Brot und Dreck. Es ist keineswegs, wie Eltern, Lehrerinnen, Pastoren behaupteten, eine sachte, freundliche, höfliche Angelegenheit, dunkel ist es … ein wundervolles Dunkel …
Und aus dem Dunkel kommt ein Mund mit schimmernd weißen Zähnen, die Eckzähne sind spitz; die Lippen sind schmal, trocken, so frech – o Mund, Männermund zum Küssen, Raubtierzähne zum Beißen! Aus dem Dunkel, mir entgegen –!
Die Eltern, die Großeltern, Alt- wie Neulohe, Ostade mit der Garnison, der Herbstmarkt in Frankfurt an der Oder, das Café Kranzler in Berlin – enge Welt, hörige Welt, die ewig stillesteht. Man sitzt an einem Marmortischchen, der Ober verbeugt sich, Papa und Mama diskutieren, ob die höhere Tochter noch einen Windbeutel mit Schlagsahne verträgt, der freche Kerl am Nebentisch fixiert sie, und die höhere Tochter schaut weg – geordnete Welt, die es schon längst nicht mehr gibt, stehengebliebene Ruine!
Denn ein anderes Leben ist hereingebrochen, in dem all das nicht mehr gilt, es jagt, glostet, blitzt – oh, unendliches Feuer, geheimnisvolle Abenteuer, herrliches Dunkel, in dem man nackt sein darf ohne Scham! Arme Mama, die dies nie kennengelernt hat! Armer Papa – so alt mit deinen weißen Schläfen! Ich lebe, ich taumele, ich tanze – Wege über Wege – und welche Leichtigkeit, sie entlangzuwirbeln, immer neue Wege, stets andere Abenteuer! Dummer, häßlicher Negermeier, zu nichts gut, als eine Viertelstunde ein bißchen Prickeln zu verschaffen und lange, schwer gestraft zu werden!
»Ist das der Wisch?« fragt der Leutnant und leuchtet einen feuchten, verschmierten Lappen an. »Der Kerl hat ihn in Schnaps ersäuft!«
»Oh, bitte, gib ihn mir!« ruft sie, die sich plötzlich ihrer verstiegenen Schreiberei schämt.
Aber er: »Danke, nein, Kindchen! Daß du ihn noch mal auf Reisen schickst, und ich kann hinterherlaufen!« – Er hat ihn schon in der Tasche. – »Und das sage ich dir, Violet, du schreibst mir nicht noch einmal! Nie! Kein Wort!«
»Ich hatte doch solche Sehnsucht nach dir!« ruft sie und wirft die Arme um seinen Hals.
»Ja, natürlich. Versteh ich, verstehe alles. – Sag mal, du führst doch kein Tagebuch?«
»Ich –? Wieso –? Ein Tagebuch –? Nein, natürlich nicht!«
»Na –! Ich glaube, du kohlst! Ich werde einmal dein Zimmer revidieren müssen!«
»O ja! Bitte!! Bitte!! Bitte, Fritz, komm einmal in mein Zimmer, es wäre herrlich von dir, wenn du einmal in meinem Zimmer gewesen wärst!«
»Schön! Schön! Das läßt sich schon mal einrichten. Aber jetzt muß ich schnell machen, in die Versammlung, die werden schon schimpfen!«
»Heute – kommst du heute noch zu mir? Nach der Versammlung? Oh, bitte, Fritz, tu es!«
»Heute? Ist doch ausgeschlossen! Ich muß doch nach der Versammlung noch einmal hierher – mit dem Kerl quatschen, hören, ob er nicht noch andern von dem Brief erzählt hat …«
Er denkt nach.
»Ja, Fritz, gib ihm ordentlich was aufs Dach! Er muß Angst haben, sonst redet er alles weiter. Er ist zu ekelhaft und gemein …«
»Und du selbst hast ihn mir als Boten empfohlen!« Aber der Leutnant fängt sich, bricht ab. Es hat keinen Zweck, den Frauen einen gemachten Fehler vorzuhalten, mit ihnen einen Streit anzufangen. Das wird immer gleich uferlos. Dem Leutnant ist ein anderer, viel schrecklicherer Gedanke gekommen. Der da kann nicht nur über den Brief quatschen; er weiß ja noch anderes, vielleicht hat Kniebusch nicht dichtgehalten …
»Nein, ich muß nachher unbedingt mit ihm sprechen!« sagt er noch einmal.
Es ist, als hätte sie ihn erraten. »Und was tust du dann mit ihm, Fritz?! Wenn er euch verrät –?«
Der Leutnant steht ganz still. Selbst diese kleine dumme Gans ist auf den Gedanken gekommen, hat die Gefahr gefühlt, von der die »Sache« immer bedroht ist, die alle fürchten: Verrat. Es wird ja schon kaum etwas gesagt, außer dem engsten Kreis weiß kaum einer genau, um was es geht, was man vorhat. Man macht eine Andeutung, allgemeine Redensarten. Unzufriedenheit, Haß, Verzweiflung gibt es genug auf dem Lande. Die Banknotenpresse in Berlin schleudert mit jeder neuen Woge Papiergeld eine neue Woge Erbitterung ins Land – da genügen ein paar Worte, das verhaltene Geklirr von Waffen … fast nichts!
Aber einer braucht gar nicht so helle zu sein, einer braucht gar nicht viel zu wissen, es genügt schon, wenn er dem Landrat erzählt: da fährt jemand im Land herum und putscht bei den Leuten. Er hat heute sogar gehört, daß die Waffen gezählt werden sollen im Dorfe …
Der Leutnant läßt den Schein seiner Lampe auf das Gesicht des Schläfers fallen – es ist kein gutes Gesicht, keines, dem man trauen kann. Er hatte schon den richtigen Instinkt, als er diesen Burschen nicht dabeihaben wollte … Aber da war diese Violet. Sie hatte ihn vorgeschlagen, er wäre ein so bequemer, unauffälliger Bote zwischen ihnen gewesen. Er allein hatte immer Zutritt zum Hause des Rittmeisters und war immer auf den Feldern, im Walde zu treffen … Und beim ersten Botenweg ging die Sache schief! Ewig diese Weibergeschichten – immer mußte dieses langhaarige Gesindel dazwischenkommen! Nichts hatten sie im Kopf als ihre sogenannte Liebe!
Der Leutnant dreht sich kurz um und sagt böse: »Du gehst jetzt auf der Stelle ins Bett, Violet!«
Sie ist ganz erschrocken über seinen Ton. »Aber Fritz, ich wollte doch hier auf dich warten! Und dann muß ich doch auch noch mit dem Förster sprechen, wegen des Bocks …«
»Hier –? Mach dich bloß nicht lächerlich! Wie denkst du dir das, wenn der Kerl aufwacht oder jemand kommt hier rein …«
»Aber, Fritz, was willst du denn machen?! Wenn er nun aufwacht und er merkt, sein Brief ist weg, meinen Brief meine ich, und er hat eine Wut auf uns und läuft los und erzählt alles dem Großpapa oder Mama …«
»Also, bitte, höre schon auf, Violet! Bitte! Das werde ich alles regeln. Ich knöpfe ihn mir nach der Versammlung vor – und gründlich, das kann ich dir sagen –!«
»Aber wenn er vorher wegläuft –?!«
»Er läuft nicht weg! Er ist doch besoffen!!«
»Wenn er aber vorher wegläuft –?!«
»Himmelherrgott, halte jetzt den Mund, Violet!« schreit der Leutnant fast. Und, da er selbst einen Schreck bekommen hat, flüsternd: »Also, bitte, sei jetzt vernünftig. Hier kannst du unmöglich warten. Paß meinethalben vor dem Haus auf – ich bin in einer guten Stunde wieder hier.«
Sie gehen zusammen. Sie tasten sich durch den dunklen Raum, über den dunklen Flur. Nun sind sie wieder draußen.
Es ist Nacht, Vollmondnacht, friedlich, die Luft ist sehr warm.
»Verdammter Mond! Jeder kann uns sehen! Geh dort in die Büsche. Also in einer Stunde …«
»Fritz!« Ihm nachrufend: »Fritz!«
»Was denn? Willst du wohl ruhig sein?!«
»Fritz –! Gar keinen Kuß –?? Nicht einen Kuß?!«
O verdammt! O verflucht! Und laut: »Nachher, mein Kind, nachher holen wir alles nach.«
Der Kies knirscht. Der Leutnant ist fort. Violet von Prackwitz steht in den Büschen, wo auch Amanda Backs stand. Wie diese hat sie die Augen auf die Fenster des Inspektorenhauses gerichtet.
Ein bißchen ist sie enttäuscht – aber doch auch wieder sehr stolz auf dieses Postenstehen.